569. Bremer Montagsdemo
am 23. 05. 2016  I◄◄  ►►I

 

Nahles will Hartz-IV-Beziehende
hungern lassen für Fehler
des Jobcenters

Elisabeth Graf1. Das sogenannte Sozialkaufhaus ist vom Lloydhof in die Violenstraße umgezogen und soll dort für wenig Geld hochwertige Secondhand-Artikel, Kleidung für Männer und Frauen sowie Wohnaccessoires, Kleinmöbel, Bücher und andere gut erhaltene Stücke im Angebot haben. Die Erlöse aus den Verkäufen sollen sozialen Projekten des „Vereins für Innere Mission“ zugutekommen. Das als „Fairkaufhaus“ bezeichnete Geschäft richtet sich mit seinem Angebot an finanziell Arme mit dermaßen wenig Geld, dass sie sich einen normalen Einkauf in üblichen Warenhäusern kaum leisten können.

Mit der Einrichtung solcher „Sozialkaufhäuser“ oder ebensolcher „Tafeln“, wo Ausgegrenzte die abgelegten Accessoires und Kleidungsstücke beziehungsweise „abgelaufenen“ Lebensmittel einer reichen Konsumgesellschaft verbilligt erwerben können, gesteht die Politik ihre eigene Verantwortungslosigkeit sowie die Tatsache viel zu niedriger Regelsätze ein, von denen niemand leben kann. In diesem Zusammenhang ist auch ein Interview mit Professor Stefan Selke über die „Armutsindustrie“ sehr aufschlussreich. „Sozial schwach“ sind Menschen ohne Anstand, Würde und Mitgefühl, aber sicher nicht Leute mit wenig Geld!

 

2. Im „Weser-Kurier“ las ich letzte Woche wieder einen dieser ärgerlichen Artikel über Erwerbslose, die ich persönlich nur als hetzerisch bezeichnen kann. Die Überschrift kommt ganz harmlos mit „Jobberater sollen sich mehr Zeit für Problemfälle nehmen“ daher. Dass die Bundesagentur Theater spielt, konnten wir uns alle schon immer gut vorstellen. In diesem Fall besucht das Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Raimund Becker, die Mannheimer Arbeitsagentur in der Rolle als Arbeitsloser.

Dabei hat er in der Rolle des Erwerbslosen natürlich gleich mehrere Probleme: Er braucht eine Arbeit, weil er seine Stelle als Lastwagenfahrer verloren habe, da ihm sein Führerschein wegen Alkohols am Steuer nun schon zum zweiten Mal abgenommen worden sei. Der „Jobsuchende“ könne sich auch vorstellen, wieder als Automechaniker zu arbeiten, obwohl er seine Ausbildung bereits im Jahr 1981 absolviert habe.

Auch wenn dieser Fall fiktiv ist, sei das Problem dahinter ein echtes, weil die Bundesarbeitsagentur bundesweit immer mehr Menschen mit „komplexen Problemlagen“ verzeichne. Schon die Hälfte der zu „Kunden“ euphemisierten Arbeitslosen sei davon betroffen. Sogenannte Hemmnisse bei der Vermittlung – wie Probleme mit Alkohol oder Drogen, Schulden, Krankheiten, Schwerbehinderung – seien vielfältig. Oft gehe es auch um Menschen, die nach langer Zeit in einem Unternehmen arbeitslos werden und deren Qualifikation nicht mehr dem aktuellen, komplexeren Berufsbild entspricht.

Nachdem also den Erwerbslosen zumeist subjektives Versagen durch „persönliche Gründe“ für ihre Erwerbslosigkeit unterstellt wird, wird nun auch noch behauptet: „Die Stellen sind da, aber die Leute passen nicht drauf“. Ich wüsste gern einmal, wie denn bitte schön all die unpassenden offiziell fast drei Millionen Erwerbslosen auf nur 437.000 offene Stellen verteilt werden sollen, ohne sie dabei nicht nur bildlich „zerkleinern“ zu müssen.

Als ob es Arbeit für alle gäbe! Wir sollen mal wieder für blöd verkauft werden, wobei den Erwerbslosen ein gesellschaftliches Problem als ihr ureigenes übergestülpt wird. Aber man höre und staune: Die Bundesagentur für Arbeit möchte das Vertrauensverhältnis zwischen Erwerbslosen und ihren „Berater(inne)n“ verbessern. Dafür sollen die Klient(inn)en zum Beispiel zu Beginn ihre Daten selbst eingeben, um so besser vorbereitet in das Gespräch zu gehen, das bestenfalls gleich im Anschluss erfolgen solle.

Die Frage, wer denn schon jemandem von seinem Alkoholproblem erzähle, den er kaum kenne, ist berechtigt – und wenn diese Person sogar nach eigenem Gutdünken sanktionieren darf, erst recht. Die vielen Erwerbslosen, die ich persönlich kenne, haben ganz andere Sorgen: Wer über 35 Jahre alt ist, hat das „Haltbarkeitsdatum“ schon deutlich überschritten, und das größte Problem ist leider, dass es all die vielen Stellen überhaupt nicht gibt, auf die sich die älteren, teilweise durch Krankheit oder Schwerbehinderung eingeschränkten Menschen unter Sanktionsandrohung sinnloserweise immer wieder neu „blind“ bewerben müssen.

 

3. Spezialdemokratin Andrea Nahles lässt meiner Meinung nach bei der Bekämpfung der Arbeitslosen wirklich nichts aus, womit sie diese um ihre Rechte bringen kann. In der ARD-Sendung „Report Mainz“ haben Arbeitsmarktexperten Alarm geschlagen, weil die von der Arbeitsministerin geplante Hartz-IV-Reform zu einer erheblichen Verschlechterung für viele Arbeitslosengeld-II-Beziehende führen wird. Am schlimmsten betroffen werden besonders Hartz-IV-Beziehende sein, deren Bescheide fehlerhaft sind.

Obwohl der Lapsus ganz klar bei der Arbeitsbehörde liegt, sollen Leistungen künftig nur noch unter bestimmten Voraussetzungen rückwirkend geltend gemacht werden können. Offenbar benötigen Hartz-IV-Beziehende künftig okkult schimmernde Glaskugeln in ihren Händen, um die fehlerhaften Bescheide vorausschauend sehen und auch bereits im Voraus beanstanden zu können. Selbst wenn die Widerspruchsfrist abgelaufen ist, können Betroffene bislang einen sogenannten Überprüfungsantrag stellen, mit dem Fehler dann bis zu einem Jahr lang rückwirkend korrigiert werden.

Arbeitsmarktexperte Professor Stefan Sell beanstandet, dass eine besonders kompliziert daherkommende Regelung in dem Gesetzentwurf zu einer unglaublichen rechtsstaatlichen Schweinerei führt. Damit würde Hartz-IV-Beziehende etwas weggenommen, was ihnen eigentlich zustehe. Schließlich gehe es hier um Regelleistungen, die der Staat zahle, damit das Existenzminimum gedeckt sei. Hartz-IV-Beziehenden wird durch eine falsche Entscheidung etwas weggenommen, was ihnen zur Deckung des Existenzminimums zustehe. Nun seien sogar Gerichtsurteile für einen Überprüfungsantrag erforderlich. Wir alle wissen aber, wie unendlich langsam die überlasteten Mühlen Justitias mahlen.

Für Sell handelt es sich um skandalösen Zynismus, wenn Hartz-IV-Be­zie­hen­den als Opfern, denen zu Unrecht Leistungen vorenthalten werden, gesagt werde: „Sorry, wir müssen aber die Jobcenter entlasten“. Offenbar haben sich Erwerbslose den schlimmsten Makel zukommen lassen, anders kann ich es mir nicht erklären, dass mit lauter Sondergesetzen, die einer Überprüfung nach dem Grundgesetz bestimmt nicht standhielten, diese Menschengruppe bis aufs Blut bekämpft wird. Auch Rechtsanwalt Dirk Feiertag aus Leipzig hält das Gesetz für einen Skandal.

In meinen Augen lügt das Bundesarbeitsministerin von Andrea Nahles ganz dreist, wenn es verharmlosend davon schwafelt, dass es sich bei den Veränderungen des betreffenden Paragraphen „nur“ um eine „klarstellende Anpassung“ der Regelung handele, die die „Rechtssicherheit“ erhöhen solle, und dass damit keine weitere Verschärfung beziehungsweise Einschränkung für die Leistungsberechtigten verbunden sei. Ungerechterweise gilt die verkürzte Frist allerdings nicht umgekehrt: Wenn Jobcenter eine „Pflichtverletzung“ feststellen, können sie bis zu vier Jahre rückwirkend dafür sanktionieren.

Diese Frist soll auch für eine neue Schikane gelten, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der „Formulierungshilfe“ ausführt. So sollen Jobcenter sollen auch Geld zurückfordern dürfen, wenn jemand „grob fahrlässig die Hilfebedürftigkeit aufrechterhalten“ habe. Behörden dürfen dann etwa einem Klienten schwammig unterstellen, beim Vorstellungsgespräch nicht ausreichend „mitgewirkt“ zu haben, und ihm wegen des vermeintlich „entgangenen Lohns“ vier Jahre lang die Grundsicherung kürzen oder streichen. Bereits gewährte Leistungen, auch Gutscheine und Sozialbeiträge, müssten dann in Geld zurückgezahlt werden.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 

 

Merkel will keine „falschen
Flüchtlinge“ aufnehmen

Harald BraunIn der Nacht zum 19. Mai 2016 eskalierte die Si­tua­tion im Flüchtlingslager Ido­meni an der grie­chisch-ma­ze­do­ni­schen Grenze. Verzweifelte Flüchtlinge nutzten einen Zugwaggon als Rammbock, um die Grenze nach Mazedonien zu öffnen. Die Polizei ging brutal mit Tränengas und Blendgranaten gegen die Menschen vor. Vier Flüchtlinge und zwei Polizisten mussten verletzt im Krankenhaus behandelt werden. Die Rebellion der Flüchtlinge in Idomeni ist vollkommen berechtigt. Sie ist eine Reaktion auf die katastrophale Situation infolge der reaktionären Flüchtlingspolitik.

Seit Monaten sitzen 54.000 Flüchtlinge in Griechenland fest. Die Flüchtlingslager sind zum Teil regelrechte Gefängnisse. Die sanitären Bedingungen, Essens- und Gesundheitsversorgung sind katastrophal. Menschen, die vor Krieg, faschistischem Terror oder Hunger geflohen sind, werden erniedrigt und wie Verbrecher behandelt. Als Reaktion auf wiederholte Fluchtversuche erklärte die griechische Regierung, das Lager in Idomeni werde bis Anfang Juni geräumt. Die Flüchtlinge würden in neue Lager in Nordgriechenland verlegt. Damit wird das Problem allerdings nur verschoben.

Unmittelbar vor ihrem Abflug in die Türkei am Sonntag verteidigte Bundeskanzlerin Angela Merkel den reaktionären Flüchtlingsdeal zwischen der EU und dem faschistoiden Erdogan-Regime. Das Abkommen sei auch „im Interesse der Flüchtlinge“, sagte Merkel, weil sie nicht mehr „in die Arme krimineller Schlepperbanden getrieben“ würden. Das ist reine Heuchelei. Es kommen lediglich nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland, Mitteleuropa und auch nach Griechenland. An ihren Zwischenstationen jedoch verschärft sich die Lage für die geflohenen Menschen zum Teil dramatisch.

Die von „Pro Asyl“ aufgedeckten schweren Menschenrechtsverletzungen der Türkei gegenüber Flüchtlingen interessieren Merkel nicht im Geringsten. Sie will sich in erster Linie darum kümmern, dass Erdogan seinen Part im Flüchtlingsdeal erfüllt. Dies tut er bisher nicht in der Weise, wie Regierung, Monopole und EU-Bürokratie es wollen. Hier macht Merkel sich „ernste Sorgen“. Erdogan schickt nämlich im Austausch gegen die aus Griechenland in die Türkei zurückgewiesenen Menschen „falsche“ Syrien-Flüchtlinge nach Deutschland und weitere mitteleuropäische Länder.

Statt der erwarteten qualifizierten und gut ausgebildeten Ingenieure, Ärzte und Facharbeiter kommen nach internen Informationen aus Regierungskreisen, die der „Spiegel“ zitiert, „auffällig viele Härtefälle“. Es seien schwere medizinische Fälle enthalten oder Flüchtlinge mit sehr niedriger Bildung. Die ganze zynische Menschenverachtung der reaktionären Flüchtlingspolitik kommt hier zum Ausdruck. Die reichen kapitalistischen Länder wollen nur gut ausbeutbare Flüchtlinge und Migranten zuwandern lassen und sie mit reaktionären Knebelparagraphen wie dem geplanten deutschen Integrationsgesetz disziplinieren. Älteren und kranken Menschen wird das Grundrecht auf Asyl abgesprochen.

Demokraten und Menschenrechtsorganisationen drängen die Bundeskanzlerin, in der Türkei gegen die undemokratische Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) Stellung zu beziehen. So forderte der HDP-Abgeordnete Ziya Pir Merkel auf, während ihres Türkei-Besuchs auch mit seiner Partei zu sprechen. Bisher ist das nicht geplant. Die HDP bezeichnete die von Merkel geäußerte „große Sorge“ als lächerlich. Tatsächlich gilt Merkels Sorge nicht den fortschrittlichen Abgeordneten und nicht dem kurdischen Befreiungskampf. Sie fürchtet die Verschärfung der Klassenwidersprüche in der Türkei: „Für die innere Stabilität jeder Demokratie ist es wichtig, dass alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen parlamentarisch vertreten sind“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Hierzulande dient Merkel natürlich den Konzernen und Banken, was die Schere zwischen Arm und Reich immer größer macht. Gleichzeitig versucht sie, die Widersprüche durch schöne Verpackungen wie die „Lebensleistungsrente“ und durch ihr neues Image als „Willkommenskanzlerin“ zu dämpfen. Das kann aber nur notdürftig verschleiern, dass die Regierung immer weiter nach rechts rückt. Merkel will eigentlich die Polarisierung vermeiden, es gelingt ihr aber nicht. In der Türkei ist sie in einem unlösbaren Widerspruch, denn sie braucht Erdogan für den „Flüchtlingsdeal“, um die Flüchtlinge von Deutschland und Mitteleuropa fernzuhalten.

Auf der anderen Seite kann sie die faschistoide türkische Regierung bei dem massiven Abbau bürgerlich-demokratischer Rechte und dem Vernichtungsfeldzug gegen den kurdischen Befreiungskampf und jede fortschrittliche oder revolutionäre Bewegung nicht offen unterstützen. Monopole und EU-Regierungen haben kein Interesse daran, dass es in der Türkei zu einer faschistischen Diktatur und zu einem Bürgerkrieg kommt. Das hat wirtschaftliche, politische und strategische Gründe. Gleichzeitig ist die Türkei zu einem neu-imperialistischen Land geworden, dass aggressiv seine Machtansprüche in der Region ausbaut und sich dabei auch mit der EU anlegt.

Die Bremer Montagsdemo solidarisiert sich gegen die Verfolgung der Abgeordneten und für die demokratischen Rechte der HDP in der Türkei. Kommt zur Demonstration am Samstag, dem 28. Mai 2016, um 14 Uhr am Hauptbahnhof!

Harald Braun
„Versuchsanstalt für Weltuntergänge“: Beinah hätten die Österreicher(innen)
einen Flüchtlingsfeind zum Präsidenten gewählt („Tagesspiegel“)
 
Alles kuscht, einer kämpft: Mit Streiks und Blockaden will ein Gewerkschaftsführer die französischen Arbeitsmarktreformen stoppen („Die Welt“)
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz