708. Bremer Montagsdemo
am 04. 11. 2019  I◄◄  ►►I

 

Weg mit den Hartz-IV-
Armutsgesetzen!

Harald Braun1. Seit 20 Jahren arbeiten die Bundesregierungen an der Zerschlagung des bisherigen So­zial­ver­si­che­rungs­sys­tems. Schrö­der/Fi­scher und Merkel/Müntefering haben den Abbau der Sozialleistungen im Interesse des internationalen Finanzkapitals forciert: Sie haben Hartz IV, Niedriglöhne, Minijobs und Leiharbeit durchgesetzt und das Lohn- und Rentenniveau so herabgesenkt, dass die Armut gewaltig gestiegen ist.

Die Hartz-Gesetze sind untrennbar mit einem menschenunwürdigen Sanktionsregime verbunden: Wer nicht pariert, kriegt keine Stütze. Die Jobcenter können Leistungsempfängern nahezu beliebige Auflagen machen. Wenn diese nicht erfüllt werden, können die Leistungen vollständig gestrichen werden – sogar dann, wenn das zum Verlust der Wohnung führt. Der Anspruch auf eine existenzsichernde Geldleistung beruht aber unmittelbar auf der Garantie der Menschenwürde im Grundgesetz.

Bisher hat das Bundesverfassungsgericht in zwei Urteilen klargestellt, dass „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 Grundgesetz jedem Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben als unerlässlich zusichert“ und dass dieses Existenzminimum unverfügbar sei.

Bei dem morgen anstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit der Hartz-IV-Sanktionen geht es um die Frage, ob sie gegen das Menschenwürdeprinzip verstoßen oder nicht. Es ist eher unwahrscheinlich, dass es in dem Urteil zur vollständigen Abschaffung von Sanktionen kommt, sonst würde Hartz IV nicht mehr funktionieren. Es kann sein, dass das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen beschränken wird. Insofern wird das Urteil für die Lebenssituation von fast sechs Millionen Menschen im Hartz-IV-Bezug eine erhebliche Relevanz haben.

Für die Montagsdemonstranten war von Beginn an klar: Hartz IV verstößt gegen die Menschenwürde, gegen Menschenrechte und ist grundgesetzwidrig! Nicht umsonst macht die bundesweite Montagsdemonstrationsbewegung seit August 2004 Front gegen die Hartz-Ge­set­ze und leistet aktiven Widerstand. Die bundesweite Montagsdemonstrationsbewegung setzt nicht auf Entscheidungen von Gerichten, Experten, Wahlen und Regierungsbeschlüsse. Wenn dies erfolgversprechend wäre, hätte es die Hartz-Ge­set­ze nie geben dürfen. Wir setzten auf den aktiven und organisierten Widerstand und den Druck von Protesten auf der Straße.

So sind die Erwartungen der Montagsdemonstranten an eine richtungsweise Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht zu Gunsten der Hartz-IV-Betroffenen nicht sehr hoch. Interessant ist aber in jedem Fall, wie und mit welchen Argumenten das Bundesverfassungsgericht den mit den Hartz-Gesetzen staatlich verordneten Zwang, jede Arbeit zu jedem Lohn anzunehmen, und die Sanktionierung des Existenzminimums bis zu 100 Prozent für verfassungskonform zu erklären versucht.

Wie ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, dass verschiedene für die Allgemeinheit geltende Gesetze für Hartz-IV-Be­trof­fene nicht mehr gelten sollen? Sicher ist jetzt schon: Wir werden weiterkämpfen, bis die Hartz-IV-Ar­muts­ge­setze vom Tisch sind! Wir brauchen die sofortige Einführung einer Mindestsicherung von gegenwärtig 1.050 Euro! Schluss mit den menschenunwürdigen Sanktionen!

 

2. Es gibt eine klare Absage an solche Sanktionen durch die Betroffenen bei einer Umfrage des Beratungsvereins „Tacheles“. In Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung am 15. Januar 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht allen Verfahrensbeteiligten eine Reihe von Fragen zu den Folgen und Wirkungen der Sanktionen vorgelegt. Diesen Fragenkatalog hatte der Verein „Tacheles“ in eine On­line-Be­fra­gung umgesetzt, an der im Ergebnis über 21.000 Personen teilgenommen haben, davon rund 17.000 Leistungsbeziehende, rund 3.500 So­zial­ar­bei­ter(in­nen) und An­wäl­t(inn)e(n) sowie etwa 1.500 Job­cen­ter-Mit­ar­bei­ter(in­nen).

Neben der Befragung konnten die Teilnehmenden ihre Erfahrungen und Position mit den Sanktionen direkt dem Bundesverfassungsgericht mitteilen. Von dieser Möglichkeit haben über 6.000 Menschen Gebrauch gemacht. Diese Rückmeldungen sind berührend, aber auch erschreckend, da sie die Wirkung, die Verzweiflung der Betroffenen authentisch wiedergeben. Auch diese Unterlagen wurden Teil des Verfahrens und an das Bundesverfassungsgericht weitergereicht. Damit wurden erstmalig die Rückmeldungen einer Vielzahl der von Rechtsfragen Betroffenen unmittelbar dem Verfassungsgericht weitergereicht.

Zu den Ergebnissen der Onlinebefragung: 86,9 Prozent aller Befragten hielten Sanktionen für „nicht geeignet“, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80 Prozent der Umfrageteilnehmer(innen) zu schlechter entlohnten und prekären Jobs. Fast genauso viele (79,2 Prozent) sehen eine konkrete Disqualifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn. Dass Sanktionen auch ganze Haushalte, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, treffen, sehen 83,9 Prozent der Befragten. Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9 Prozent alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister.

Weit über die Hälfte (64,9 Prozent) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben, und 69,6 Prozent haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren. Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3 Prozent) waren oder sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale. Mehr als jede(r) Zweite (56,3 Prozent) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben.

63,3 Prozent aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5 Prozent eine „Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung oder Belastung“ an. Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40 Prozent der Teilnehmenden. Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4 Prozent der Befragten. Mehr als jeder Dritte (38,0 Prozent) erlebte „rechtswidriges oder willkürliches Verhalten“ durch die Jobcenter.

Zu diesem Befund ergänzt Harald Thomé vom Verein „Tacheles“: „Diese Zahlen spiegeln massive Menschenrechtsverletzungen wider. Sanktionen dürfen niemals zu Wohnungs- und Energielosigkeit oder gar dem Wegfall der Krankenversicherung führen. Sie belegen, dass die Leistungsberechtigten nicht arbeitsunwillig sind, aber nicht die notwendige Unterstützung durch die Jobcenter erhalten.“

Harald Braun
 
Gerechtigkeitslücke: SPD will zwei bis vier Milliarden Euro ohne Bedürftigkeitsprüfung an Grundrentner ausschütten, aber bedürftige Grundsicherungsempfänger sollen keinen Cent mehr bekommen („Spiegel-Online“)
 
„Ist der Staat zu hart zu den Schwachen?“: Wie war es möglich, diese Sorge in Politk, Justiz und Medien 15 Jahre lang zu unterdrücken? („Die Welt“)
 
Künftig maximal 30 Prozent Kürzung: „Abzüge um 60 oder sogar 100 Prozent sind mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren(„Spiegel-Online“)
 
„Einschätzungsspielraum zur Zumutbarkeit ist beschränkt“: „Die Menschen­würde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren“ (Bundesverfassungsgericht)
 
Auch in der Praxis : „Mitwirkungspflichten dürfen nicht zur Bevormundung, Erziehung oder Besserung missbraucht werden“ („Spiegel-Online“)
 
„Krachende Lektion in Menschenwürde“: „Die Politik muss vollständig Schluss machen mit den demütigenden Sanktionen(„Frankfurter Rundschau“)
 
Sanktionen werden unwirtschaftlich: Jobcenter haben mehr Aufwand, wenn sie stärker auf Einzelfälle eingehen müssen („Die Welt“)
 
Hohn und Spott: „Den Opfern von Krieg und Verschissmuss(„The Guardian“)

 

Die Halbzeit der Regierung

Und wenn er kocht, der Nazitopf,
Wissen wir: Fisch stinkt von Kopf.“


Mit schwarzer Null, in Kriegen Waffen,
Aus der schönen BRD
Wollten manche alles schaffen –
Geschaffen wurde AfD.

Geschaffen wurden schwarze Schafe,
Die verbreiten Hass und Trug.
Ja, wir könnten alles schaffen,
Wäre hier kein Selbstbetrug!

Der Selbstbetrug von den Parteien,
Die noch glauben, sie regieren,
Die jetzt rennen und auch eilen.
Damit sie keine Zeit verlieren,

Rennen sie wie echte Zombies
Hinterher den Wählerstimmen
Und den Zeiten, da die Lobbys
Konnten alles hier bestimmen.

Sie wollen nicht die Wahrheit sehen:
Vorbei ist’s mit den fetten Jahren,
Die schwarzen Nullen müssen gehen –
Die Speicher, leer, sind ohne Waren.

Keine Vorräte geschaffen
Für die Bildung, für die Alten,
Nur gezüchtet braune Schafe
Und die Kriege mit der Nato.

Die Verbote und Sanktionen,
Die von „Freunden“ oben kommen,
Sie zerstören die Nationen,
Der Betrug ist hier willkommen!

Solche Freunde zu verlassen
Ist jetzt hier der einz’ge Weg:
Erde retten, Frieden schaffen –
Fremdenhass geht dann auch weg.

Valentina Schneider
 
Rassismus im Amt: Richter hält Slogan „Migration tötet“ für „historisch
belegt“, „Volkspolizei“ posiert vor rechter Parole („Spiegel-Online“)

 

Dem Staat die Menschenfeind­lichkeit ausgetrieben

Gerolf D. BrettschneiderWenn Menschen nicht weiterwissen, greifen sie zurück auf knappe Glaubenssätze. Damit stützen sie ganze Denkgebäude. Die Architekten von Hartz IV beispielsweise, voran Sozialdemokraten wie Schröder, Müntefering oder Clement, konnten sich zur Begründung, warum Arbeitslose unter existenziellen Druck gesetzt werden müssten, mit den Christdemokraten auf einen besonders mageren Glaubenssatz einigen, der sogar noch aus der Bibel stammt: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Es gebe „kein Recht auf Faulheit“, glaubte der Kanzler. Die „Wettbewerbsfähigkeit“ müsse „gestärkt“ werden, glaubt die Kanzlerin.

Dem sonst so wortreichen und -mächtigen Ex-Bundesrichter und Neu-Ko­lum­nis­ten Thomas Fischer wiederum fiel zum Hartz-IV-Regelsatz bisher allein die karge Feststellung ein, ob dieser hoch genug ist, sei eine „philosophische Frage“. Solch entrückter Glaube ist erstaunlich, schließlich haben Wohlfahrtsverbände ausführliche Untersuchungen darüber vorgelegt, welche tatsächlichen, weitaus höheren Ausgaben für alltägliche Lebensbedarfe entstehen. Dass diese in großem Umfang aus Brottafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern gedeckt werden müssen, widerlegt doch den Glauben an ausreichend Sozialstaatlichkeit. Linke glauben ja, am Niedriglohn wolle sich jemand bereichern.

Die Verfassungsrichter hingegen, die jetzt mit knapp 15 Jahren Verspätung die zentrale Stütze des Hartz-IV-Unrechtsbauwerks wegbaggerten, ließen es bei der Frage, ob es nicht verbotene Zwangsarbeit ist, wenn das Nichtantreten zu amtlich vermittelter Niedriglohnarbeit oder verordneter Zeitvertreibsmaßnahme mit Entzug sämtlicher Leistungen zum Lebensunterhalt sanktioniert wird, mit der dürren Feststellung bewenden, ein solcher Verstoß sei „nicht erkennbar“ (Randnummer 150). Das ist kaum zu glauben, hat doch der Sozialrechtler Harald Thomé für sie entsprechende Schicksale zuhauf gesammelt und die Herkunft der Sanktionsparagraphen über die alte Sozialhilfe aus dem Armenrecht und der Arbeitspflicht in Nationalsozialismus und Kaiserzeit in einer Expertise dargelegt.

Zu verstehen ist diese unbegründete richterliche Feststellung nur als jene eine Folgerung, die eben nicht gezogen werden darf. Das Phänomen der Zwangsarbeit, bis zur Existenzvernichtung durchgesetzt, muss der faschistischen Vergangenheit vorbehalten bleiben. Heute würde es mit dem höchsten der schönen Glaubenssätze kollidieren, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist. So taten die Richter das Nötige und untersagten mit Sofortwirkung den überwiegenden oder gar vollständigen Leistungsentzug: Der Glaube des Gesetzgebers an eine helfende Wirkung solcher Sanktionen sei wissenschaftlich unbelegt. Erst mit diesem Urteilsspruch hat das Verfassungsgericht dem bundesdeutschen Staat endlich die auf die Gruppe der Arbeitslosen bezogene Menschenfeindlichkeit ausgetrieben.

Es bleibt die Ungeheuerlichkeit, dass Sozialdemokraten einen solchen Verfassungsbruch verübt haben. Uwe Schmidt von der Bremer SPD sprach sich 2017 vor seiner Direktwahl in den Bundestag gegen Sanktionen aus und stimmte anschließend dafür. Sanktionierte wurden traumatisiert durch Obdachlosigkeit und Verlust aller sozialen Bezüge. Hartz IV macht krank. Millionen Menschen wurden durch die Hartz-IV-Tretmühle gedreht, weitere Millionen, eine ganze Generation, zu ständigem Lohnverzicht gedrängt. Hartz IV macht Angst. Ob sie die Wahl­stim­men der Betroffenen jemals wie­der­ge­win­nen kann, ent­schei­det sich wesentlich da­ran, ob die SPD den ob­rig­keits­staat­li­chen Sank­tio­nen jetzt ein Ende be­rei­tet. Das muss sie ihren christdemokratischen Kumpanen abfordern als Preis für ein Fortsetzen der Koalition.

Gerolf D. Brettschneider (parteilos)
 
Bundesagentur kassiert Sanktionsbescheide für alle: Ende November kommt eine Übergangslösung, nächstes Jahr eine gesetzliche Neuregelung („Spiegel-Online“)
 
Warum Meldeversäumnis sanktionieren: Wenn Lebendkontrolle erforderlich ist, genügt Ausweisvorlage beim Verlängerungsantrag („Russia Today“)
Quo vadis, SPD: „Ein umfassendes Sanktionsregime
ist nicht der richtige Weg“ („Die Welt“)
 
„Piefig, unterwürfig, erpresserisch“: Akakka begeistert
eher so mittel („Spiegel-Online“)
 
Politik kommt immer zu spät: Der letzte Beschluss vor Überschwemmung des Rathauses war die Ablehnung eines Klimakrisenplans („The Guardian“)
 
Soll Trump doch bleiben: Wenn das Repräsentantenhaus eine Amtsent­hebung beantragt, gibt es später kein Pardon mehr („The Guardian“)
 
Schockschwerenot: SPD-Mitglieder wollen rote Saskia als neue Chefin – putschen die Seeheimer auf dem Parteitag? („Focus“)
 
Einstimmiger Beschluss: „Das sozioökonomische und soziokulturelle Existenzminimum muss jederzeit gesichert sein“ – dann darf es Sanktionen aber nur noch geben, wenn der Regelsatz erhöht wird („Die Welt“)
 
Die nächste Montagsdemo beginnt am 2. Dezember 2019
um 17:30 Uhr auf dem Hanseatenhof.
Spendenkonto: Jobst Roselius, IBAN: DE25 2011 0022 2837 7391 84,
BIC: PBNK DERR XXX (Postbank Hamburg)
 
Aktualisiertes – Druckfassung – Suchen – Vorwoche
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz