2.9.2006

"Wenn es eng wird, gibt es Leitungswasser"
Wie sich eine allein erziehende Mutter mit vier Kindern und Hartz IV durchschlägt

Von unserem Redaktionsmitglied
Katrin Matthes

BREMEN. Kino, Schwimmbad, Musikunterricht - für Kinder, die in Armut aufwachsen, sind eigentlich ganz normale Dinge unerschwinglich. "Am schlimmsten sind Klassenfahrten", sagt Sandra G. (Name geändert). Sie weiß, wovon sie spricht. Als allein erziehende Mutter mit vier Kindern, aber ohne Job, regiert der Mangel ihren Alltag."Mit vier Kindern findest du keine Arbeit", sagt die gelernte Krankenpflegerin. Sie habe es immer wieder versucht. "Doch sobald ich meinen Nachwuchs erwähnte, wurde ich gleich abgewimmelt. Aus Angst, dass ich ausfalle, wenn eins krank wird." Darum schlägt sie sich nun mit Hartz IV durch. Rund 900 Euro monatlich bekommt sie für sich und ihre Kinder zum Leben, die Miete übernimmt das für Hartz-IV-Empfänger zuständige Amt Bagis. Schicke Klamotten, eine Reise oder neue Möbel sind nicht drin. Fast die komplette Einrichtung der Vierzimmerwohnung ist geschenkt. "Von Nachbarn oder Freunden", sagt Iris, mit 16 Jahren die älteste Tochter von Sandra. "Wir müssen nehmen, was wir kriegen können." Altes Schlafsofa für GeschwisterDie schwarze Couch aus Kunstleder ist an einigen Stellen eingerissen. An der Wand gegenüber steht ein großer, blassbrauner Schrank mit verglaster Tür, in dem kaum etwas steht. In den Kinderzimmern, die sich jeweils zwei der Geschwister teilen, gibt es keine Schreibtische. Nur in einem steht ein Etagenbett, in dem anderen ein altes Schlafsofa, auf dem Iris zusammen mit Ben schlafen muss. Außerdem zwei Schränke und einen Käfig mit Hasen und Meerschweinchen. Ansonsten sind die Zimmer weitgehend leer. "Ich würde gerne mal bei einer Sendung im Fernsehen mitmachen", sagt Iris, "in der dir jemand die Wohnung renovieren und dann hinterher alles richtig schön aussieht und die Möbel zusammenpassen." Sandra legt nicht viel Wert auf schöne Möbel. "Hauptsache, wir haben was", sagt sie. Doch den Kindern sei ihre finanzielle Situation nicht immer leicht zu erklären. Denn die wollen ein Leben führen wie ihre Freunde und ins Kino gehen oder ins Schwimmbad. "Aber das ist bei vier Kindern einfach nicht drin", sagt sie und wühlt in einem Kasten mit Discounter-Steckzigaretten vor sich auf dem Tisch. Sie stopft hastig Tabak in eine Drehmaschine, schiebt ihn in die Papierhülle und zündet sich die fertige Zigarette an. Dabei redet sie schnell, fast ohne Punkt und Komma. "Alles wird teurer. Selbst wenn ich nur das Nötigste einkaufen gehe, bin ich, schwupps, 150 Euro los. Das geht bei vier Kindern schnell." Ihr Jüngster, Frederik, ist fünf Jahre alt. Er geht in den Kindergarten, wächst aber schnell. Folge: Der Junge braucht oft neue Schuhe. Leila ist elf Jahre. Sie ist musikalisch und möchte Geige spielen. Doch das geht nicht, "das Instrument ist zu teuer", sagt ihre Mutter. Darum spielt das Mädchen, wann immer möglich, in der Schule "Flöte, Keyboard, Gitarre und Trommel", wie Leila mit leuchtenden Augen aufzählt. Ben ist 13 Jahre. Er legt Wert auf Marken-Klamotten und möchte ein Handy. Noch darf er nicht arbeiten gehen, um sich seine teuren Wünsche zu erfüllen. "Nur Hundeausführen ist drin. Das will ich demnächst tun", kündigt er an. Bald wird er 14 Jahre, dann darf er auch Prospekte austragen. Iris ist 16 und im Sommer mit der Gesamtschule fertig geworden. Nun sucht sie einen Ausbildungsplatz als Friseurin. Bisher hat sie nichts gefunden. "Ich bin die Billigste von allen. Ich habe kein Hobby", sagt sie ironisch und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. "Ich bin froh, dass ich so tolle Kinder habe", sagt Sandra. "Zumindest die Mädchen sind selbstbewusst genug zu sagen, dass sie keine Marken-Klamotten brauchen." Iris fällt ihr ins Wort. "Es ist doch egal, wo die Sachen herkommen. Hauptsache, sie sehen gut aus." Sandra fügt an: "Und sind heile und sauber." Sie bemüht sich, ihre Sprösslinge gerecht zu behandeln, "aber allen gleichzeitig was zu kaufen geht nicht". So besorge sie einen Monat neue Klamotten für Ben, einen anderen Schuhe für Frederik. "Die anderen müssen dann eben zurückstecken." Auf diese Weise versucht sie auch, Klassenfahrten zu finanzieren. "Heutzutage fahren die ja nicht mehr nach Norderney. Da geht es nach Sylt oder gleich nach England." Das kostet dann zwischen 200 und 300 Euro, ohne Taschengeld. "Man kann von der Bagis einen Zuschuss bis zu 100 Euro bekommen, aber alles übernehmen die nicht", sagt die 38-Jährige und fährt sich mit den Fingern durch die halblangen, dunklen Haare, die an den Schläfen ergraut sind. Um Iris die Abschlussfahrt mit ihrer Klasse nach Italien zu ermöglichen, mussten die anderen den Gürtel enger schnallen. "Wenn das Geld knapp wird, gibt es eben nur Leitungswasser zu trinken und Nudeln zu essen", sagt Sandra. "Denn man mag ja auch nicht immer nein sagen. Ich kann sie doch verstehen, meine Kinder." Lieber ein Eis als TaschengeldTaschengeld gibt sie den Kindern nicht. "Lieber spendiere ich mal ein Eis oder was Süßes." Kleine Beträge. Wann sie das letzte Mal im Kino war, daran kann sich Iris kaum erinnern. "Das ist ein paar Jahre her. Da habe ich Scary Movie 1 gesehen." Sie ist froh, dass es in der Nähe der Wohnung ein Freizeitzentrum für Jugendliche gibt. Dort geht sie oft mit ihren Geschwistern hin, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Familie wohnt in Oslebshausen, in einer Gegend, in der die schlechte finanzielle Situation der Familie kein Einzelfall ist. Trotzdem besitzen viele Freunde der Geschwister ein Handy oder Markenturnschuhe. Deutlich wird das Weihnachten. Sandra: "Da hatten die Kumpels meiner Großen die dollsten Handys bekommen und meine saß da und hatte nur zwei Stühle unterm Tannenbaum." Mit dem Wohnumfeld ist Sandra zufrieden. "Die Gegend hier ist nicht toll, aber nicht so schlimm wie Tenever", sagt sie. Falls den Kindern etwas passieren sollte, könne sie auf ihre Nachbarn zählen. An den Vater könne sie sich dagegen nicht wenden - der sei vor ein paar Jahren abgehauen. "Erst hat er sich zwei Jahre lang nicht gemeldet", berichtet Sandra emotionslos. Aber ihre Augen scheinen einen Punkt in der Ferne zu fixieren. "Nun nur sporadisch. Zahlen tut er nichts." Iris unterbricht sie. "Mama, das stimmt nicht, dass er sich nicht kümmert. Im Herbst will er mit uns nach Köln fahren." Sandra schüttelt den Kopf. "Das glaube ich erst, wenn ich es sehe."Die Geldsorgen machen der 38-Jährigen zu schaffen. Vor zwei Jahren hatte sie einen Nervenzusammenbruch. "Es ging einfach nicht mehr", sagt sie. Damals musste sie für einige Monate in Kur, die Kinder lebten während dieser Zeit in einer Pflegefamilie. Als sie zurückkam, ging es ihr etwas besser, doch an den Sorgen hat sich nichts verändert. Der Alltag ist geprägt vom Geld und dem Streit darum. "Es ist bald Herbst. Dann ist Freimarkt und das Gejammer geht los, dass die Kinder hinwollen", seufzt Sandra. Danach kommt Weihnachten mit den dazugehörigen Wunschlisten. So geht es immer weiter. Aber nun ist erstmal Schulanfang, die Kinder brauchen Hefte, Stifte und Schulbücher. Sandra macht sich auf den Weg zur Bank, um zu schauen, ob das Geld für den Monat angekommen ist. Langsam schiebt sie eins der beiden Fahrräder, die ihre Familie besitzt - ein Auto haben sie nicht - aus der Tür. "Ich hoffe, das Geld ist da", sagt sie. Sie klingt resigniert. "Sonst haben wir echt die Arschkarte. Mal wieder."

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