609. Bremer Montagsdemo
am 20. 03. 2017  I◄◄  ►►I

 

Weiß Martin Schulz, dass er
Sanktionen verharmlost?

Elisabeth GrafParteichef Martin Schulz hat vor dem SPD-Par­tei­tag in Berlin zwar seine Forderung nach zusätzlichen Leistungen für die Qualifizierung von Arbeitslosen bekräftigt, doch will er unbeirrt an den Hartz-IV-Sanktionen festhalten. Schulz behauptet allen Ernstes, dass es bei den Sanktionen „nicht um Schikanen“ gehe und sich „selbstverständlich auch Bezieher von Hartz IV“ an „bestimmte Spielregeln“ wie etwa verabredete Gesprächstermine halten müssten. Daher solle es bei den Sanktionen bleiben, wenn Leistungsbeziehende ihren Verpflichtungen nicht nachkämen.

Damit erteilt er den Forderungen der Linkspartei, die auf ein Ende der Sanktionen drängen, eine klare Absage. Weiß Martin Schulz eigentlich, wovon er da spricht? Normalerweise werden Bürger in Deutschland für Ordnungswidrigkeiten nicht derart hart bestraft, dass ihre Wohnung, ihre Nahrungsaufnahme, schlicht ihre Existenz auf dem Spiel stehen, dass ihnen Obdachlosigkeit mit einem Leben auf der Straße droht und ihre Kinder vom Jugendamt weggenommen werden. Das steht in gar keinem Verhältnis zu dem „Delikt“, hier soll wohl mit zweierlei Maß gemessen werden!

Eine Abkehr von Hartz IV sieht die Spitzenkandidatin der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, jedoch als Voraussetzung für eine Beteiligung ihrer Partei an einer Regierung. Offenbar weiß sie im Gegensatz zu Schulz, dass Hartz IV nichts anderes als den völligen Absturz in die Armut bedeutet, und dass die Angst davor prekäre Jobs und niedrige Löhne wesentlich befördert hat. Wer das nicht verändere, könne dieses Land nicht gerechter machen. Deshalb sei das für „Die Linke“ auf jeden Fall eine Bedingung.

Oskar Lafontaine wirft der SPD vor, dass von einer Abkehr der Agenda 2010 keine Rede sein könne, und betrachtet die Aussichten für ein rot-rot-grünes Bündnis im Bund eher skeptisch. Auch Grünen-Sozialexperte Wolfgang Strengmann-Kuhn kritisiert, dass Schulz den Langzeitarbeitslosen und Aufstockern die kalte Schulter zeigt, und fordert eine Abschaffung der Sanktionen, weil die Gewährung des Existenzminimums ein Grundrecht sei.

Seine Pläne für ein „Arbeitslosengeld Q“, mit dem sich ein paar ganz wenige Erwerbslose ihre Qualifikation verbessern können, die kann Schulz auch gern in der Pfeife rauchen, zumindest nicht das Brimborium darum machen, als ob es sich um ein Heilsversprechen für Erwerbslose handelte. Es ist herzallerliebst niedlich bis eher peinlich zu hören, es gehe ihm darum, dass jemand, der arbeitslos geworden ist, möglichst schnell wieder einen „guten Job“ bekomme. Wo will er den hernehmen? Bei der Leiharbeit, für die Hälfte des Lohns der Festangestellten, oder irgendwo sonst einen Teilzeit- oder Dumpinglohnjob finden auf dem von Altbundeskanzler Schröder anvisierten größten Niedriglohnmarkt Europas?

Das Geplapper, dass die Qualifizierung „präziser auf die individuellen Stärken und Schwächen des einzelnen Arbeitslosen ausgerichtet“ und gleichzeitig der Bedarf des regionalen Arbeitsmarktes im Auge behalten werden müsse, kommt einer Quadratur des Kreises nahe. Wie nett, wenn Schulz das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger auf 300 Euro pro Lebensjahr verdoppeln und „sachgrundlose“ Befristungen von Einstellungen beenden will!

Solche Vergünstigung kann wiederum nur denjenigen nützen, die überhaupt die Chance bekommen haben, vor dem Absturz in den Abgrund von Hartz IV Geld ansparen zu können. Von Leiharbeit, als Alleinerziehende, als Dumpinglöhner ist dies kaum möglich. Jetzt wird scheinbar für ganz wenige Ausnahmen eine Verbesserung geschaffen und gleichzeitig der Eindruck erweckt, als ob es sich um einen grundlegenden Fortschritt, eine tatsächliche Optimierung handeln würde. Der ganze Hype und Eiertanz, der um diesen Mann gemacht wird, ist überhaupt nicht nachvollziehbar und mir schlicht zuwider.

Laut Sarah Wagenknecht gibt es seit Langem eine Wechselstimmung in dem Sinne, dass sich die Mehrheit eine andere Politik wünscht, die sich mehr um sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit kümmere. Nun hat ausgerechnet Martin Schulz es geschafft, Adressat einer Wechselstimmung zu werden, indem er die Agenda 2010 ein kleines bisschen kritisiert und den Eindruck zu vermitteln sucht, dass er mit der Regierungspolitik der SPD in der Großen Koalition rein gar nichts zu tun habe. Ich finde, dass die SPD vor dem Hype um Schulz verdientermaßen auf ihre geradezu unterirdisch schlechten Umfragewerte gerutscht, aber damit mitnichten wieder bei ihren Wurzeln angekommen ist.

Wagenknecht kritisiert, dass Schulzens Vorschläge den Kern der Agenda nicht infrage stellen und weder die Altersarmut noch den großen Niedriglohnsektor eindämmen würden. Dennoch hätten nahezu alle Medien und die Arbeitgeberverbände die Inszenierung mitgemacht und sie dadurch überzeugend wirken lassen. Wagenknecht befürchtet, dass nach der Wahl das „böse Erwachen“ kommen könnte, wenn „Die Linke“ nicht so stark wird, dass sie eine echte Rücknahme der Agenda durchsetzen könnte. Mit einem „Arbeitslosengeld Q“ und einem Verbot „sachgrundloser“ Befristung werde kein Abschied von der Agenda-Politik eingeläutet. Ohne den Druck durch eine starke Linke gebe es wahrscheinlich wieder eine Große Koalition, oder die SPD versucht es unter Beteiligung der FDP.

Nur durch ein starkes Abschneiden der „Linken“ erhöhe sich der Druck auf die SPD, den Weg zu gehen, auf den wohl die meisten ihrer Wähler hoffen. Eine Koalition zwischen SPD und „Linken“ könne es aber nur geben, wenn Hartz IV in der heutigen Form abgeschafft werde. „Die Linke“ wolle eine ordentliche Arbeitslosenversicherung wiederherstellen. Der staatliche Zwang, auch untertariflich bezahlte oder Leiharbeit anzunehmen, müsse aufhören. Das kann aber wohl noch nicht alles gewesen sein, Frau Wagenknecht? Wie steht es mindestens mit der Abschaffung der Sanktionen, der Erhöhung der Grundsicherung auf ein auch im wirklichen Leben ausreichendes Existenzminimum und der Heraufsetzung des „löchrigen“ und ebenso viel zu niedrigen Mindestlohns?

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke

 

 

 

Dem widerstehen, was die freie Entfaltung des Lebens bedroht

Wolfgang LangeHeute ist Frühlingsanfang, herzlich willkommen! Mit dem Frühling beginnt in einigen Teilen der Welt auch das neue Jahr. So feiern die Kurden „Newroz“, und das „steht nicht nur für das Erwachen des Frühlings, der ein neues Jahr einläutet, sondern ebenso für die Erneuerung im Kreislauf des Lebens und dem damit verbundenen Widerstand gegen alles, was dieses Leben in seiner freien Entfaltung bedroht“. So heißt es im Aufruf zur Newroz-Demo am Samstag in Frankfurt am Main. Über 30.000 Menschen ließen sich trotz Verbot nicht abhalten, ihre Fahnen der PYD und der YPG-Befreiungsarmee in Rojava (der bisher stärksten Kraft gegen den faschistischen IS) sowie das Portrait des PKK-Vorsitzenden Öca­lan zu tragen.

Ich meine, dieser Widerstand, dieses „Frühlingserwachen“ gilt nicht nur für den Freiheitskampf der Kurd(inn)en! Es gilt für uns alle, ob nun durch Hartz-Gesetze, Entlassungen, Überausbeutung oder politische Verfolgung Betroffenen. Es gilt auch für den Kampf gegen die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. In diesem Sinn: Herzlichen Glückwunsch zum Frühlingsbeginn!

Die deutsche Regierung hat sich zum Komplizen des Faschisten Erdogan gemacht und das PKK-Verbot sogar noch verschärft, beispielsweise untersagt, PYD- oder YPG-Fahnen zu zeigen. Auch die Justiz ist alles andere als neutral. In einem Skandalverfahren wurde Ali Dogan in Berlin zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt als angeblicher Gebietsleiter der PKK in Bremen und Berlin. Dabei wurde ihm keine einzige Straftat vorgeworfen oder gar nachgewiesen!

Die deutsche Regierung unterstützt Erdogan nicht nur wegen des schmutzigen Flüchtlingsdeals, bei dem er ihr die Flüchtlinge vom Hals halten soll, sondern weil deutsche Konzerne wie Rheinmetall mit der Türkei riesige Profite machen. Die Waffen, mit denen das türkische Militär kurdische Siedlungen zusammenschießt, stammen zum größten Teil aus Deutschland. Dass die Bundeswehr dort stationiert ist, dient auch zum Durchsetzen der Interessen des deutschen Großkapitals. Die vorgegebene Empörung über Menschenrechtsverletzungen, Inhaftierungen oder die Ausschaltung der gesamten freien Presse ist nichts als Heuchelei!

Die deutsche Regierung macht in jeder Hinsicht das Geschäft für die Großkapitalisten in Industrie und Landwirtschaft. 5.600 Milchbauern mussten in den letzten zwei Jahren aufgeben, seit dem Sinken der Milchquote und dem nachfolgenden Preisverfall. Die Großmolkereien treiben sie in den Ruin. Massenentlassungen stehen auch im Bremer Raum an: bei LDW 110, bei der Lloyd-Werft 117, bei GHB 600 (137 auf jeden Fall), beim Windmühlenflügelbauer Senvion in Bremerhaven 370. Daimler-Chef Zetsche kündigt an, 50 Prozent der Arbeitsplätze würden in den nächsten 20 Jahren gestrichen.

Es gäbe keine Neueinstellungen mehr, aber immer mehr Leiharbeit und Auslagerung bei steigenden Stückzahlen. Immer mehr würden dadurch in Hartz IV gedrängt. Und was sagt Heilsbringer Schulz, der jetzt mit 100 Prozent Zustimmung auf dem SPD-Parteitag als Vorsitzender Gewählte? Letztes Jahr gab es mehr als eine Million Sanktionen, also Strafen, auch wegen „Ablehnung zumutbarer Arbeit“. Was wollen die uns denn alles zumuten? Der Zwang, unterbezahlte oder Leiharbeit anzunehmen, muss aufhören! Weg mit den Hartz-Gesetzen!

Der „Frühling“ zeigt sich auch beim Ausgang der Wahlen in den Niederlanden: Fast 50 Prozent bekam die Koalition von Ministerpräsident Rütte weniger an Sitzen – und da jubelt dieser Rütte, als ob er einen grandiosen Wahlsieg errungen hätte! Die niederländischen Sozialdemokraten kommen gerade noch auf neun Prozent. Faschist Wilders kommt nur auf 13 Prozent, dabei wurde er noch vor Kurzem in den Medien als großer Wahlsieger und kommender Ministerpräsident gehandelt. Von den jungen Leuten unter 25 Jahren wählten nur drei Prozent Wilders. Glückwunsch, das macht mir Mut!

Eine wirkliche, revolutionäre Alternative gab es nicht zu wählen. Der größte Wahlsieger sind die Links-Grünen – was zeigt, dass es auch in Holland einen Linkstrend gibt. Starten wir den Frühling also gestärkt: Lassen wir uns nichts gefallen! Kämpfen wir für die Abschaffung der Hartz-Gesetze, für den Erhalt unserer Arbeitsplätze, für die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, um Millionen Arbeitsplätze zu schaffen! Kämpfen wir gegen die Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, gegen die Zerstörung um noch höherer Profite willen – und dafür, dass die verantwortlichen Umweltverbrecher in den Knast kommen!

Wolfgang Lange (MLPD)
 
Dieses Jahr endet das Schweigen: Entscheiden die Verfassungsrichter noch vor den Wahlen, ob das Existenzminimum wegsanktioniert werden darf? („Tacheles Sozialhilfe“)
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz