293. Bremer Montagsdemo
am 30. 08. 2010  I◄◄  ►►I

 

...und die Großen lässt man laufen

Thomas Toussaint Zum Artikel „Kevin-Prozess wird eingestellt“ vom 18. August 2010 schrieb ich folgenden Leserbrief an die Bremer Tageszeitungen AG mit Bitte um Veröffentlichung: „Das Ende des Kevin-Prozesses setzt den Schlusspunkt unter den tragischen Tod eines kleinen Kindes. Der Allerletzte und Kleinste in einer Kette des Versagens wird zwar nicht bestraft, aber auch eine Zahlung von 5.000 Euro ist für einen Normalverdiener nicht unerheblich. Es ging um Verletzung der Fürsorgepflicht. Bürgermeister Börnsen sprach von einem ‚schrecklichen Versagen des Staates‘. Nun ist sicherlich der abgestrafte Amtsvormund nicht erster Repräsentant des versagenden Staates. Der Staat wird im Wesentlichen durch die führenden Politiker und im vorliegenden Fall den Senat sowie die damals zuständige Senatorin, Frau Karin Röpke, repräsentiert. Was ist mit deren Fürsorgepflicht für die Sozialbehörde und deren Mitarbeiter gewesen? Frau Röpke hat zwar ihr Amt niedergelegt und die politische Verantwortung bekannt. Zur realen Verantwortung gezogen wurde sie nicht. Ich vermute, dass sie ihr Amt mit vollem Anspruch auf Altersbezüge einer Senatorin verlassen hat. Ich vermute weiterhin, dass ihre Partei ihr einen guten Versorgungsposten verschafft hat. Auch hier zeigt sich wieder die alte Volksweisheit: ‚Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen.‘“ – Bei Veröffentlichung am 27. August 2010 in den „Bremer Nachrichten“ wurden die letzten sechs Sätze fortgelassen.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Dies ist der schöne Anspruch unseres Grundgesetzes (Artikel 5, Absatz 1). Und wirklich, der Staat der Bundesrepublik Deutschland bedarf keiner eigenen Zensurbehörde. Die Vorauswahl und das Sortieren der für die Öffentlichkeit geeigneten Nachrichten übernehmen die großen Presse- und Medienkonzerne ganz im Sinne der vom Staatsapparat gewünschten Denkweise. Und die Presse ist sich auch nicht zu schade, die frei geäußerte Meinung durch Zensur zu verstümmeln, wenn sie denn nicht erwünscht ist. Der Fall des tragisch ums Leben gekommenen kleinen Kevin ist ein Paradebeispiel für das Versagen staatlicher Fürsorge gegenüber den Schwächsten und sozial Ausgegrenzten unserer Gesellschaft. Die Kassen der Kommunen werden durch die Bundesregierung zugunsten der großen Unternehmen und Reichen zunehmend geplündert. Und auf Ebene der Kommunen trifft dieser finanzielle Notstand wieder auf eine Strategie der Umverteilung zulasten der sozial Schwächsten. Dies ist das Szenario, vor dem der kleine Junge sein Leben verlor. Der für Kevin zuständige Betreuer hatte sich um fast 300 Kinder zu kümmern – 50 Fälle hält man für die vertretbare Obergrenze. Hinweise des Betreuers auf seine Überlastung bewirkten nichts. Bürgermeister und Sozialsenatorin wurden ausdrücklich über den Fall Kevin unterrichtet und taten nichts. Nur dem Betreuer wurde der Prozess gemacht. Auch wenn er nicht verurteilt wurde, sind 5.000 Euro Strafe kein Pappenstiel.

Die politisch Hauptverantwortlichen in Bremen, Bürgermeister und ehemalige Sozialsenatorin, bleiben fein im Hintergrund. Und beim Verstecken dieser Verantwortlichen spielt die Bremer Tageszeitungen AG eine schändliche Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der Bremer Tagespresse jemals die Frage nach der Verantwortlichkeit der leitenden Politiker gestellt worden wäre, geschweige denn, dass gefordert worden wäre, sie zur praktischen Verantwortung zu ziehen. Offensichtlich besteht hier ein harmonisches Einvernehmen, deren Rolle mit dem Mäntelchen der Barmherzigkeit zu verdecken. Ich habe mit meinem Leserbrief vom 18. August 2010 an die Bremer Tageszeitungen AG versucht, den Blick auf die politisch Hauptverantwortlichen in Bremen zu lenken. Vor dem Hintergrund und der Motivation, die bürgerlichen Politiker in Schutz zu nehmen, wird die direkte Zensur dieses Leserbriefes durch die Redaktion erklärbar. Schon meine Überschrift „...und die Großen lässt man laufen“ stört den heiligen Frieden. Dreist wird sinnentstellend unformuliert in „Und die Verantwortlichen?“ Und der entscheidende Absatz, in dem dargestellt wird, wie sich die verantwortliche Senatorin Röpke elegant aus der Affäre gezogen hat, fällt gänzlich der Schere des Zensors zum Opfer. Eine Zensur findet (nicht) statt? So viel zum Widerspruch zwischen hehrem Anspruch des Grundgesetzes und der schnöden Wirklichkeit. Im Übrigen verstößt die Bremer Tageszeitungen AG mit Zensur und Verstümmelung eines Leserbriefes gegen die „Publizistischen Grundsätze (Pressekodex)“ des Deutschen Presserates. Aber die sind wohl auch nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie gedruckt sind. – Ich habe nun einen Brief an die Bremer Tageszeitungen AG mit Aufforderung, den Leserbrief ungekürzt bis zum 4. September abzudrucken, geschickt. Wenn das nicht passiert, folgt Beschwerde an den deutschen Presserat wegen Verstoßes gegen den Pressekodex.

Leserbrief, dessen verstümmelter Abdruck, Korrektur-Aufforderung und
persönliche Erklärung von Dipl.-Ing. Thomas Toussaint, Architekt,
Anmelder der ersten Bremer Montagsdemonstration 2004

 

Nur aktiver Widerstand kann die menschenfeindlichen Pläne stoppen

Wolfgang Lange Eine neue Studie des „Nürnberger Instituts für Arbeitsmarktforschung“ widerlegt die reaktionäre Hetze Westerwelles und Sarrazins, die Hartz-IV-Emp­fänger wollten nicht arbeiten, sondern in der „sozialen Hängematte“ ausruhen: Von 5,24 Millionen Arbeitslosen zwischen 15 und 64 Jahren arbeiten zwei Drittel 20 Stunden oder mehr in der Woche. Wird auch geringere Arbeitszeit hinzugerechnet, sind es noch viel mehr! Nur vier Prozent sagen, dass ihnen das Geld auch so reiche, und unternehmen – meist nach unzähligen erfolglosen Bewerbungen – nichts mehr, um Arbeit zu bekommen. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger ist inzwischen auf sieben Millionen angestiegen. Arbeitskräfte werden nur für Billig- und Teilzeitjobs und befristete Leiharbeitsplätze gesucht. Deshalb müssen Arbeitende und Arbeitslose einen gemeinsamen Kampf führen: für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, für zehn Euro Mindestlohn, gegen die Hartz-Gesetze!

In Coburg befindet sich René Hähnlein, Vorsitzender der Linkspartei, seit dem 12. August 2010 für 20 Tage in Haft, weil am 1. Dezember 2009 eine Protestveranstaltung vor der Arge mit drei Mann stattgefunden hatte, die laut bayerischem Versammlungsgesetz hätte angemeldet werden müssen. Die Polizei hatte Personenkontrollen durchgeführt und eine Frau, die Infomaterial herangebracht hatte, dazugezählt. Daher stellte sie mehr als drei Teilnehmer fest. Der eigentliche Skandal ist aber die Kriminalisierung jeglichen sozialen Protestes, ganz egal, ob drei, vier, fünf oder viele dabei sind, denn der Protest gegen Hartz IV, der Widerstand gegen ein Gesetz, das Millionen in die Armut treibt, ist legitim! Auf der gleichen Linie liegt der Bußgeldbescheid über 115,95 Euro, den Joachim Waclaw von der Montagsdemo Sonneberg bekam, nachdem am 9. August 2010 beim sechsjährigen Jubiläum eine Spontandemo mit Teilnehmern des „Rebell“-Sommercamps in Truckenthal durch ein paar Straßen der Stadt Sonneberg führte.

Derweil wächst der Widerstand gegen das Milliardenprojekt „Stuttgart 21“ weiter: Waren es am Mittwoch noch 30.000 Protestierer, so kamen am Freitag schon über 40.000. Es gab aktiven Widerstand in Form von Besetzung der Schienen und eines Abrissbaggers, Kreuzungen wurden blockiert und das Dach besetzt. Die Polizei geht immer gewaltsamer vor, der Protest wird immer größer: Es herrscht die offene politische Krise in Stuttgart und Umgebung! Die Menschen wollen Bürgermeister Schuster absetzen. Auch die Kollegen von Daimler kommen zahlreicher und diskutieren den Gedanken des politischen Streiks gegen dieses Wahnsinnsprojekt, das im Interesse der Monopole liegt und gegen den Willen der großen Mehrheit durchgezogen werden soll.

Am Samstag, dem 18. September 2010 gibt es eine Großdemonstration in Berlin gegen die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. Am Sonntag verkündete Frau Merkel in der ARD, zwölf bis 15 Jahre Verlängerung seien notwendig als „Brücke zur erneuerbaren Energie“. Das ist alles nur Lüge, denn gleichzeitig wird die Förderung der Sonnenenergie massiv gekürzt. Kernkraft ist keine Brücke, sie verstopft der erneuerbaren Energie den Weg! Die Regierung hat ein „Gutachten“ in über die Strompreise und die Versorgungsentwicklung in Auftrag gegeben, das den Vorschlag machte, die AKWs zwölf bis 20 Jahre länger laufen zu lassen. Jetzt kam heraus: Bezahlt haben das Gutachten RWE und EON! Nicht vergessen sollten wir, dass im Aufsichtsrat von RWE Wolfgang Clement sitzt, bis 2005 Wirtschafts- und Arbeitsminister. Er war Hauptdrahtzieher bei den Hartz-Gesetzen!

Jetzt behauptet er in „Hart aber fair“, er habe seine Meinung zur Kernkraft „geändert“, denn die Kohlendioxidbelastung durch Kohle sei noch schlimmer. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“, kommentierte Moderator Plassberg. Da wurde Clement böse: „Ich bekomme doch nur 20.000 Euro im Jahr von RWE!“ Für ein oder zwei Sitzungen im Jahr? Für solche „Peanuts“ ändert er doch nicht seine Gesinnung! Nein, er war schon immer nicht nur ausführender Arm, sondern ein Teil des raffgierigen Monopolkapitals. Aber auch die Rolle der Grünen sollten wir nicht vergessen: Jetzt tun sie so, als ob sie den Widerstand gegen Kernkraftwerke anführen, aber wer ist denn seinerzeit mit dem sogenannten Atomkonsens über 32 Jahre Laufzeit der alten Anti- AKW-Bewegung in den Rücken gefallen und hat sie zerstört? Das waren doch die Grünen, in treuer Gefolgschaft zur SPD-Spitze um Schröder! Deswegen gilt auch hier: Nur der aktive Widerstand kann die menschenfeindlichen Pläne stoppen!

Wolfgang Lange (MLPD)

Lieber René Hähnlein, auf unserer heutigen Montagsdemonstration wurde darüber berichtet, dass du seit dem 12. August in Haft bist. Wir erklären uns hiermit mit dir und deinen Mitstreitern solidarisch. Es ist ein Skandal, wie hier versucht wird, den berechtigten sozialen Protest zu kriminalisieren! Auch wir Bremer kämpfen seit sechs Jahren gegen die Hartz-Gesetze und werden diesen Kampf weiterführen, bis er gewonnen ist. Wir hoffen, dass die Ungeheuerlichkeit deiner Inhaftierung so breit bekannt wird, dass immer mehr Menschen auch in Coburg zur Montagsdemo kommen. Nur wer kämpft, kann gewinnen! In herzlicher Verbundenheit.

Solidaritätserklärung der Initiative Bremer Montagsdemo
(einstimmig beschlossen)
 
Deutschland hat die größten Bad Banks der Welt: Kriminelle Manager
und unfähige Politiker treiben uns in den Ruin („Heise“)

 

Welche Lohnarbeit ist nötig, um alle gleich daran zu beteiligen?

Hans-Dieter Wege1. Zu meinem Bericht von letzter Woche über die von den „Sozialbehörden“ angeordnete Untersuchung, in deren Anschluss meiner Ehefrau „querulatorisches Verhalten“ vorgeworfen wurde, bleibt nachzutragen, dass einer Hausfrau, die keiner weiteren Tätigkeit nachgeht oder keine sonstigen Einnahmen hat, der Termin einer gerichtlich angeordneten Untersuchung mit zwölf Euro je Stunde vergütet werden muss. Für eine Verrentung oder eine gleichgestellte Verweisungstätigkeit, die auch gesundheitliche Einschränkungen berücksichtigen, spielt dieser angenommene „Lohn“ überhaupt keine Rolle mehr. Seltsam, aber so ist es.

Leider konnte ich einen Anwalt nicht davon überzeugen, hierzu im Rahmen von Prozesskostenhilfe für meine Frau vor das Bundessozialgericht zu ziehen. Sie ist mein Schmied, die zusätzlich noch Feinmechanikerin ist, dies aber im Moment nur Sonntags beim Zeitungsaustragen und bei der anschließenden möglichen Fahrradreparatur. 30 Jahre Hausfrau und Mutter, gelernte Reno-Gehilfin ohne Computerkenntnisse mit Förderungsanspruch Nullkommanull: Mit den jetzigen 3,45 Euro steht meine Frau ganz schön schlecht da!

 

2. Alle Jahre wieder das Gleiche: Die galoppierende Verelendung bezeichnet man lieber vorsichtiger als Armut, fordert noch einen Mindestlohn von zehn Euro und meint, die Welt (Deutschland) wäre wieder in Ordnung. Warum wird nicht endlich von diesen Spezialisten aus der Bremer Memorandum-Gruppe um Professor Rudolf Hickel nach der tatsächlich jährlich notwendigen Lohnarbeit gefragt, die erforderlich ist, damit alle 44 Millionen erwerbsfähigen Menschen in diesem Land mit einem gleichen Monatsstundenanteil daran beteiligt werden können? Scheut man sich davor, da man weiß, dass jeder Stundenlohn und auch der Mindestlohn von zehn Euro in diesem Moment verdoppelt werden müsste?

Da ist es doch viel einfacher, die zunehmende Armut und die Kürzungen durch die Regierung zu kritisieren! Nur wird das der Masse der von Verelendung bedrohten Menschen nicht so richtig helfen, denn es bleibt dadurch bei der Abkopplung vieler Arbeitnehmer(innen) von der Lohnarbeit. Aber zumindest bleibt man ja hierdurch im System verankert - das schon fast 90 Prozent der Menschen in diesem Land in Frage stellen. Davon reden diese ganzen Spezialisten mit keinem Wort! Mindestens die finanziell Benachteiligten sollten solche Debatten als unzureichend ablehnen: Es sind ausschließlich Scheindebatten! Aus diesen Gründen halte ich es auch für wichtig, „Hartz-IV-Gemeinden“ zu gründen. Die Betroffenen müssen selbst aktiv werden, und wenn es erst einmal nur mit einer Unterschrift geschieht.

 

3. Nun erwägt die Regierung das Streichen von Alkohol und Tabak aus dem Hartz-IV-Regelsatz. 1.000 Euro für ’ne Flasche Schampus würde ich den Politikern sofort streichen! Auch die Mittel für eventuellen Kokainkonsum sollte man pauschal aus den Diäten herausrechnen. Den Theaterfreaks aus dieser feinen Gesellschaft sollte man zusätzlich die Subventionen für jeden Logenplatz streichen. Dass dieser Vorschlag wieder einmal aus der FDP kommt, muss nicht wundern. Mehr Netto von immer weniger Brutto funktioniert nun mal nicht! So muss man eben auf jede andere Weise versuchen, die Regelsätze herunterzubekommen und das „Lohnabstandsgebot“ zu wahren. Vielleicht muss man die Besuche im Fußballstadion oder Kino ebenfalls herausrechnen oder den öffentlichen Personennahverkehr? Aber ins Theater bräuchten diese Politiker wirklich nicht mehr, das veranstalten sie bereits selbst. Abwählen statt Nichtwählen! Für eine neue Gesellschaft!

Hans-Dieter Wege (parteilos, Gegner asozialer Politik)
 

 
Der kommende Aufstand: Konkrete Schritte zur Aufhebung der schlechten Verhältnisse in die Diskussion werfen („Indymedia“)

 

Richter verweigern menschenwürdiges Existenzminimum noch immer

1. Mit einem grundlegenden Urteil gab das Sozialgericht Koblenz der Klage eines Arbeitslosen teilweise statt. Der Kläger hatte eine Eingliede­rungsvereinbarung unterschrieben, nach der er sich zur Bewerbung auf Stellenangebote verpflichtete. In zwei Fällen kam er dieser Verpflichtung jedoch nicht nach und erklärte, dass er krank geworden sei und nur einen kaputten Computer zur Verfügung gehabt habe. Daraufhin kürzte ihm die Arge das ALG II zweimal in Höhe von jeweils 30 Prozent monatlich. Das Sozialgericht beurteilte die Kürzung grundsätzlich als rechtmäßig, stellte jedoch fest, dass sie insgesamt nur einmal erfolgen dürfe. Ich finde es skandalös, dass die Richter den Einwand des Klägers, die Maßnahme sei allein deshalb rechtswidrig, weil er auf das Geld zur Sicherung seines Existenzminimums angewiesen sei, für unerheblich befanden. Es liegt doch auf der Hand, dass der Kläger auf dieses Geld angewiesen ist!

Elisabeth GrafMit diesem vermaledeiten Paragraphen 31 SGB II wird das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum systematisch verhindert, um ALG-II-Bezieher so weit runterzuknechten, dass sie nahezu willenlos werden. Davon abgesehen darf wohl eigentlich nicht behauptet werden, dass das ALG II bei Bewerbungsverweigerung einmalig gekürzt werden dürfe. Grundsätzlich darf es das nämlich gar nicht, sondern nur, wenn dazu eine Eingliederungsvereinbarung unterschrieben wurde, wie es hier leider vorgekommen ist. Ich finde, wir dürfen nicht vergessen, dass in dem Wort „Eingliederungsvereinbarung“ immerhin der Begriff „Vereinbarung“ vorkommt, was ja bedeutet, dass beide Parteien übereinkommend etwas miteinander beschließen, wofür sie eines Sinnes werden müssen. Das impliziert selbstverständlich, dass niemand dazu gezwungen werden kann, etwas zu unterschreiben, womit er nicht einverstanden ist. Weil auch ein Erwerbsloser immer noch ein Mensch mit Rechten ist, sollte sich jeder sehr genau überlegen, was er unterschreibt und notfalls den Entwurf mit nach Hause nehmen, um ihn mit jemandem zu besprechen und auch eigene Wünsche vertraglich festzulegen! (Aktenzeichen S16 AS 212/10)

 

