578. Bremer Montagsdemo
am 25. 07. 2016  I◄◄  ►►I

 

Nahles will bei Arbeitslosen Schulden eintreiben, bis der Arzt kommt

Elisabeth Graf1. Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts war Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahr für jede(n) fünfte(n) deutsche(n) Schuldner(in) Hauptauslöser der finanziellen Notlage. Das ist kein Wunder, denn wer seine Arbeit verliert, macht schnell Schulden. Außerdem verhindern Schulden oder gar eine Privatinsolvenz oft, dass Arbeitslose wieder einen Job finden, da sich Arbeitgeber meist davon abgeschreckt fühlen, wenn sich ihr(e) Bewerber(in) in einem Insolvenzverfahren befindet. Um solche Vermittlungshemmnisse aufzulösen, werden verschuldete Hartz-IV-Beziehende von den Jobcentern zu Schuldnerberatern geschickt, die dann versuchen, sich mit den Gläubigern auf niedrigere Summen zu einigen.

Ganz anders verhält sich die Arbeitsagentur jedoch, wenn sie selbst die Gläubigerin ist und auf einen Teil ihres Geldes verzichten müsste, um überschuldeten Arbeitslosen zu helfen. Andrea Nahles hat nun offensichtlich einen neuen Plan ausgeheckt, wie sie Arbeitslose erneut bekämpfen kann: Völlig kontraproduktiv schreibt nun ein „Papier“ aus ihrem Hause der Bundesagentur vor, sich nicht mehr auf außergerichtliche Einigungen einlassen zu dürfen. Nahles konterkariert die Arbeit der Schuldnerberater und führt damit eine Vorgabe ihres eigenen Hauses zur Vermeidung von Privatinsolvenz ad absurdum.

Da das ALG II viel zu niedrig ist, verschulden sich immer wieder Menschen beim Arbeitsamt, beispielsweise mit einem Darlehen für einen Kühlschrank. Wer arbeitslos wird oder aufstocken muss, gerät verstärkt in die Schuldenfalle, auch beim Arbeitsamt. Um einer Privatinsolvenz vorzubeugen, versuchen Schuldnerberater, dass sich die Gläubiger mit weniger Geld zufrieden geben. Das geht allerdings nur, wenn alle Gläubiger mitmachen. Aber Andrea Nahles macht nicht mit: Statt beim Arbeitsamt verschuldeten Erwerbslosen einen Teil der Schulden zu erlassen, beauftragt sie ein hauseigenes Insolvenzunternehmen damit, alles einzutreiben.

Es klingt nur noch zynisch, dass es Ausnahmen für diejenigen geben soll, deren Existenz dadurch gefährdet würde. Als ob das in der Situation nicht eigentlich schon alle beträfe! Allerdings wird es für Arbeitslose sehr schwer sein, selbst eine derart naheliegende starke Belastung zu beweisen, weil für einen solchen Beleg allen Ernstes ein Arzt eingeschaltet werden muss, der ein entsprechendes Attest ausschreibt.

 

2. Wir lesen es überall und mit zunehmender Häufigkeit, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland immer weiter auseinandergeht, ohne dass sich daran im Mindesten etwas bessert oder eine Änderung auch nur im Ansatz geplant wäre. So ist es auch kein Wunder, dass sich die Zahl der in Altersarmut lebenden Rentner(innen) seit 2006 vervierfacht hat. Konkret bedeutet das: Wer als Alleinstehende(r) weniger als 979 Euro netto im Monat zur Verfügung hat, ist arm. Die „3sat“-Sendung „37 Grad“ hat Rentenbeziehende begleitet, die ums tägliche Überleben kämpfen und bis zum Schluss schuften. Das funktioniert ganz gut, solange sie bei stabiler Gesundheit sind. Aber wehe, wenn arme Rentner(innen) im reichen Deutschland einmal krank werden!

Da ist zum Beispiel die 66-jährige gelernte Bäckereiverkäuferin Heidi S. aus Berlin, die schon seit 33 Jahren in ihrer kleinen Anderthalbzimmerwohnung lebt, für die sie 557 Euro Miete zahlen muss. Von ihren 821 Euro Rente bleiben noch genau 264 Euro übrig, wovon sie aber noch Strom, Telefon, die Monatskarte für Bus und Bahn sowie die Rundfunk- und Fernsehgebühren bezahlen muss. Zum Leben bleibt kaum noch etwas. Um „Grundsicherung“ zu erhalten, müsste sie in eine günstigere Wohnung umziehen, was in Berlin mit weniger als zwei Prozent Leerstand kaum möglich ist. Außerdem verlöre sie ihr gewachsenes soziales Umfeld. So arbeitet Heidi für 50 Stunden im Monat in einer Bäckerei zum Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde und manchmal auch als Aushilfskraft für eine Imbissbude bei großen Veranstaltungen.

Da ist auch der frühere Steuerberater Hans-Jürgen, der auf dem Land bei Hamburg lebt. Den heute 70-Jährigen hat eine Ehekrise mit 55 Jahren aus der Bahn geworfen. Er wurde geschieden, verlor seine Arbeitsstelle und blieb lange arbeitslos. Mit 60 drängte ihn die Arbeitsagentur dahin, Rente zu beantragen, wofür er empfindliche Abschläge hinnehmen musste. Weil seine Rente von 800 Euro natürlich nicht ausreicht, fährt er sonntags Zeitungen aus. Dafür muss er um 3 Uhr nachts aufstehen, ist um 7 Uhr fertig und hat damit ganze 39 Euro verdient. Der Bürgermeister hat ihm einen 450-Euro-Job besorgt. Hans-Jürgen nimmt im Dorf alle anfallende Arbeit an. Er ist froh, dass er noch arbeiten kann, hat aber Angst davor, was sein wird, wenn er das alles eines Tages gesundheitlich nicht mehr schaffen kann.

Der 65-jährige Wolfgang H. studierte in der DDR Maschinenbau, arbeitete bis zur Wende als Ingenieur und Abteilungsleiter, musste danach als Versicherungsberater neu durchstarten. Als Selbständiger schloss er eine private Zusatzrentenversicherung ab, überstand zwei Scheidungen, sorgte für seine drei Kinder. Als seine Mutter 2003 zum Pflegefall wurde, kam er mit seiner Schwester für das teure Heim der Mutter auf, was aber schon nach kurzer Zeit seine finanziellen Möglichkeiten überstieg. Erst löst er seine private Rentenversicherung auf, dann pflegt er seine Mutter noch zwei Jahre zu Hause. Nach ihrem Tod wurde Wolfgang H. selbst krank und musste eine Auszeit nehmen. Sein erneuter Anlauf verlief schleppend, es folgten zwei Unfälle. Er machte eine Umschulung zum Energieberater. 2015 ging er mit 799 Euro in Rente und bekam wegen seiner bei 350 Euro liegenden Krankenversicherung eine Aufstockung von 300 Euro. Da seine Miete bei 495 Euro liegt und er als Energieberater mit rund 100 Euro kaum über die Runden kommen kann, ist er auf die Lebensmittel der „Tafel“ angewiesen.

Immer mehr Menschen merken heute spätestens im Alter, dass ihre Renten ebenso wenig zum Leben ausreichen wie die Pseudo-Grundsicherung. Dabei soll es im Jahre 2030 nur noch 43 Prozent des Nettogehaltes als Rente geben. Das ist eine Schande in diesem reichen Land!

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke

 

Ursachen von nicht organisiertem Einzelterror

Helmut MinkusHier in Deutschland leben wir fast noch in einer Demokratie. Das bedeutet auch: Ich kann auf dem Bremer Marktplatz und auch sonst überall in Deutschland öffentlich meine Meinung sagen, zum Beispiel über Wirtschaftskriminelle, Politiker und andere Missstände. Wenn ich also Frust habe, weil ich mich vielleicht von der Welt betrogen fühle, kann ich davon auf der Montagsdemo berichten. Auch Sie haben hier noch die Möglichkeit, Ihre Meinung zu sagen, ohne Angst haben zu müssen, verhaftet zu werden.

Wir sind es seit Jahrzehnten gewohnt, in einer Wirt­schafts­wun­der-, Wachs­tums-, Leis­tungs- und Wohl­stands­ge­sell­schaft zu leben, nach Perfektion, Geld und Anerkennung zu streben und irgendwo einer der Besten zu werden. Viele Menschen machen das mit ihrem Körper: Sie gehen etwa in ein Bodybuilding- oder Fitnessstudio, sie wollen möglichst schön und stark sein. Andere spielen Fußball bis zum Kollaps und lassen sich von Managern für Millionen verkaufen.

Wieder andere wollen in irgendeiner verrückten Sportart die Besten der Welt werden, lassen sich dafür kaputt trainieren, gehen zu Olympiaden und werden unter Drogen (Doping) gesetzt. Das ist zwar verboten, macht aber reich, und es werden Kompromisse gefunden mit jenen, die dahinter stecken: gigantische Geschäftemacher, Manager, Funktionäre, die alle zu Millionären werden wollen und mit dem Sport selbst nicht viel zu tun haben. Nur mit den Besten kann die beste Werbung gemacht werden, der größte Gewinn und auch die größte „legale“ Betrügerei.

Der größte Teil der Menschen wird jedoch überwacht, beurteilt und bewertet: vom Arbeitgeber nach seinen Fähigkeiten, in der Gesellschaft nach Gehalt, Haus, Yacht oder Auto. Er wird registriert, gemeldet, erfasst von Ämtern, Behörden und Banken; befragt und ausgewertet von Marktforschern und Marketingexperten nach seiner Kaufkraft; versorgt und geschützt durch Polizei, Ärzte, Apotheker und Versicherungen.

Wir fragen uns: Wie können solche Anschläge in unserer fröh­li­chen Schüt­zen­fest­ge­sell­schaft möglich sein? Wir sind erschrocken. Viele Menschen haben Angst, weil sie ahnen, spüren, wissen, dass keine Sicherheit garantiert werden kann. Trotzdem werden Gesetzesänderungen gefordert, und es wird verzweifelt bei unseren so oft gescholtenen Politikern um Hilfe gerufen. Doch das wird keine Lösung bringen. So sagt zum Beispiel Innenminister Thomas de Maizière: „Kein Rechtsstaat der Welt ist in der Lage, hundertprozentige Sicherheit zu garantieren“.

Es wird wahrscheinlich so weitergehen: Tote und Verletzte werden gezählt, Ursachen gesucht, über Motive wird gerätselt. Experten analysieren Lebensläufe von Amoktätern, um herauszufinden, warum sie das getan haben: „in einem Anfall von Geistesgestörtheit mit einer Waffe umherlaufend, blindwütig getötet“, so der „Duden“. Die Hauptfrage lautet also: Warum und wie sind sie geistesgestört geworden?

Die Lösungen liegen hier bei uns auf der Straße, für jeden sichtbar, vielfältig und frei wie unsere demokratische Ellbogen-, Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft, eingebettet und gut behütet in die für kaum jemanden spürbare Wirtschaftsdiktatur und den Konsumterror. So gibt es wahrscheinlich immer mehr Menschen, die etwas sensibler werden, sich von diesen selbstverständlich scheinenden Gegebenheiten überfordert oder betrogen fühlen und sie vielleicht nicht mehr so einfach hinnehmen können. Einige bedienen sich auf den freien Märkten mit Verblendung und Verhetzung, mit bewunderten Vorbildern, Drogen, Ballerspielen und echten Waffen. Alles ist legal oder illegal zu haben, wenn nicht über die Theke, dann im „Darknet“.

Ob die Ursachen für einen potenziellen Amoktäter real, das heißt auch für Außenstehende wahrnehmbar sind – wie bei gemobbten Schülern oder Arbeitern am Rande der Sozialgesellschaft –, oder ob er seine frustrierende Situation „nur“ subjektiv empfindet, scheint dabei unerheblich zu sein. Die Auswirkungen beider Tätergruppen enden in vergleichbaren Katastrophen. Das Paradebeispiel für mich ist die Wahn­sinns­tat des German­wings-Pi­lo­ten. Auch ein scheinbar materiell gut gesicherter junger Mensch mit „Traumberuf“ kann so starke Existenz-, Versagens- oder Minderwertigkeitsängste entwickeln, dass er professionelle Hilfe sucht.

Dass er dann bei einem Psychiater landet, der ihm legale Drogen (Psy­cho­phar­ma­ka) gibt, ist der Beginn der zweiten Angst: entdeckt zu werden. Hat jemand das Problem, sich isoliert von der Gesellschaft zu fühlen, und es droht ihm der Ausschluss aus der letzten noch verbliebenen Gruppe, hier dem „Traumberuf“, dann führt ihn das in eine ausweglose Situation. Die Lösung solcher menschlichen Probleme sind mit Sicherheit nicht die bewusstseinsverändernden Drogen der Pharmaindustrie. Sie sind eher Auslöser für menschliche Tragödien. Die unfassbare Tatsache und Gemeinsamkeit aller Amoktäter der Welt lautet: Sie waren nahezu ausnahmslos in psychiatrischer Behandlung. Das ist nicht nur in Deutschland nachgewiesen.

Helmut Minkus (parteilos)
 
Mitgefühl statt Zwang: Die Flüchtlingspolitik der Offenen Tür wird Deutschland auf lange Zeit vor Terrorismus bewahren („Stern“)
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