376. Bremer Montagsdemo
am 21. 05. 2012  I◄◄  ►►I

 

25.000 friedliche Demonstranten
trotzen einer Verbotsorgie

Elisabeth Graf1. Der 22-jährige erwerbslose David Riemer klagte mit seinem Anwalt vor dem Landessozialgericht und bekam recht. Das Bremer (No-)Job- Center hatte Riemer vertraglich in der sogenannten Ein­glie­de­rungs­vereinbarung zu einer psychologischen Untersuchung verpflichten wollen. Er sollte unterschreiben, dass er verpflichtet sei, sämtliche Termine der Agentur für Arbeit sowie die sich daraus ergebenden Termine zu ärztlichen oder psychologischen Untersuchungen wahrzunehmen. Natürlich war der junge Erwerbslose nicht einfach so mit einer psychologischen Untersuchung einverstanden und setzte damit die Verwaltungsmaschinerie der Verfolgungsbetreuung in Gang. Das Landessozialgericht gab ihm in einem Beschluss vom 4. April recht und stellte klar, dass sich Hilfebedürftige in der Eingliederungsvereinbarung nicht zu ärztlichen und psychologischen Untersuchungen verpflichten müssen.

Solange die psychologische Untersuchung Teil der Eingliederungsvereinbarung sei, könne das (No-)Job-Center bei einem Verstoß das Arbeitslosengeld kürzen: zunächst um 30, dann um 60 Prozent. Wer dreimal einen Termin nicht wahrnehme, bekomme gar kein Geld mehr, könne seine Lebenshaltungskosten nicht mehr bestreiten und seine Wohnung nicht mehr bezahlen. Laut Gerichtsbeschluss dürfe die psychologische Untersuchung aber nicht Teil der Eingliederung sein, da sie bereits an anderer Stelle im Sozialgesetzbuch geregelt sei und eine Weigerung danach zu einer Leistungskürzung um zehn Prozent führen könne. Dieser Unterschied bei den Sanktionen – zehn Prozent gegenüber 30 oder mehr – sei der entscheidende Punkt in dem Beschluss.

Die Entscheidung des Gerichts sorgte beim (No-)Jobcenter bereits für eine Änderung: So wird die Aufforderung zur ärztlichen und psychologischen Untersuchung zwar künftig nicht mehr Teil der Eingliederungsvereinbarung sein, es wird sie jedoch auch weiterhin geben. Der Leiter des (No-)Job-Centers, Helmut Westkamp, kann ohnehin „nicht nachvollziehen“, dass Arbeitslose die psychologische Untersuchung verweigern, weil seine Behörde doch niemandem „etwas Schlimmes“ antun und ihren „Kunden“ nur helfen wolle, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden. Völlig klar, wie hätte jemand nur auf eine andere Idee kommen können! Die Erwerblosenforen sind allerdings voll von „guten Beispielen“ dieser Art. Ich glaube nicht, dass in Deutschland außer Erwerbslosen und Asylbewerbern irgendjemand anders befürchten muss, wegen Ordnungswidrigkeiten sein Zuhause und sein Einkommen zu verlieren. Selbst verurteilte Mörder haben immer ein Dach über ihrem Kopf und etwas zu essen. So unverhältnismäßig und drakonisch wird hierzulande niemand sonst bestraft!

 

2. Die „Blaue Karte“ aus dem „Bildungspaket“ von lovely Zensursula von der Leyen soll es Kindern aus Geringverdiener- Haushalten angeblich leichter machen, am sozialen Leben teilzuhaben, doch seit der Einführung vor über einem Jahr gibt es Streit um das komplizierte Verfahren. Jetzt machen einige Sportvereine nicht mehr mit und wollen, dass sich ihre Mitglieder darum kümmern, an das Geld zu kommen. Bisher zahlen die durch die „Blaue Karte“ Stigmatisierten ihre Mitgliedsbeiträge selbst, und der Verein schickt dann ein Formular an die Sozialbehörde, welche wiederum das Geld an die Vereine zurück überweist, die es an die Mitglieder auszahlen. Seit Anfang des Monats Mai schicken die Vereine ihre Mitglieder zum Jobcenter, wo sie sich ihr Geld selbst holen sollen.

Allerdings bekommen die Besitzer der „Blauen Karte“ dort ebenso wenig ihr Geld ausgezahlt, wie sie es in einem angemessen erhöhten Regelsatz bekommen könnten, obwohl das von Behördensprecher Bernd Schneider befürwortet würde. Dessen ungeachtet wurde das Teilhabepaket auf Bundes-, nicht auf Landesebene beschlossen, und die Bremer Sozialbehörde ist dem Bund Rechenschaft in Form von Abrechnungen schuldig. Es muss nachgewiesen werden, dass das Geld für den Zweck ausgegeben wurde, für den es gedacht ist. Der Verwaltungsaufwand ist für die Vereine so hoch, wie er für ALG-II-Bezieher ganz „normal“ ist! Nun müssen auch schon wieder ihre Kinder unter der staatlich verordneten Armut leiden, die offenbar auch unbedingt demütigen soll! Warum wird das Geld nicht in einem erhöhten Regensatz vergeben? Weil den Eltern pauschal diffamierend unterstellt wird, dass sie das Geld in Zigaretten, Alkohol und Flachbildschirme umsetzen würden.

Wie um das Wirrwarr noch weiter zu erhöhen, kommen jeden Monat unterschiedliche Beträge an, die der Verein an die Mitglieder weitergeben muss, da diese darauf Anspruch haben. Welchem Mitglied jedoch welche Summe zustehe, sei dabei nur sehr schwer, manchmal gar nicht nachzuvollziehen. Wenn ALG-II-Bezieher einen Antrag auf Übernahme der Beitragsgebühr des Sportvereins für ihr Kind stellen, kann dies nur so lange genehmigt werden, wie der laufende Bescheid des (No-)Job-Centers gültig ist. Der muss alle sechs Monate verlängert werden, was mit den Mitgliedsbeiträgen also ebenso oft geschehen muss. Bernd Schneider, Sprecher von Sozialsenatorin Anja Stahmann, erklärt, dass die überwiesenen Beträge nicht mit Namen versehen würden, habe damit zu tun, dass die „Anonymität“ gewahrt bleiben müsse. Ach, auf einmal? Lässt sich mit der „Blauen Karte“ auch ganz anonym und menschenwürdig herumwedeln? Ich kann die Weigerung der Bremer Vereine gut nachempfinden, die diesen unsinnigen Mehraufwand an Verwaltungsarbeit nicht mehr länger leisten wollen, zumal sie dafür eine zusätzliche Arbeitskraft für gut 600 Euro einstellen müssten.

 

3. Auch wenn die Gesamtzahl der Erwerbslosen insgesamt sinke, nehme der Anteil der ALG-II-Bezieher sowohl im Westen als auch in den Ostländern zu. Zwei Drittel seien bereits zwei Jahre oder länger auf diese Leistungen angewiesen. Es bestätige sich der Trend, dass bei sinkender Arbeitslosigkeit insgesamt der Anteil der Langzeitarbeitslosen in der Relation prozentual steige. Die Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit erläuterte, dass sie jetzt langsam zum „harten Kern“ derer kämen, die schwer zu vermitteln seien. Es lassen sich eben nicht alle aus der Statistik herausmogeln! Zudem befänden sich unter den Beziehern von Arbeitslosengeld II nicht nur Erwerbslose, sondern auch sogenannte Aufstocker und Alleinerziehende, die zwar Leistungen bezögen, aber bis zum dritten Geburtstag ihres Kindes dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden. Klar gibt es mehr Arbeit! Bloß soll die ehrenamtlich geleistet werden, niemand will sie bezahlen.

 

4. Offenbar sind einige katholische Grünen-Politiker vom Katholikentag in Mannheim noch so völlig beseelt, dass sie dessen diesjähriges Motto scheinbar besonders ernst nehmen und einen „neuen Aufbruch“ wagen möchten. Sie wollen das System der Kirchensteuer reformieren und fordern eine „Kulturabgabe“ nach italienischem Vorbild, wonach unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit auch Konfessionslose gezwungen würden, eine gewisse Summe an eine „gemeinnützige“ Organisation zu zahlen. Die Grünen-Politiker wollen mit der allgemeinen Kulturabgabe verhindern, dass immer mehr Gläubige die Kirche wegen der Kirchensteuer verlassen. Sind die grünen Katholiken vor lauter Reformeifer innerhalb der katholischen Kirche noch ganz frisch? Haben sie wirklich keine besseren, halt grünen Ideen, als den Leuten noch mehr Geld aus dem Portemonnaie zu leiern? Sind das also die neuen Ziele der neuen Grünen?

 

5. Entgegen den von örtlichen Behörden verbreiteten Horrorszenarien war die Stimmung in Bankfurt am vergangenen Wochenende durchweg friedlich. Es wurde getrommelt und getanzt, nirgends war auch nur eine Spur von den prophezeiten zweitausend Gewalttätern, die angeblich im Rahmen der „Blockupy“-Aktionstage die Bankenmetropole heimsuchen wollten. Ich bin froh darüber, dass sich trotz Bestätigung des Pauschalverbots durch die Gerichte die Menschen friedlich an diversen Orten versammelten, um nicht nur gegen Bankenmacht und Kapitalismus zu protestieren, sondern auch gegen die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Sie ließen sich auch von der Präsenz Tausender Polizisten in der gesamten Innenstadt nicht abschrecken. Unter ihnen war Liedermacher Konstantin Wecker, der meinte, dass er schon in Athen und Bagdad gesungen habe, es aber in Frankfurt nicht dürfe. Ein solches Radikalverbot politischer Veranstaltungen habe er noch nicht erlebt.

Die Polizei versucht immer wieder, Aktivisten einzukesseln und „in Gewahrsam“ zu nehmen. Sie zog nach eigenen Angaben rund 400 Menschen auf diese Weise aus dem Verkehr. Danke, dass die Polizisten nun selbst die Aufgabe übernommen haben, den Finanzdistrikt abzuriegeln! Dass sie dabei jedoch oft rechtswidrige Aufenthaltsverbote für die Bankfurter Innenstadt aussprachen, die vor Gericht keinen Bestand haben dürften, und offenbar mit Vorsatz Recht brachen, ist eines Rechtsstaates unwürdig, weil undemokratisch! Als Höhepunkt der „Blockupy“-Proteste gingen letzten Samstag etwa 25.000 Menschen gegen Sparpolitik und Bankenmacht auf die Straße. Es ist als großer Erfolg zu werten, dass trotz der Verbotsorgie im Vorfeld so viele zum friedlichen Demonstrieren nach Bankfurt gekommen sind.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend)
 
Vier Prozent Nachbesserung für 20 Prozent Kostensteigerung: 2011 wurde
200.000 Hartz-IV-Haushalten der Strom abgestellt („Finanznachrichten“)
 
Tapfer: Grundeinkommensbefürworterin Katja Kipping
tritt trotz Mutterschaft an, um die Linkspartei
aus der Krise zu führen („Spiegel-Online“)
 
Diener zweier Herren: Ein Regierungsdirektor kann
kein Piratenkapitän sein („Spiegel-Online“)
 
Alle zehn bis 20 Jahre droht der Atom-GAU: Es gab bisher
vier Kernschmelzen in 14.500 Jahren Laufzeit von
gegenwärtig 440 Reaktoren („Weser-Kurier“)
 
„Europas Schande“: „Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte(„Süddeutsche Zeitung“)
 
„Es ist gut, eine Wahl zu haben“: Im bleiernen Aserbaidschan
kürt Europa den Popsong des Jahres („Focus“)
 
Zu Pfingsten findet keine Montagsdemo statt.
 
Die Sozialdeputation tagt am Donnerstag, dem 31. Mai 2012, ab 15 Uhr
im Haus der Senatorin für Finanzen, Rudolf-Hilferding-Platz 1.
Schwerpunkt der Tagesordnung ist die Kinderbetreuung,
behandelt werden sicher auch Bildung und Betreuung.
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz