606. Bremer Montagsdemo
am 27. 02. 2017  I◄◄  ►►I

 

Wenn der Aschermittwoch schon am Rosenmontag kommt

Elisabeth GrafNachdem SPD-Kanzlerkandidat Mar­tin Schulz vor einer Woche ankündigte, er wolle mit einer „Änderung der umstrittenen Agenda 2010“ in den Wahlkampf ziehen, bekam die SPD plötzlich wieder Oberwasser. So stimmten viele frühere SPD-An­hän­ger Sätzen zu wie dass Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte hart arbeiteten und ihre Beiträge zahlten, ein Recht auf entsprechenden Schutz und Unterstützung haben müssten, wenn sie, oft unverschuldet, in große Probleme gerieten. Schulz will die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld I verlängern. Es gehe um nicht weniger als den „Respekt vor der Lebensleistung der Menschen in unserem Lande“. Überhaupt rückte die SPD die Gerechtigkeitsfrage wieder ins Zentrum der Debatte. Hiermit goss die SPD Wasser auf die Mühlen vieler von den Spezialdemokraten Enttäuschter. So beschert der „Schulz-Effekt“ der SPD nicht nur ein Hoch in den Umfragen, sondern nach Jahren des Niedergangs auch einen kleinen Mitgliederboom.

Spaßvögel behaupten, die Führungsspitze der SPD habe bei einem Treffen im Willy-Brandt-Haus in Berlin den Beginn des „traditionellen linken Halbjahres vor den nächsten Bundestagswahlen“ feierlich eingeläutet. Dort sei „mit der Glocke des kleinen Mannes geklingelt“ worden, und der Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann habe erklärt, jetzt sei die Zeit gekommen, in der sie sich für einige Monate auf ihre „sozialdemokratischen Wurzeln“ zurückbesinnen wollten. Daher sei es zur Schärfung des „linken Profils der Partei“ ausdrücklich erlaubt, höhere Löhne, eine „Abkehr von der Agenda 2010“, höhere Renten und „Steuern runter, aber rauf für Reiche“ zu fordern. Doch am Montag nach der Wahl werde er die Glocke erneut läuten, und ab diesem Zeitpunkt müsse das alles wieder vergessen sein.

Nun ist heute zwar noch gar nicht der Montag nach der nächsten Bundestagswahl im September, doch nach der harschen Kritik von Kanzlerin Angela Merkel war bereits heute Morgen im Radio zu hören, dass die SPD „nicht an Grundpfeilern der Reform aus dem Jahr 2003 rütteln“ wolle. SPD-Generalsekretärin Barley erklärte ausdrücklich, es gehe nicht „um eine Abkehr, sondern um eine Korrektur“. Damit widersprach sie Kritik aus der Union, die SPD wolle die Agenda 2010 „weitgehend rückgängig“ machen. Nein, im Klartext soll das menschenverachtende, Menschen die soziale bis physische Existenz raubende Hartz IV eigentlich nur weiter zementiert werden, und alles bleibt so grausam und ungerecht, wie es ist! Ein paar kleine kosmetische Korrekturen dürfen erlaubt sein, mehr aber nicht. Wozu bloß dieser Eiertanz, dieses Aufschäumen brodelnder Scheindebatten?

Ich staune immer wieder darüber, wie leicht so viele Menschen zu täuschen und zu beirren sind. Manchmal reichen Überschriften wie dass die Kanzlerin den „unbegrenzten Zuzug von Flüchtlingen nicht stoppen“ wolle, um Tausende Leichtgläubige in die kalten, neoliberalen, äußerst rechten Arme der AfD zu treiben, wo sie irrtümlicherweise in ihrem Protest eine Heimat zu finden glauben. Sind es jetzt die (früheren?) Sozialdemokraten, die auf ein paar Worthülsen ohne Inhalt von Kanzlerkandidat Schulz hereinfallen und an die „Wiedergeburt der Sozialdemokratie“ glauben? Da scheinen viele nur ein knalliges Schlagwort aufzuschnappen, um im Zuge ihrer Privatlogik das politisch Gewünschte, Erhoffte zu hören oder zu lesen, und überprüfen dann gar nicht, ob es sich tatsächlich so verhält. Ob viele Politiker aus diesem Grund ausgerechnet der „Gazette mit den vier Großbuchstaben“ Interviews geben?

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend)

 

Wir brauchen keine
kosmetische Korrektur

Die SPD führt vor der CDU, weil Schulz angeblich Änderungen an der Agenda 2010 vornehmen will, aber Vorsicht: Der Mann hat sie mit beschlossen und zu verantworten! Seit 1999 ist er im SPD-Vorstand. Wir brauchen keine kosmetische Korrektur, die Hartz-Gesetze müssen weg! In Deutschland und Frankreich finden dieses Jahr Wahlen statt, und die Angst geht um vor dem Verlust solider Regierungsmehrheiten.

Ungeachtet dessen wurden gleichzeitig Massenentlassungen angekündigt beziehungsweise stehen im Raum: Bei der Lloyd-Werft mehr als 100, bei Blohm & Voss nach Übernahme durch Lürssen 300. Peugeot-Citroën hat bereits mehrere Werke geschlossen und will nun Opel schlucken. Durch die Verwendung gemeinsamer Plattformen sind dann weitere Zehntausende Arbeitsplätze bedroht! Die „Jobgarantie“ ist nur heiße Luft: Ohnehin soll sie nur bis Ende nächsten Jahres gelten, und PSA hat sich schon in der Vergangenheit nicht um Zusagen geschert.

Da sieht das Arbeitsende von Vorständlern schon anders aus. Ex-VW- Chef-Winterkorn erhält 1,1 Millionen Euro Rente pro Jahr. Das stellt Mercedes-Zetsche locker in Schatten: Er hat zwar 2016 zwar „nur“ 7,8 Millionen „verdient“, aber schon jetzt wurde beschlossen, dass er 4,1 Millionen im Jahr an Rente bekommt, 11.230 Euro pro Tag. Dafür wurden 43,5 Millionen Euro Rückstellung getätigt. VW macht 2016 trotz Strafzahlungen in Milliardenhöhe 7,1 Milliarden Euro Gewinn!

Wolfgang LangeNutzen wir das Wahljahr, um in die Offensive zu kommen, als Arbeiter, Arbeitslose, Rentner, Schüler und Studenten! Hoffen wir nicht, dass ein Kreuzchen auf dem Stimmzettel das große Wunder bringt, sondern schließen wir uns zusammen, in der Montagsdemo, im „Internationalistischen Bündnis“, auf der Straße, im Betrieb!

Weltweit gehen Massen gegen den Rechtsruck auf die Straße. 300.000 Menschen forderten vor einer Woche in Barcelona: „Macht die Grenzen auf!“ An der Freiheitsstatue in New York hing eine Stunde lang ein Riesenbanner: „Refugees welcome!“ Schauspielerin Heike Makatsch meint, die Zeit für Zögerlichkeit sei vorbei. Sie will sich ein Beispiel an Meryl Streep nehmen und sich gegen den Rechtsruck stellen.

„Amnesty International“ bezeichnet die Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU als unmenschlich, insbesondere die Abschiebungen nach Afghanistan und die Kooperation mit Libyen mit dem Ziel, Afrikaner schon in Afrika einzusperren und zurückzujagen. Die „Türkische Gemeinde in Deutschland“ startet eine Kampagne „Nein beim Referendum am 16. April!“ Dann will sich Erdogan zum alleinigen faschistischen Herrscher küren lassen. Alle gemeinsam, ob Deutscher oder Ausländer, ob Kollege mit Arbeit oder ohne: Gemeinsam werden wir den Herrschenden den Marsch blasen!

Wolfgang Lange (MLPD)

 

Kein neuer „Heilsbringer“,
sondern ein Teil des Systems

Was für ein Hype um den neuen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten der SPD! Martin Schulz inszeniert sich als Volkstribun, der endlich für „soziale Gerechtigkeit“ sorgen will. Schauen wir uns diesen Mann doch mal genauer an: Er spielt sich auf als Anwalt der „kleinen Leute“, war in Wirklichkeit aber einer der größten Abkassierer im Europäischen Parlament.

Harald BraunAls dessen Präsident kassierte der „kleine Buchhändler aus Würselen“ jährlich über 280.000 Euro netto. Neben Grundgehalt, Kostenpauschale, Repräsentations- und Residenzzulage strich er sich skrupellos 111.000 Euro an Sitzungsgeldern ein. 304 Euro bekam er für jeden Tag, nicht nur für die Sitzungen, an denen er teilgenommen hatte, und nicht nur von Montag bis Freitag, sondern auch am Wochenende, an Feiertagen, wenn er krank war und im Urlaub, alles selbstverständlich steuerfrei.

Als „Report Mainz“ diese Abzocke im April 2014 aufdeckte, kanzelte er den fragenden Reporter einfach ab. „Sie haben ja keine Ahnung!“ Wie sagte sein Kumpel Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, schon vor Jahren: „Wenn es eng wird, muss man lügen“. Martin Schulz ist kein „neuer Stern“ und kein „Mann des Volkes“ – er ist Multimillionär, der zum politischen Establishment gehört und sich 18 Jahre lang die Taschen mit europäischen Steuergeldern vollgestopft hat.

Und was waren seine Glanztaten als Präsident des Europäischen Parlaments? Bei der Erpressung des griechischen Volkes zugunsten der europäischen Banken durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Absenkung der Mindestrente spielte Schulz eine treibende Rolle. Ihm waren die Profite der Banken wichtiger als die „Würde der hart arbeitenden Menschen“, die er heute gern in seinen Sprechblasen pflegt. Er ist auch ein glühender Verfechter der Freihandelsabkommen TTIP und Ceta.

Heidemarie Postner, Sprecherin der Umweltorganisation „Global 2000“ kritisierte: „Es ist unfassbar, dass EU-Präsident Martin Schulz kritische Stimmen im EU-Parlament einfach abwürgt – und das nach dem ganzen undemokratischen und intransparenten Prozess!“ Die flüchtlingsfeindlichen Mauern der EU hat er ohne Bedenken mit hochgezogen. Den schmutzigen Flüchtlingsdeal mit der Türkei hat Schulz mit eingefädelt, gestützt auf seine guten Verbindungen zum Faschisten Erdogan und zum damaligen Ministerpräsidenten Davutoglu. Im September 2016 forderte er einen ähnlichen Deal mit der ägyptischen Militärdiktatur.

Und welche Rolle hat er in Deutschland bei der Durchsetzung der volksfeindlichen Agenda 2010 gespielt? Schulz hat sie nicht nur mit beschlossen, sondern bis vor Kurzem noch verteidigt: „Die Agenda war die richtige Antwort auf eine Phase der Stagnation.“ Kein Wort dazu, dass die Hartz-Gesetze zur Armut weiter Teile der Bevölkerung geführt haben! Die rigorose Beschneidung ihre Einkünfte und Rechte zwingt Arbeitslose seither, jede angebotene Stelle anzunehmen. Das drückt das Lohnniveau aller Beschäftigten. Die Leiharbeit ist inzwischen auf über eine Million Menschen explodiert. Dadurch müssen heute 1,2 Millionen Erwerbstätige zusätzlich zu ihrem Einkommen Hartz IV beantragen.

Zugleich wurden von der Schröder-Regierung die Kapitalisten auf Dauer entlastet, mehr als von jeder anderen Regierung vorher. Seit 2001 sitzt Martin Schulz im 18-köpfigen Präsidium, dem engsten Führungszirkel der SPD. Die Protokolle aller Parteitage belegen: In all den Jahren hat er kein Wort der Kritik am SPD-Kurs geäußert oder gar dagegen gestimmt. Schulz weiß, dass die tiefe Krise der SPD mit der berüchtigten Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen eng verbunden ist.

Wie soll nun die SPD aus dem „Tal der Tränen“ herauskommen? Da hilft nur eine neue Lebenslüge: „Auch wir haben Fehler gemacht, aber das ist nicht ehrenrührig. Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden.“ So einfach geht das? Will er die Hartz-Gesetze wieder abschaffen, die Leiharbeit und die Armut beseitigen? Kein Wort davon! Alle seine Vorschläge sind minimale Kosmetik, die nichts wirklich verändert.

Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I zu verlängern heißt nur, man fällt ein paar Monate später in Hartz IV. Wenn die „sachgrundlose“ Befristung von Arbeitsverträgen abgeschafft ist, werden eben Gründe konstruiert. Den Kündigungsschutz zu verbessern, wenn Betriebsräte gegründet werden, bedeutet Millionen Menschen zu übersehen, die in Kleinbetrieben keinerlei Kündigungsschutz mehr haben.

Wir wollen keine Brosamen, sondern den ganzen Kuchen! Immer mehr Menschen wenden sich von den bürgerlichen Parteien ab und suchen nach einer gesellschaftlichen Alternative. Der Kapitalismus ist das Grundübel aller Probleme und muss überwunden werden! Wir müssen unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen und immer enger zusammenarbeiten – wie in der Bremer Montagsdemo, in der „Umweltgewerkschaft“ oder beim Aufbau des „Internationalistischen Bündnisses“ gegen den Rechtsruck der Regierung.

Am Montag, dem 13. März 2017, findet ab 17:30 Uhr auf dem Bremer Marktplatz das Gedenken an die Atomkatastrophe in Fukushima statt. Dazu lädt ein Bündnis aus Montagsdemo, „Umweltgewerkschaft“ und „Ausgestrahlt“ herzlich ein. Fukushima mahnt: Alle Atomkraftwerke weltweit sofort stilllegen und auf Kosten der Betreiber entsorgen!

Harald Braun („Umweltgewerkschaft“)
 
Kein Zugang zum deutschen Konsulat: Warum gibt es keine Reisewarnung vor „Urlaubsfahrten“ in den türkischen Polizeistaat? („Die Welt“)
 
Zehntausend Türken bejubeln Forderung nach Todesstrafe: Wie „privat“ kann eine Werbeveranstaltung für die Errichtung einer islamistischen Diktatur sein? („Die Welt“)
 
„Der kranke Typ hat mich abhören lassen“: Wird Obama gegen Trumps
Falschbeschuldigung juristisch vorgehen? („N-TV“)
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz