422. Bremer Montagsdemo
am 06. 05. 2013  I◄◄  ►►I

 

Drei Jahre Lohnkostenübernahme mit dem Ziel der Frühverrentung

Elisabeth Graf1. Mehr als jedes dritte Bremer Kind muss in einer Familie aufwachsen, die auf Sozialleistungen angewiesen ist. Während in ganz Deutschland der Anteil der Hartz-IV-Kinder mit 14,8 Prozent nicht einmal halb so hoch ist, liegt er in Bremen bei 30,8 und in Berlin sogar bei 33,6 Prozent. Der Sprecher der Bremer Sozialbehörde, Bernd Schneider, hält die Untersuchungsergebnisse des „Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe“ (BIAJ) für ein „klassisches Großstadtproblem“, das vor allem kleine Kinder von jungen Müttern betreffe. Er glaubt, dass dieses Problem durch die Erfüllung des Rechtsanspruches auf Betreuung für Kinder unter drei Jahren gelöst werden kann.

Paul Schröder vom BIAJ glaubt nicht, dass die Sozialstruktur in Städten automatisch mehr Hartz-IV-Bezieher aufweisen müsse, da etliche Landkreise ähnlich hohe Hartz-IV-Quoten wie Städte hätten („Weser-Kurier“ am 2. Mai 2013: „Jedes dritte Kind lebt von Hartz IV“). Was nützt den Eltern eine weiter ausgebaute Kinderbetreuung, wenn sie im Niedriglohnsektor arbeiten müssen und dabei so erbärmlich wenig verdienen, dass sie trotzdem auf zusätzliche staatliche Zuwendungen angewiesen sind?

Die Bremer Linksfraktion stellte eine Anfrage an den Senat zum Thema Kinderarmut und wollte erstens wissen, wie sich die Zahl der Kinder in Hartz-IV-Familien zwischen den Jahren 2006 und 2012 entwickelt habe, und zweitens, wie hoch die Anzahl der Kinder ist, die zwar kein Hartz IV beziehen, aber dennoch über kein wesentlich höheres Familieneinkommen verfügen. Der kinder- und jugendpolitische Sprecher der Linkspartei, Cindi Tuncel, nimmt an, dass die Gesamtzahl von Kindern, die in Familien mit einem sehr niedrigen Einkommen ansässig sind, sogar gestiegen ist, weil der Anteil von Kindern, die in Hartz-IV-Familien vegetieren, heute in Bremen genauso hoch wie 2008 sei.

Auch Institutsleiter Paul Schröder bestätigt, dass sich der Niedriglohnsektor kontinuierlich ausgeweitet habe. Weil es in Bremen nicht nur eine hohe Erwerbslosigkeit, sondern leider auch einen großen Niedriglohnsektor gibt, müssten damit vermehrt Kinder in Familien groß werden, deren Gesamteinkommen nur knapp oberhalb der Höhe des Hartz IV-Satzes liege.

Dass der Ausbau des Niedriglohnsektors die Armutsentwicklung vorantreibt, dürfte bekannt sein: Es ist und war das erklärte Ziel der Agenda 2010, mit der Einführung von Hartz IV und der Liberalisierung der Leiharbeit einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa zu schaffen. Alt-Kanzler Gerhard Schröder wies darauf in seiner Rede auf dem „Weltwirtschaftsforum“ in Davos im Jahr 2005 hin: Bei der Unterstützungszahlung würden nun „Anreize“ dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Arbeit, Arbeit über alles! Aber arme Kinder haben eben auch arme Eltern. Das ist alles hausgemacht und gewollt!

 

2. Die Bundesagentur für Arbeit will zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit ein neues Pilotprojekt starten und für maximal drei Jahre die Lohnkosten für die Betroffenen voll übernehmen. Ziel der Aktion unter dem Motto „Perspektiven in Betrieben“ sei eine dauerhafte Anstellung. Prädestiniert dafür sind nun schätzungsweise 50.000 Erwerbslose, die zwei Jahre und länger ohne Beschäftigung sind, keinen Berufsabschluss und gesundheitliche Einschränkungen haben und älter als 35 Jahre sind.

Der „Morgenpost“ zufolge soll dieses Projekt „einfache, aber sinnvolle Tätigkeiten“ vermitteln und die Bundesagentur maximal drei Jahre „nur“ bis zu 75 Prozent des Gehalts übernehmen. Es wird wirklich nichts unversucht gelassen, um die Arbeitslosenstatistik aufzuhübschen! Habe ich richtig verstanden: Die Bundesagentur für Armut, äh: Arbeit will einem Unternehmer den kompletten Lohn für einen Langzeiterwerbslosen-Sklaven zahlen und ihn hinterher in die Armutsrente entsorgen, wenn ihn der Unternehmer nicht mehr will, weil er ihm dann selbst den Lohn bezahlen müsste?

Natürlich wird niemand nach drei Jahren übernommen, weil ein Arbeitgeber doch keine solche Kostensteigerung hinnimmt. Aber die Schuld für die Nichtübernahme wird selbstredend dem Erwerbslosen gegeben – und dann gleich nach dem nächsten Kandidaten gefragt. Das Ziel kann nur die Frühverrentung sein! Allerdings muss, wer dann schließlich verrentet wird, sich auf happige Abschläge bei der Höhe der Rente einstellen! Wer ist nun eigentlich der Arbeitgeber, wenn die vollen Lohnkosten von der Bundesagentur übernommen werden: die Firma oder das Job-Center?

So kann diese Maßnahme für die Bundesagentur nur zum Erfolg führen, da zu hundert Prozent gewährleistet zu sein scheint, dass der Erwerbslose nach drei Jahren dauerhaft aus der Statistik verschwunden sein wird, theoretisch vielleicht schon mit 38 Jahren! Abgesehen von den enormen Kosten wurde die Wirtschaft gesponsert, das Lohndumping weiter vorangetrieben und die Arbeitslosenstatistik bereinigt. Was wollen wir mehr?

Wahrscheinlich wird sich der Lohn nur knapp über der Grenze zur Sittenwidrigkeit befinden, damit noch aufgestockt werden muss. Es sollte doch unbedingt sichergestellt bleiben, dass die ehemaligen Erwerbslosen auch weiterhin unter der Knute der Verfolgungsbetreuung sanktioniert werden können! Leider gelten bei der Sozialhilfe und Pseudo-Grundsicherung viel geringere Vermögensfreibeträge als im ALG-II-Bezug. Wer sich etwas auf die Seite gelegt hat, was selbst im bescheidenen ALG II noch geschützt war, wird dann gleich noch mal geschröpft.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend)
422. Bremer Montagsdemo
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„Verfassungsschutz“ auflösen!

An diesem Montag ist Prozessbeginn gegen die NSU. Das Gehakel um Presseplätze lässt nichts Gutes ahnen. Die Opferanwälte – seltsamerweise heißen sie nur „Nebenkläger“ – forderten bei der Pressekonferenz am vergangenen Sonntag völlig richtig eine tatsächliche Aufklärung, was die Rolle der V-Leute betrifft. Es gab nachweislich 24 bezahlte Verfassungsschutz-Spitzel im NSU-Umfeld, das 129 Personen zählte. Bewiesenermaßen waren Geheimdienstagenten seit den 1970-er Jahren bei Anschlägen beteiligt, so in Bologna und beim Münchener Oktoberfest. Die CIA-Geheimarmee Gladio hatte ein Waffenlager in der Lüneburger Heide. Alles wurde vertuscht, jetzt gibt es einen Prozess in Luxemburg. Diese Geheimdienstoperationen sollten den Boden bereiten für eine rigorose Einschränkung von Rechten und Freiheiten, im Falle der NSU also nicht zum ersten Mal! Wir fordern hierüber völlige Aufklärung, die Zerschlagung aller faschistischen Organisationen und Geheimarmeen wie Gladio und die Auflösung des „Verfassungsschutzes“!

Wolfgang LangeUm „Familienpolitik“ kümmerten sich im bayerischen Landtag zuerst nur 17 Abgeordnete der CSU. Jetzt kommen immer mehr auch von SPD, Grünen und Freien Wählern dazu, die Familienangehörige gegen teils fürstliche Gehälter anstellten – bei sich selbst, auf Kosten der Steuerzahler. Die Ehefrau von CSU-Fraktionschef Georg Schmid kassierte 23 Jahre lang ab, zuletzt 5.500 Euro im Monat plus Mehrwertsteuer. Dafür war sie in seinem „Schreibdienst“ tätig. Haushaltsausschussvorsitzender Georg Winter – ja, der versteht was vom Haushalt! – beschäftigte nicht nur seine Ehefrau, sondern auch gleich zwei Söhne für gutes Gehalt. Diese waren bei Vertragsbeginn 13 und 14 Jahre alt! Da war bei Winters vermutlich immer Sommer.

Nicht ganz so gut geht es den meisten Kindern und Jugendlichen in Bremen: Ein Drittel lebt inzwischen von Hartz IV. Nicht gezählte weitere Tausende leben auf dem gleich niedrigen Armutsniveau, nur bekommen sie kein Hartz IV, weil die Eltern oder ein Elternteil für Minimallohn arbeiten geht. Aber auch den meisten Kindern in Bayern geht es nicht so gut wie den Sprösslingen von Georg Winter.

Öffentlich Wasser predigen, aber heimlich Wein saufen, das ist nichts Neues. Darüber empören sich auch zu Recht die Bremer Lehrer. Der Großteil der über 4.000 beamteten Lehrer soll keine Gehalterhöhung bekommen, laut Senat sei dafür kein Geld da. Am 30. April 2013 beschlossen die anwesenden 3.000 Lehrer auf ihrer Personalversammlung deswegen, am 15. und 16. Mai zu streiken. Senatorin Quante-Brandt droht mit Verbot, denn Beamte dürften das nicht. Die Lehrer kontern: „Streik ist demokratisches Grundrecht“. Recht haben sie! Wir fordern auch das Recht auf Generalstreik!

Ein weiteres Beispiel der Fürsorglichkeit bürgerlicher Politiker liefert Bundesminister Dirk Niebel. Der hat das mit der Entwicklungshilfe auch ein bisschen anders verstanden: Wie entwickle ich am besten meine Parteifreunde? 40 Posten und Pöstchen hat er seit Amtsantritt an FDP- Parteifreunde verschoben! Egal welche der bürgerlichen Parteien – ob CDU, CSU, SPD oder Grüne –, alle predigen sie den Verzicht für die breite Bevölkerung, selber jedoch bereichern sie sich, nehmen Vorteile an und sind alles andere als wirkliche Volksvertreter.

Deswegen ist es auch zwecklos zu hoffen, wenn Rot-Grün wieder regiere, werde alles besser: Die machen ganz genau dieselbe Politik, jedenfalls in den Grundzügen, nämlich die des alleinherrschenden internationalen Finanzkapitals. Dagegen haben die 7.000 Schüler, Lehrer und Eltern in Bremerhaven auf ihrer Demonstration am 2. Mai gegen Lehrerabbau und ständigen Unterrichtsausfall ihre Sache in die eigene Hand genommen!

Am vergangenen Wochenende gab es sieben US-Tote und einen toten Deutschen in Afghanistan. Was haben die dort überhaupt verloren? Was ist seit Kriegsbeginn vor zwölf Jahren dort besser geworden? Mehr Schulen? Fehlanzeige! Mehr Frauenrechte? Fehlanzeige! Es gibt völliges Chaos und Zehntausende an Leichen. Wie im Irak hinterlassen die US- Imperialisten und ihre Verbündeten nach ihrem Abzug ein kaputtes Land. Aber sie bereiten immer neue Kriege vor – und umso mehr, je weiter sich die Weltwirtschafts- und Finanzkrise vertieft.

Israel flog Bombenangriffe auf Damaskus – und die Regierung macht das nicht ohne Zustimmung der USA und Verbündeter wie Deutschland! Slowenien droht die Pleite, die Krise verschärft sich. Die Autoindustrie bricht immer weiter ein. Die ungleichmäßige Entwicklung verschärft die Kriegsgefahr, ein dritter Weltkrieg droht. Das alleinherrschende internationale Finanzkapital geht über Leichen! Umweltzerstörung, Kriege anzetteln: Sie machen das nicht aus Versehen. Es ist Zeit, ihnen die Welt aus der Hand zu nehmen!

Wolfgang Lange (MLPD)

 

Für bedingtes Grundeinkommen?

Gerolf D. Brettschneider (parteilos): Die Montagsdemo ist nicht in der Lage zu sagen, wie die Existenzsicherung der Erwerbslosen erfolgen soll. Das macht die Forderung „Weg mit Hartz IV“ unglaubwürdig.

Frank KleinschmidtFrank Kleinschmidt (parteilos): Das sehe ich als schwierig. Wir sind keine Partei. Darum können wir auch kein Parteiprogramm aufstellen. Gemeinsamkeiten sehe ich folgende: Armutsfestigkeit (sozioökonomisches Existenzminimum) und Repressionsfreiheit (ohne Sanktionen). Bei dem Wort „bedingungslos“ scheiden sich die Geister. Daran gibt es sicherlich berechtigte Kritik, dennoch würde ich gern erfahren, unter welche konkreten Bedingungen ein armutsfestes, repressionsfreies Einkommen für „Erwerbslose“ gestellt werden soll. Bis heute besteht die Bedingung als „Obliegenheitspflicht, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen“. Wer meinetwegen auf dem zweiten Bildungsweg Abitur nachholt, stellt sich nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Wer auf einer Uni studiert, auch nicht. Wer immer etwas anderes tut, als sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, ist nicht leistungsberechtigt. Der bekäme dann eben Bafög oder etwas anderes. Um uns hier zu einigen, müssten wir mal einiges konkret machen.

Hans-Dieter BinderHans-Dieter Binder („Die Linke“): „Weg mit Hartz IV“ ist eine berechtigte Forderung. Tagtäglich hören wir die Nebenwirkungen. Nur ein Teil davon wird durch die Höhe des Geldes verursacht. Was ich will? Eine lebenswerte Zukunft! Wie die geht? Vielschichtig. Frank hat recht: Wir sind keine Partei. Insofern reicht eine treffende Umschreibung: „Für eine lebenswerte Zukunft“. Hartz IV ist nicht lebenswert, atomare Verstrahlung auch nicht. Insofern bringt „für eine lebenswerte Zukunft“ die Verbindung. Natürlich laufen noch andere Planungen mit Auswirkungen gegen diese „lebenswerte Zukunft“. Gebündelt wird all dies in der Lissabonner Strategie, hinsichtlich der Bildung abgezweigt nach Bologna. Damals, in den Jahren 2004 und 2005, hatte ich von dieser globalen Verflechtung keine Ahnung.

Zu dieser Frage wäre die Nachbesprechung wieder zu aktivieren. Das Grundeinkommen sollte aus meiner Sicht bedingungslos sein, um niemanden von dieser Absicherung des Lebens auszuschließen. Niemand wird so erpressbar! Die vielen Leistungsbehörden wären überflüssig, wenn diese Zahlung dem Finanzamt übertragen würde. Das Finanzamt schöpft auch die Vermögen et cetera ab. Das sind eigentlich schon zu viele Details – und nur Vorschläge. Die Welt ändert sich. 2005 lautete die Forderung: „Weiterzahlung des ALG I während der gesamten Erwerbslosigkeit“. Das ist eine gute Forderung. Auch die Weiterzahlung von Arbeitslosenhilfe. Sie lag bis zu 1.000 Euro über dem ALG II. Heute erhalten nur noch circa 20 Prozent aller Erwerbslosen ALG I. Nicht alle können davon leben und stocken mit ALG II auf. Über 50 Prozent der Erwerbslosen fallen bereits am ersten Tag der Erwerbslosigkeit in ALG II. Daher Kopf zeigen: Ich bin nicht einverstanden! Ich will die Zukunft lebenswert gestalten!

Hans-Dieter WegeHans-Dieter Wege (parteilos, Gegner asozialer Politik): Auch ich bin für ein Grundeinkommen, und zwar auch ohne vorherige Bedürftigkeitsprüfung. Von der Forderung, es müsste bedingungslos sein, habe ich mich allerdings verabschiedet, weil mir klar geworden ist, dass es ohne Bedingungen nichts auf dieser Erde gibt. Zusätzlich finde ich es heute falsch, wenn man zu einer Forderung als erste Bedingung aufstellt, etwas müsste bedingungslos sein. Das ist dann doch schon seltsam! Ich bin daher zu der Meinung gekommen, dass gerade die For­de­rung nach Bedingungslosigkeit die Gegner und Befürworter eines Grundeinkommens und selbst die Grundeinkommensbefürworter der unterschiedlichsten Modelle nur spaltet.

Hans-Dieter Binder: Die Bedingung für das bedingungslose Grundeinkommen lautet aus jetziger Sicht: Der Mensch muss geboren und noch nicht gestorben sein.

Hans-Dieter Wege: Dann übersiehst du leider, dass in Deutschland der Einsatz für prekäres Leben derzeit spätestens dann endet, wenn ein Frühchen von der Neugeborenenstation das Krankenhaus verlässt. In diesem Moment spielen nur noch die Bedingungen, die das Leben vorgibt, eine Rolle, und nur die Solidarität der Menschen untereinander könnte daran etwas ändern. Aber die Bedingungen werden von diesem Staat vorgegeben und leider nicht von einer staatenlosen demokratischen Gesellschaft. Vielleicht liegt hierdrin der größte Fehler?

Hier noch ein weiterer Einwand gegen die Bedingungslosigkeit: Ameisen sind realistischer als Menschen, und sie verhalten sich auch solidarischer – sie glauben nicht, dass ihre Nahrung bedingungslos vom Himmel fällt wie die Sterntaler. Für ein gleiches solidarisches Grundeinkommen ohne die Bedingung, vorher seine Bedürftigkeit nachweisen zu müssen, aber mit dem Recht eines jeden Menschen, an jeder Art von Arbeit zu gleichen Teilen mitwirken zu dürfen, allerdings ohne jeden Zwang! Rüstungsproduktion sowie Rüstungsexporte gehören gleichzeitig verboten!

Frank Kleinschmidt: Ich finde, dass das jetzt ins endlos Utopische zerfließt. Die Ausgangsfrage war: „Weg mit Hartz IV – was stattdessen?“ Ich denke, wir sollten hier im realpolitisch Machbaren und für jeden Otto Normalo Nachvollziehbaren bleiben. Das Frühchen-Beispiel finde ich auch ziemlich weit hergeholt: Ach, wenn wir doch eine solidarische, staatenlose Gesellschaft wären, dann hätten wir den „edlen Menschen“ und bräuchten kein BGE mehr und auch kein Hartz IV!

Hans-Dieter Wege: Nein, das finde ich absolut nicht, und für utopisch halte ich das von mir Geschriebene auch nicht. Es ist ja richtig, die Frage aufzuwerfen, was nach Hartz IV kommen soll. Das ist für mich zweifellos ein Grundeinkommen. Allerdings muss man die Menschen schon ehrlich darauf hinweisen, dass ein solches nur aus der Arbeit finanziert werden kann und durch nichts anderes. Genau das wären schon einmal Bedingungen, ohne die ein Grundeinkommen nicht funktionieren könnte. Die Hauptfrage hierzu müsste lauten, ob ein solches Einkommen zwangsläufig aus der Lohnarbeit finanziert werden muss.

Anfangs mit Sicherheit – solange sich Menschen bei Wahlen noch für diese parlamentarische Demokratie und damit für den Kapitalismus entscheiden, würde wohl nur diese Form in Frage kommen. Aber genau die profitorientierte Lohnarbeit mit all ihren Auswirkungen auf jedes Lebewesen, die Natur und das Klima sowie für den Frieden auf der Erde muss man so schnell wie möglich überwinden und dies auch gemeinsam anstreben. Ein solidarisches Grundeinkommen muss man auch in einem demokratischen und internationalen ökologischen Sozialismus überhaupt nicht ausschließen.

Frank Kleinschmidt: Ich finde, dass du bei all diesen Fragestellungen, die ich teile, wieder auf dem Boden bist. Gegen das Wachstumsparadigma mit seinen zusammenhängenden Umwelt- und Ressourcenproblemen habe ich mich in vergangenen Beiträgen deutlich genug ausgesprochen und eine ressourcenbasierte Wirtschaftsordnung vorgeschlagen. In den vergangenen zwei Jahren habe ich mich ziemlich intensiv mit dem Thema bedingungsloses Grundeinkommen beschäftigt, Veranstaltungen besucht, viel gelesen und eine Menge schlauer Leute gesprochen.

Niemand gibt sich der Illusion hin, dass ein BGE von heute auf morgen einführbar wäre und darauf das Glück auf Erden geschaffen wäre. Stichhaltige Kritik daran wird in diesen Kreisen ernst genommen und diskutiert, insbesondere die Möglichkeit, dass neuer sozialer Zündstoff und eine neue soziale Ausgrenzung entstünde. Das klischeebehaftete „Hängemattenproblem“ wird ernst genommen, obwohl ein konkreter Versuch in Namibia das Gegenteil gezeigt hat: Die Leute, die ihr BGE bekamen, wurden wirtschaftlich aktiv, statt sich in die Hängematte zu legen. Es ist in diesen Gebieten viel Kleingewerbe entstanden, und aus Slums wurden bewohnbare Siedlungen.

Eine Gesellschaft ist eine sehr komplexe Sache und kein Versuchslabor. Daher war (nicht nur) mein erster realistischer Ansatz, zunächst eine auskömmliche Rentengrundsicherung einzuführen und dann schrittweise weiterzugehen. Daher bleibt es bei meiner Fragestellung unter den jetzigen konkreten politischen Gegebenheiten: Wenn nicht „bedingungslos“, welche konkrete Bedingung? Seit jeher galt in der Bundesrepublik die Bedingung, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Mit Hartz IV ist neu hinzugekommen, dass dies mit einer „Eingliederungsvereinbarung“ in konkrete Verpflichtungen gemeißelt wird: Bei Verstoß gegen diese Verpflichtungen folgt die Sanktion.

Ich möchte noch betonen, dass ich den Wunsch nach einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nur bezüglich der von Gerolf gestellten Eingangsfrage nach einer alternativen Erwerbslosen-Grundsicherung für abschweifend gesehen habe. Wir haben ja das alte Problem, auf dem Marktplatz Antworten zu geben. Generell lässt sich solch ein Wunsch in anderen Zusammenhängen natürlich jederzeit äußern.

E-Mail-Diskussion von Unterstützern der Bremer Montagsdemo
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