476. Bremer Montagsdemo
am 23. 06. 2014  I◄◄  ►►I

 

Erwerbslosigkeit soll an „Suchtproblemen“ liegen, nicht am Arbeitsplatzmangel

Elisabeth Graf1. Eine erwerbslose Schauspielerin wollte nicht länger auf Hartz IV angewiesen sein und begann deshalb eine schulische Ausbildung zur Logopädin. Ihre Eltern kamen für die Ausbildungskosten in Höhe von 23.400 Euro auf. Ein guter Weg, der hier neu eingeschlagen wurde, sollte man denken – doch das Jobcenter in Berlin sah das anders und strich prompt die Leistungen. Der Berlinerin soll vom Amt gesagt worden sein, dass sie erst nach einem Ausbildungsabbruch wieder Geld bekomme. Die Entscheidung sei damit begründet worden, eine solche Ausbildung könne nicht vom Jobcenter gefördert werden, weil die Hartz-IV-Behörde sich an das Gesetz halten müsse.

Die erwerbslose Schauspielerin will sich mit der absurden Entscheidung des Jobcenters nicht zufrieden geben und notfalls lieber nachts arbeiten gehen, als ihre Ausbildung abzubrechen. Eine ähnliche Entscheidung wurde einer jungen Mutter vom Jobcenter Essen mitgeteilt. Obwohl die 18-Jährige nur aufstockende Leistungen sowie die Kostenübernahme für die Erstausstattung der Wohnung beim Jobcenter geltend machen wollte, riet ihr das Amt zum Abbruch ihrer Ausbildung zur Kinderpflegerin, um den vollen Hartz-IV-Satz beanspruchen zu können. Willkommen in Absurdistan!

 

2. Eine Untersuchung des Deutschen Gewerkschaftsbundes kommt zu dem Schluss, dass mindestens die Hälfte aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher Schulden- und Suchtprobleme sowie psychosoziale Schwierigkeiten habe, von den Kommunen damit jedoch in den allermeisten Fällen alleingelassen werde. 2012 habe es gut 1,1 Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Bezieher mit Schuldenproblemen gegeben, von denen aber nur 32.500 eine entsprechende Beratung durch die Kommunen bekommen hätten. Von den geschätzt 450.000 Hilfebedürftigen mit Suchtproblemen erhielten nur 9.000 eine Beratung, von den 900.000 Betroffenen mit psychosozialen Schwierigkeiten wurden nur für 20.000 Personen kommunale Hilfen gemeldet.

Der Arbeitsmarktexperte beim DGB-Bundesvorstand, Wilhelm Adamy, kritisierte, die Defizite im Hartz-IV-System bestünden vor allem darin, dass das Fordern sehr groß geschrieben werde, aber das Fördern viel zu kurz komme. Ohne eine soziale Stabilisierung könnten die Betroffenen nicht nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert werden. Häufig würden mehrere Problemlagen gleichzeitig auftreten oder sich gegenseitig verstärken. Mehr als zwei Millionen Menschen hätten Bedarf an Schulden-, Sucht- oder psychosozialer Beratung. Wie bitte? Mindestens die Hälfte aller Arbeitslosen hat Sucht-, Alkohol- oder Schuldenprobleme? Bewege ich mich in den falschen Kreisen, oder warum mache ich da gänzlich andere Erfahrungen?

Will uns der DGB glauben machen, Erwerbslosigkeit sei kein gesellschaftliches Problem, weil es nicht genügend Arbeitsplätze für alle gibt, sondern liege höchst individuell an kranken, süchtigen, verschuldeten, beratungs- und behandlungsbedürftigen und deswegen arbeitslos gewordenen Menschen? Ach so! Sind die Betroffenen auch möglicherweise selbst schuld an ihrer Situation? Sollte, wer zwei Jahre nicht vermittelt werden konnte, nicht gleich automatisch einen Termin beim Amtsarzt erhalten? Muss dieser dann nicht förmlich Sucht- oder psychosoziale Probleme diagnostizieren? Bietet sich hier nicht eine ganz wunderbare Möglichkeit, Langzeitarbeitslose auszumustern und aus der Statistik zu entfernen?

Weil psychosoziale Probleme fast jedem Menschen problemlos irgendwie bescheinigt werden können, lässt sich auf diese Weise die Arbeitslosenzahl ganz herzallerliebst auf einen Schlag deutlich senken, wobei nicht nur ein enormes Sanktionspotenzial entsteht, sondern auch endlose Aufträge für verschiedenste Maßnahmeträger aus dem Ärmel gezaubert werden können. Meiner Meinung nach stimmt an dieser DGB-Verlautbarung nur, dass das Jobcenter fordert und fordert und fordert und viel zu wenig fördert. Andererseits tragen Verfolgungsbetreuung, Ausgrenzung, Verächtlichmachung und permanente Entwertung von Hartz-IV-Beziehern auch nicht unbedingt zu ihrer Stabilisierung bei, im Gegenteil!

 

3. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge stellt klar, dass es keinesfalls an statistischen Daten fehle, die den fortschreitenden Zerfall unserer Gesellschaft in Arm und Reich belegen, wohl aber an den zu seiner Bekämpfung notwendigen Taten. Dass zahlreiche Armuts- und Reichtumsberichte die Ursachen sozialer Fehlentwicklungen wie der wachsenden Ungleichheit vernachlässigen, hänge mit den anders gelagerten Interessen ihrer Auftraggeber zusammen. Armut und Reichtum seien keine unsozialen Kollateralschäden der Globalisierung, sondern im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem strukturell angelegt.

Armut ist gewollt und wird bewusst erzeugt, weil sie die „Aktivierung“, Motivierung und Disziplinierung der Bevölkerungsmehrheit gewährleistet. Schließlich sichere die Angst vor der Armut den Fortbestand der bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die angeblich die „Leistungsträger“ mit Reichtum belohnen und die „Leistungsverweigerer“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“ mit Armut als gerechter Strafe. Dabei bilden Armut und Reichtum zwar ein begriffliches Gegensatzpaar, obwohl sie auch zwei Seiten derselben Medaille darstellen: Wenn die Geringverdiener aufgrund der sie hart treffenden Krisenfolgen häufiger ihr Girokonto überziehen und hohe Dispo-Zinsen zahlen müssen, werden die Eigentümer der Banken noch reicher.

Doch nicht das bestehende Geld- und Zinssystem sei laut Butterwegge für die Spaltung in Arm und Reich verantwortlich, vielmehr das Kapitaleigentum, aber auch eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“. Während auf Kapitaleinkünfte wie Zinsen oder Dividenden bloß noch 25 Prozent Abgeltungssteuer gezahlt werden müssen, hat ein Arbeitnehmer bis zu 42 Prozent Lohn- beziehungsweise Einkommensteuer zu entrichten – eine schreiende Ungerechtigkeit. Die durch Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenreformen vorangetriebene US-Amerikanisierung des Sozialstaates fördere eine US-Amerikanisierung der Sozialstruktur, also die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich auf allen Gebieten: Privatinitiative, Eigenverantwortung und Selbstvorsorge werden betont, und der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung, als ob allen dieselben Möglichkeiten offenständen.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
Hamburger „Sozialsenator“ plant Null-Euro-Jobs: „Wir wollen Langzeitarbeitslose motivieren, sich beruflich zu integrieren“ („Tageszeitung“)
 
Bremer Senat will „kostenlose Beratung“ statt Verbot: Wassersperren beschneiden ein unveräußerliches Menschenrecht („Weser-Kurier“)
 

 
EU plant Kriege der Zukunft: Sie werden sich gegen „Terroristen“ und Aufständische in Ballungsräumen richten („Deutschlandfunk“)
 
„Widerlicher Kriegshetzer“: Was man in Deutschland nicht über den Präsidenten sagen darf, auch wenn es wahr ist („Spiegel-Online“)
 
„Verfassungsrechtliche Bedenken“: Hätte es die doch auch vor Inkrafttreten
der später gerichtsnotorischen Hartz-IV-Gesetze gegeben! („Die Welt“)
 
„Eiweiß macht zuckerkrank“: Dialysetechnik-Spezialist sichert mit kleinen Desinformationen den Patientennachschub („Spiegel-Online“)
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