1.
Dirk Kratz hat für seine Doktorarbeit untersucht, was
Langzeitarbeitslosen wirklich hilft.
Dabei stieß er auf die Diskrepanz, welche Hilfe sie
bräuchten – und welche sie tatsächlich vom Amt
bekommen. Kratz kam dabei zu dem zentralen Ergebnis, dass die
Jobcenter großen Schaden anrichten und mehr kaputt machen, als dass
sie helfen: Die komplette bisherige Biografie der
Langzeiterwerbslosen werde vom Amt entwertet, das ihre Lebens-
und Berufserfahrung als Defizit ansehe, das es zu beheben gelte.
Oft würden Arbeitssuchende wie kleine Schulkinder behandelt, indem man sie in Maßnahmen stecke, wo sie einfache mathematische Aufgaben lösen oder ihre Rechtschreibung verbessern sollten, sodass sie sich nur als Problemfälle wahrnehmen könnten, deren jahrzehntelange Berufserfahrung wertlos sei. Die Jobcenter blendeten andere Ursachen der Arbeitslosigkeit komplett aus und verführen nach einem technischen Modell, wonach jemand nur deswegen keine Arbeit finde, weil ihm bestimmte Fähigkeiten fehlten, als ob Erwerbslose selbst schuld an ihrer Lage seien.
Wenn Arbeitslose trotz aller Qualifikationsmaßnahmen oft dennoch keine neue Stelle fänden, reagiere das Amt mit immer neuen Defizit-Diagnosen. Irgendwann würden den Erwerbslosen nicht nur fachliche Defizite zugeschrieben, sondern auch psychologische oder medizinische Probleme angedichtet, sodass aus dem angestrebten, vermeintlich positiven Kreislauf vom Defizit über eine Qualifizierung hin zur neuen Stelle eine Spirale nach unten werde. Zuletzt fühlten sich Langzeiterwerbslose durch die vielen erfolglosen Versuche, wieder zurück in den Arbeitsmarkt zu kommen, gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert.
Kratz bemängelt, dass eine alleinige Orientierung am Markt langfristig keinen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit eröffnet. Zwar könne jemand binnen zweier Monate zum Sicherheitsfachmann ausgebildet und prekär beschäftigt werden, komme aber auf lange Sicht nicht aus dem Hilfebezug heraus. Krätz sieht zwar, dass stärker auf die Erwerbslosen eingegangen werden muss und dass sie Freiräume brauchen, damit sie selbst neue Ideen entwickeln können, kommt dann aber nur mit dem ausgelutschten Vorschlag daher, „neue“ Modelle öffentlicher Beschäftigung zu entwickeln.
Nur weil in Kommunen Lokalpolitiker, Unternehmer und Vertreter der Arbeitslosen selbst mitentscheiden dürften, wo es Bedarf für zusätzliche Arbeitskräfte gebe und wie sie eingesetzt werden könnten, ohne andere Arbeitsplätze zu verdrängen, soll uns dieser alte Wein in neuen Schläuchen verkauft werden, weil er angeblich ganz anders sei als „Bürgerarbeit“ und Ein-Euro-Jobs! Aha, es sei wichtig, dass die Betroffenen mit am Tisch säßen und mitreden könnten und auch Mitbestimmungsmöglichkeiten auf der politischen Ebene bekämen. Aber wenn die Kommunen Gärtner oder Parkplatzwächter bräuchten, was aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nichts mit den Berufserfahrungen der Langzeitarbeitslosen zu tun hätte, dann wäre die Entfremdung nicht so stark, weil die Betroffenen über ihre Tätigkeit mitentscheiden könnten?
Was ist das denn für eine Logik? In meinen Augen besteht hier lediglich eine Option zwischen Pest und Cholera. Wie formulierte Bertolt Brecht so trefflich: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“! Wie kann jemand, der doch sieht, dass die Jobcenter mehr kaputt machen als helfen, dass sie nur Defizite bei den Erwerbslosen suchen und die nicht vorhandenen Arbeitsplätze für alle nicht zur Kenntnis nehmen, Hartz IV nicht sofort komplett verdammen wollen? Lediglich den finanziellen Druck, der durch Sanktionen auf Erwerbslose ausgeübt wird, will er mildern, weil die Idee, dass Arbeitslose durch Strafen zu marktkonformem Verhalten zu bewegen seien, empirisch überhaupt nicht nachgewiesen sei. Seine neuen Erkenntnisse hätten ihm auch die Montagsdemonstranten erzählen können!
2. Keine Hilfe wollte das Solinger Jobcenter einem Blinden gewähren und verweigerte ihm die Sozialleistungen mit der Begründung, dieser müsse erst sein Vermögen von 8.000 Euro bis auf den Freibetrag von 5.550 Euro aufbrauchen, bevor er Arbeitslosengeld II beziehen könne. Glücklicherweise klagte der 35-Jährige sich sein Recht ein, und das Sozialgericht Düsseldorf entschied letzte Woche rechtskräftig, dass angespartes Blindengeld bei der Prüfung eines Hartz-IV-Anspruchs nicht angerechnet werden darf. Das Vermögen stehe dem Blinden als Ausgleich für Mehrausgaben zur Verfügung, die aus seiner Behinderung resultieren (Aktenzeichen S37 AS 3151/11). Wieder zeigt sich: Wer sich wehrt, kann gewinnen – wer sich nicht wehrt, hat schon verloren!
3. Der neue Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer behauptet, der gesetzliche Mindestlohn werde auf dem Arbeitsmarkt „erhebliche Bremsspuren zulasten der Schwächsten“ hinterlassen. Davon seien besonders Langzeitarbeitslose oder Menschen, die noch nie gearbeitet haben, betroffen. Kramer ist dagegen, dass junge Menschen lieber einen Hilfsarbeiterjob annehmen als eine Berufsausbildung zu beginnen, die in der Lehrzeit schlechter bezahlt werde; schließlich habe der größte Teil der heute Langzeitarbeitslosen keine Berufsausbildung. Wirklich herzallerliebst, wie rührend sich der Arbeitgeberpräsident um das Wohlergehen junger Menschen sorgt – und sich deshalb dafür einsetzt, dass es für junge Menschen ohne Berufsausbildung bis zu einer bestimmten Altersgrenze eine Ausnahme vom Mindestlohn geben müsse, weil die Ausbildung Vorrang habe!
Natürlich spricht hier kein Wolf im Schafspelz, der neue Lücken konstruieren will, um keinen Mindestlohn zahlen zu müssen, nein: hier wird ein Gutmensch aktiv, der die Jugend vor Erwerbslosigkeit wegen fehlender Ausbildung oder durch zu hohes Alter bewahren möchte! Weil Lehrjahre schließlich keine Herrenjahre sind, darf die Ausbildungsvergütung ruhig weiterhin so niedrig sein, dass davon allein kein Lebensunterhalt bestritten werden kann. Schließlich haben die jungen Menschen ja auch noch Eltern, bei denen sie Unterschlupf finden können! Von den Kindern von Hartz-IV-Beziehern wird ja auch erwartet, dass sie zu Hause wohnen, bis sie 25 sind, gelle?
4. Ist es nicht immer wieder schön zu sehen, wie sich um das Wohl von Arbeitslosen gekümmert wird? In Zwickau werden jetzt sogar Benimmkurse für Erwerbslose angeboten. Es ist der nächste Versuch, Hartz-IV-Bezieher bei der Arbeitssuche zu „unterstützen“: Reich mir deine Flosse, und ich führ dich aus der Gosse! Woher sollen Erwerbslose auch wissen, wie sie sich höflich und angemessen durch den Bewerbungsdschungel kämpfen sollen? Wo sonst könnten sie lernen, was sich gehört und was nicht? Eigentlich lernen schon kleine Kinder, wann „Bitte“ oder „Danke“ gesagt wird, oder dass man einander die Tür aufhält. Aber wir alle wissen ja, was Menschen widerfährt, die arbeitslos werden: Von einem Tag auf den anderen vergessen sie schlagartig, dass sie je einen Beruf und was sie da gelernt hatten, und natürlich entfällt ihnen damit auch ihre gesamte Lebenserfahrung mitsamt allen Regeln für Höflichkeit und Anstand.
Am 1. März 2014 trafen sich zum 12. Mal die Delegierten der bundesweiten Montagsdemonstrationen seit Gründung der Bewegung im August 2004. 80 Montagsdemonstrant(inn)en, darunter 60 Delegierte aus 32 Städten, nahmen an der Konferenz teil. Gegenüber dem Vorjahr hat sich somit die Zahl der Delegierten wie auch die Zahl der vertretenen Städte leicht erhöht. Dem Tätigkeitsbericht der Koordinierungsgruppe schlossen sich eine konstruktive, zukunftsgerichtete und selbstkritische Diskussion und ein Erfahrungsaustausch zur Arbeit und Weiterentwicklung der Bewegung an.
Die
Diskussion stand ganz im Zeichen des 10. Jahrestages des
Bestehens der bundesweiten Montagsdemonstrationsbewegung in
August dieses Jahres. Die Delegierten stellten fest, dass der Protest
gegen die Hartz-Gesetze immer noch hochaktuell ist. Fast jeder Vierte
arbeitet heute in Deutschland im Niedriglohnsektor; in Europa wird
das nur noch in Litauen getoppt. Die Forderung nach gleichen Löhnen
und Rechten für Leiharbeiter und der Kampf gegen Werksverträge
waren wichtige Anliegen der diesjährigen
Bundesdelegiertenkonferenz.
In der Diskussion kamen auch deutlich die Wut und Empörung über das RAG-weite Anfahrverbot gegenüber dem engagierten Gelsenkirchener Montagsdemonstranten Christian Link zum Ausdruck, und es wurde die uneingeschränkte Solidarität der bundesweiten Montagsdemonstranten ausgesprochen: „Wer einen von uns angreift, greift uns alle an!“ Die Montagsdemobewegung sieht es als ihre Aufgaben an, weiterhin Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zur Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen zu leisten sowie alle Kollegen in den Betrieben beim Kampf um ihre Arbeits- und Ausbildungsplätze aktiv zu unterstützen.
2014 will die Bewegung ihr Engagement zur Rettung der Umwelt intensivieren. Die Aktionen der örtlichen Montagsdemonstrationen im März stehen anlässlich des Fukushima-Jahrestages am 11. März besonders im Zeichen des Kampfes zur sofortigen Stilllegung aller Atomkraftwerke weltweit. Auch die Gewinnung der Jugend war bei der diesjährigen Bundesdelegiertenkonferenz wieder ein wichtiges Thema. Die Montagsdemonstrationsbewegung möchte einen Beitrag leisten, um eine unter der Jugend verbreitete Perspektivlosigkeit zu bekämpfen, wenn Jugendliche sich zum Beispiel an Hartz IV gewöhnt haben, weil sie gar nicht anders kennen.
Die bundesweite Montagsdemonstrationsbewegung wird sich weiterhin um Zusammenarbeit mit allen Organisationen, Parteien und Initiativen bemühen, die gegen unsoziale Politik, insbesondere die Hartz-Gesetze, aber auch gegen Betrugsmanöver wie „Rente ab 63“ aktiv sind. Nur gemeinsam sind wir stark! Mit Selbstbewusstsein und Stolz wird die bundesweite Montagsdemonstrationsbewegung in circa 80 Städten im August dieses Jahres ihren 10. Jahrestag begehen und in diesem Sinne am 13. September 2014 in Berlin ihre 11. Herbstdemonstration durchführen. Nach der einmütigen Wahl einer neuen Koordinierungsgruppe und zweier Kassenprüfer ging die Delegiertenkonferenz mit optimistischem Blick in die Zukunft zu Ende.