2. Ein sich seit mehreren Jahren wegen Opiatabhängigkeit in Substitutionsbehandlung befindender Mann bezieht seit November 2007 durchgängig laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Weil er wegen seiner Erkrankung stark schwitze und seit Jahren kein Geld für Bekleidung habe aufwenden können, beantragte er die Bewilligung von Bekleidung. Der Antrag wurde abgelehnt, da der geltend gemachte Bedarf im maßgeblichen Regelsatz enthalten sei. Auch der hiergegen eingelegte Widerspruch, dass die Kleidung durch die mit der Substitutionsbehandlung verbundenen Nebenwirkungen wie Hyperhidrose stark verschleiße und schneller ersetzt werden müsse, wurde zurückgewiesen. Klar, im Regelsatz ist alles enthalten! Als ob die wahre Unzulänglichkeit des Regelsatzes nicht bekannt sei! Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Klage beim Sozialgericht Chemnitz und wandte ein, dass er die stark verschleißende Kleidung mehrjährig verwenden müsse, weil er aus dem Regelsatz keinen Ersatz beschaffen könne und Unterwäsche, Socken oder Handtücher aus „zweiter Hand“ nicht zuzumuten seien.

Im eiskalten, kleinkariertesten Juristendeutsch ging es hin und her und her und hin, was ich hier nicht im Einzelnen zerpflückt wiedergeben möchte. Als unanfechtbarer Beschluss hat nun Bestand, dass es nach Auffassung des Senats nicht menschenunwürdig ist, gereinigte und von den genannten Trägern auf weitere Tauglichkeit geprüfte gebrauchte Unterwäsche, Socken und Handtücher zu tragen beziehungsweise zu nutzen. Wie ist es denn mit den Zahnbürsten Verstorbener? Die brauchen ihre oralen Reinigungsgeräte ja nicht mehr! Sollen die jetzt auch in den Sammelstellen der Wohlfahrtsverbände gelagert und an Bedürftige verteilt werden? Was ist überhaupt mit deren Unterhosen? Es soll ja auch Menschen geben, die gebrauchte Damenunterwäsche kaufen und sich an deren betörendem Duft ergötzen! Nun mal Spaß und Sarkasmus bei Seite: Ich finde, dass dieses Urteil einen gewaltigen Rückschritt bedeutet, denn zu Zeiten der Sozialhilfe gab es meines Wissens stets einen Anspruch auf ladenneue Unterwäsche und Socken. Unter den Gesichtspunkten von Hygiene und Ekelfaktor ist das Ganze eine einzige Horrorvorstellung, die offenbar demütigen soll (Beschluss vom 11. August 2010, Aktenzeichen L7 SO 43/10 B ER)!

 

3. Letzte Woche Montag zeigte das Politmagazin „Fakt“ in einem sehenswerten Beitrag, auf welch absurde Weise in Hamburg Langzeitarbeitslose in einem „Übungssupermarkt“ wieder „an die Arbeitswelt gewöhnt“ werden sollen. Bei diesem Einkaufsvergnügen der besonderen Art ist alles Simulation. Ein Bildungsträger hat ein „Real Life Shopping“ eingerichtet. Hier machen Hartz-IV-Bezieher keine Ausbildung, sondern sollen „aktiviert“ werden und in den Bereichen Lager, Logistik und Einzelhandel „fit“ gemacht werden, damit im Idealfall „hinten ein Arbeitsplatz bei einer Firma generiert“ werde. Die Teilnehmer sollen dazu „aktiviert“ und motiviert werden, morgens früh aufzustehen und so zu tun, als ob sie pünktlich zur Arbeit gehen. Mit Hilfe von Kunststoffeiern und leeren Schachteln sollen Arbeitsabläufe eingeübt werden. Es wird mit eigens hergestelltem Geld „eingekauft“. Dabei können die, die am härtesten in der Realität angekommen sind, beim Einkaufenspielen mal so richtig aus dem Vollen schöpfen, damit es nachher in der Übungskasse brummt! Was vorne verkauft wird, wird hinten wieder reingestellt. Der Nutzwert der Beschäftigungstherapie ist offensichtlich noch nicht bei jedem Maßnahmeträger angekommen.

Lagerist Maibaum räumt vorne Verkauftes hinten wieder rein. Alles wird hin- und hergeschoben. Auf die Frage des Reporters, was er hier Anwendbares für die Praxis lerne, antwortet er: „Nichts!“ Glücklich ist Herr Maibaum ganz offensichtlich nicht. Er erzählt, dass ihm diese „Maßnahme“ von der Arge aufgeschwatzt, ja aufgedrückt wurde. Die Zuschauer werden sogar Zeugen einer gespielten Straftat, als die Kassiererin an der Kasse einen Kunden, der „mit falscher Währung bezahlen“ möchte, freundlich auf diesen Tatbestand hinweist. Ob sich die Protagonisten bei diesem „Realitätsspiel“ wohl dezent auf den Arm genommen fühlen müssen, wenn die Kassiererin Falschgeld von Falschgeld unterscheiden lernen soll, frei nach dem Motto: „Äh, das ist Falschgeld, noch falscher als das andere Falschgeld“? Hätte die simulierte Kassiererin nicht die simulierte Polizei holen müssen? Muss ich noch erwähnen, dass der Bildungsträger 800 Euro pro Nase und pro Monat bekommt und dass 45 Teilnehmer sich hier als Dummies abqualifizieren lassen sollen? Das ist Verschwendung von Steuergeld pur! Jetzt wissen wir endlich, wie und womit wir in den sechs Monaten „Aktivierungsphase“ für die Sklavenarbeit als gemeinnützige „Bürgerarbeiter“ vorbereitet werden. Vom simulierten Kaufmannsladen direkt zu Edeka? Wer sollte denn so einen Maßnahmeteilnehmer einstellen wollen? Der einzige „Sinn“ einer solchen Sinnlos-Tortur kann wohl nur sein, Hartz-IV-Betroffene systematisch zu zerstören und zu willfährigen Handlangern der Wirtschaft zu machen!

 

4. Brigitte Vallenthin, Sprecherin der „Hartz-IV-Plattform“, stellt gegenüber dem Informationsportal „Gegen Hartz“ fest, dass Ursula von der Leyen erneut gesteht, wie wenig sie von Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht hält, wenn sie das von den Verfassungsrichtern im Urteil vom 9. Februar 2010 eindeutig als „materielle Voraussetzungen“ bezeichnete „Grundrecht eines menschenwürdigen Existenzminimums“ schon jetzt auf Chipkarten-Almosen herunterrechnet. Obendrein missachte die Arbeitsministerin damit das als „unverfügbar“ festgeschriebene Grundrecht auf eine „eigenständige Bedeutung“ der „Würde jedes Einzelnen“. Die Bundesregierung hat vom Bundesverfassungsgericht den Auftrag bekommen, zur Ermittlung des Anspruchsumfangs alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen und ab 1. Januar 2011 neu festzulegen. Doch werden diese Zahlen voraussichtlich erst im Oktober dieses Jahres vorliegen.

Sozialgerichtstagsmitglied Rüdiger Böker errechnete auf Basis der alten EVS-Zahlen sowie sämtlicher sonstigen Vorgaben der Verfassungsrichter einen Hartz-IV-Bedarf von monatlich 631 Euro. In ihrem Buch „Ich bin dann mal Hartz IV“ kommt Brigitte Vallenthin zu einem ähnlichen Ergebnis. Bereits 2007 errechnete sie in ihrer Musterklage transparent und realitätsgerecht – nach marktrealer Kostenlage und nicht wie die Bundesregierung nach Kassenlage – einen menschenwürdigen Mindestbedarf von 674,23 Euro. Echtes Leben ist nämlich teuer! Daran können nicht die Erwerbslosen schuld sein. Die Regelsätze müssten also beinahe verdoppelt werden, sollte dem Anspruch des Bundesverfassungsgerichtes Genüge getan werden! Ich höre schon den Chor der Widersacher laut kreischen und das Lohnabstandsgebot anmahnen.

 

5. Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der „Tageszeitung“, beschreibt, dass es offenbar ein Geheimnis bleiben soll, wie der Wohlstand in diesem, unserem Lande verteilt ist, wie ein Land einfach wegguckt! Denn nirgends wird eindeutig erfasst, über wie viel Vermögen und Einkommen die reichen Bundesbürger verfügen. Das ist natürlich kein Zufall. Dieser Datenmangel wird zudem geschickt kaschiert, denn regelmäßig erscheinen seriös anmutende Vermögensberichte. Sie scheinen es aber auch nur zu sein! Ebenso wie verhindert wird, dass die Reichen in Deutschland bezüglich ihrer Steuerhinterziehungen überprüft werden, soll nicht ans Tageslicht kommen, wie der Wohlstand verteilt ist. Eine solche Verteilungsdiskussion soll unbedingt vermieden werden. Nach dem akribischen „Weltreichtumsbericht“, den die US-Investmentbank Merrill Lynch und die Beratungsfirma Capgemini jährlich erstellen, soll es 2009 in Deutschland 861.500 Millionäre gegeben haben, 2008 waren es angeblich nur 809.700. Das sieht auf den ersten Blick wie eine echte Statistik aus, bis bei der „Methodik“ die „Schätzungen“ ins Auge fallen, wo bei der sogenannten „Kurvenmethode“ nichts mehr seriös erscheint, weil alle „Berechnungen“ vollkommen andere Zahlen ergeben.

Selbst das Statistische Bundesamt, das in einer Einkommens- und Verbrauchsstichprobe fast 60.000 Haushalte befragt, hört bei Großverdienern mit über 18.000 Euro netto monatlich auf zu fragen. Tja, die Reichen zeigen eine gewisse Scheu, über ihr Einkommen und ihr Vermögen freiwillig Auskunft zu geben! Weil auch Spitzenverdiener Steuern zahlen müssen, müssten doch hier klare Zahlen zu ermitteln sein. Aber gerade Unternehmer, Selbständige und Freiberufler können sich leicht fürs Finanzamt arm rechnen. Auf diese Weise kommt dann ein so niedlicher Widerspruch zustande, dass zwar 52 Prozent der Deutschen zur Miete wohnen, bei den Finanzämtern jedoch kaum Mieteinnahmen versteuert werden, weil Mehrfamilienhäuser eigentlich nur Kosten verursachen können und keinerlei finanzielle Gewinne einbringen! Da die Vermögensteuer seit 1997 nicht mehr erhoben wird, haben die Finanzämter über das Gesamtvermögen der Reichen keine Übersicht mehr. In Deutschland gibt es einen Armuts- und Reichtumsbericht, der 226 eng beschriebene Seiten umfasst. Den Reichen werden hierin nur zehn Seiten gewidmet, wohingegen der gesamte Rest sich mit den Armen beschäftigt. Wer finanziell arm, also unten ist, wird von allen Seiten mit Röntgenstrahlen durchleuchtet, muss alles offenlegen, wohingegen die Vermögenden im Dunkeln unerkannt und unertappt unter sich bleiben wollen. Klar ist das politisch so gewollt!

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
Der Heiße Herbst beginnt am Mittwoch, dem 8. September 2010,
um 13 Uhr mit einer Großdemonstration am
Burgplatz in Braunschweig.
 
Die Bremer Montagsdemo feiert am Samstag, dem 11. September 2010,
in den Neustadtswallanlagen (am Südbad) in der Zeit von
15 bis 21 Uhr ihr Spätsommerfest.
 
Gefasel von Recht und Gesetz: Bundespräsident und SPD-Vorsitzender müssen eine politische Entscheidung gegen Volksverhetzung
treffen („Süddeutsche Zeitung“)
 
Sarrazin gekippt: Wenn ein Bundesbanker auf der Bundespressekonferenz ein Buch mit deutlich rechter Schlagseite vorstellt, kann er dies
kaum als Privatmann tun („Spiegel-Online“)

Na bitte, geht doch...

Bremer Marktplatz mit Roland und Altem Rathaus
...und ’n beten scheev hett Gott leev! (Webcam Bankhaus Neelmeyer)

www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz