SPIEGEL ONLINE - 17. November 2005, 14:13
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Haushaltsstreit
 
Störung im großkoalitionären Gleichgewicht

Der Ton im ersten Koalitionskrach wird schriller. Die Union besteht darauf, den Haushalt für nächstes Jahr verfassungswidrig zu nennen. Die SPD lehnt dies vehement ab und droht: Jetzt geht es gemeinsam voran - oder gar nicht.

Berlin - Bei der Frage, ob der Haushalt 2006 verfassungswidrig ist oder nicht, haben sich SPD und Union heute auf ihre gegensätzlichen Positionen versteift. "Dieser Haushalt kann nicht verfassungsgemäß sein", sagte CSU-Generalsekretär Markus Söder auf N24. Demgegenüber betonte SPD-Finanzexperte Joachim Poß: "Natürlich wird auch der Bundeshaushalt 2006 verfassungskonform sein."

Der Streit war bereits während der Koalitionsverhandlungen immer wieder hochgekocht. Am Ende, behauptet die SPD, habe man sich explizit darauf geeinigt, auf das Wort "verfassungswidrig" im Koalitionsvertrag zu verzichten. "An keiner Stelle der Koalitionsvereinbarung ist von einem Verfassungsbruch die Rede", so Poß. Tatsächlich steht im Koalitionsvertrag nur, dass es im nächsten Jahr nicht möglich sein werde, "die Regelgrenze des Artikel 115 Grundgesetz einzuhalten".

Laut Artikel 115 darf die Neuverschuldung des Bundes in einem Haushaltsjahr nicht die getätigten Investitionen übersteigen. Im Haushalt 2006 ist eine Neuverschuldung von 41 Milliarden Euro vorgesehen, aber nur Investitionen von 23 Milliarden Euro. Dies ist laut Artikel 115 nur erlaubt, wenn die Regierung von einer "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" ausgeht.

Alte Reflexe existieren noch

Die Union weigert sich, eine solche Störung zu diagnostizieren. Sie will den Haushalt lieber verfassungswidrig nennen und die Schuld dafür der rot-grünen Vorgängerregierung anlasten. "Wir gehen einmal den Weg der Wahrheit und der Ehrlichkeit", sagte Söder heute. Bereits gestern hatte Unions-Fraktionsvize Michael Meister gesagt, der Haushalt sei verfassungswidrig. Der CDU-Haushaltsexperte Steffen Kampeter hatte gefordert, man dürfe die "rot-grüne Abschlussbilanz" nicht schönreden. Eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sei nicht erkennbar. Schließlich sei ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent prognostiziert sowie ein Anstieg der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze.

Die SPD hält dem entgegen, dass man sich auf die Ausnahmeklausel im Artikel 115 berufen müsse, weil es gar keinen verfassungswidrigen Haushalt geben könne. Schließlich müsse Bundespräsident Horst Köhler das Werk unterschreiben. "Die Debatte ist müßig", sagte SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider SPIEGEL ONLINE.

"Ich bin mir ganz sicher, dass Angela Merkel nicht einen verfassungswidrigen Haushalt vorlegen will", sagte der designierte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) heute dem Fernsehsender "Deutsche Welle". "Wir werden uns auf der Grundlage des Artikel 115 bewegen und dessen, was er erlaubt."

Die Kontroverse droht zu einer ernsthaften Belastung der Großen Koalition zu werden. Sie zeigt, dass auch nach der Billigung des Koalitionsvertrags durch die Parteitage die alten Reflexe auf beiden Seiten noch wirken. "Wenn das so weiter geht, wird die Debatte eskalieren", befürchtet Schneider, der den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt hat. "Was die (Unionspolitiker) jetzt machen, ist nicht sauber."

"Jetzt geht es gemeinsam voran - oder es geht nicht"

Und Poß drohte: "Die Union muss kapieren: Der Wahlkampf ist zu Ende. Jetzt geht es gemeinsam voran - oder es geht nicht." Der Partner müsse einsehen, dass der Haushalt 2006 kein Haushalt der alten, sondern der erste der neuen Bundesregierung sei.

Die ersten Unionspolitiker wichen heute von der Parteilinie ab. Der CSU-Haushaltsexperte Bartholomäus Kalb (CSU) und Baden-Württembergs Finanzminister Gerhard Stratthaus (CDU) erklärten die Argumentation der SPD für richtig. "Formal gesagt wird man das schon mit einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erklären müssen", sagte Stratthaus.

Für Verwirrung hatte die Pressekonferenz von Angela Merkel, Franz Müntefering, Edmund Stoiber und Matthias Platzeck am vergangenen Samstag gesorgt, als sie gemeinsam den Koalitionsvertrag erläuterten. Müntefering war gefragt worden, ob die Regierung sich auf die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts berufen würde, um die höhere Neuverschuldung zu begründen. Daraufhin hatte der damals noch amtierende SPD-Chef gesagt: "Wir begründen das nicht damit."

CSU-Chef Stoiber hatte ergänzt, man habe sich lange darüber unterhalten, ob die Ausnahmeklausel zur Anwendung kommen solle. "Wir haben das nicht getan", denn man wolle mit dem Haushalt 2006 klar machen, "wo wir stehen". Am Ende der Pressekonferenz war der Eindruck entstanden, die Regierung werde einen verfassungswidrigen Haushalt vorlegen.

Carsten Volkery
 


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SPIEGEL ONLINE - 18. November 2005, 15:11
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Euro-Zentralbank
 
Trichet kündigt Zinserhöhung an

Hiobsbotschaft für die schwarz-rote Koalition: Pünktlich zu ihrem Start kündigt EZB-Präsident Trichet eine moderate Zinserhöhung an. Eine Verteuerung der Kredite könnte die schwächelnde deutsche Konjunktur abwürgen.

Frankfurt am Main - Für seine Ankündigung hatte sich Jean-Claude Trichet eine passende Bühne ausgesucht: die Alte Oper in Frankfurt. Auf dem dortigen Bankenkongess sagte er: "Nach zweieinhalb Jahren mit anhaltend ausgesprochen niedrigen Zinsen, denke ich, dass der Rat bereit ist, die Entscheidung zu treffen, die Zinsen zu ändern und das gegenwärtige Zinsniveau leicht anzuheben". Kaum hatte er diesen Satz gesagt, knickte der Aktienindex Dax schon sichtbar nach unten ein. Volkswirte zeigten sich überrascht von der klaren Aussage und dem Zeitpunkt.

Die Zinsänderung sei dazu da, die Preisstabilität aufrecht zu erhalten und damit zu Wachstum und Beschäftigung im Euro-Raum beizutragen, führte Trichet aus. Die Leitzinsen liegen seit Juni 2003 bei 2,0 Prozent, ein historisches Tief. Eine Anhebung um 0,25 Prozentpunkte gilt nun als wahrscheinlich.

In den letzten Monaten war die Inflation im gemeinsamen Währungsraum durch die Explosion der Ölpreise deutlich gestiegen. So lag die Preissteigerungsrate im Euro-Raum im Oktober bei 2,5 Prozent und im September sogar bei 2,6 Prozent und damit deutlich über der Marke von zwei Prozent, die die EZB als Preisstabilität definiert. Trichet hat sein Amt im November 2003 angetreten. Unter seiner Ägide sind die Leitzinsen bisher noch kein einziges Mal angepasst worden.

Grollen in der Politik

Trichet sagte, eine Anhebung der Leitzinsen werde einen Teil der für die Märkte günstigen Umstände beseitigen. Die Geldpolitik werde aber weiterhin zu Wachstum und mehr Beschäftigung beitragen, versicherte er. Finige Staatschefs der Euro-Zone wie Silvio Berlusconi aus Italien hatten die EZB in den zurückliegenden Worten deutlich davor gewarnt, die Zinsen zu erhöhen. Aus seiner Sicht gehe die Inflationsgefahr bereits wieder zurück, hatte Berlusconi gesagt.

Trichet demonstriert nun mit seiner Ankündigung Unabhängigkeit. Allerdings wird eine Zinserhöhung Länder wie Deutschland härter treffen als andere Euro-Staaten wie Spanien, in denen die Wirtschaft robuster wächst und der Preisauftrieb zuletzt höher war.

An den Finanzmärkten wurde spekuliert, dass die EZB bereits bei ihrer nächsten Ratssitzung am 1. Dezember den Leitzins von zwei Prozent anheben könnte. Trichet hat nun ein deutliches Signal gegeben, dass der Rat diese Entscheidung auch treffen dürfte. "Wenn die EZB jetzt noch einen Rückzieher machen würde, wäre das nur sehr schwer verständlich", meinte Commerzbank-Volkswirt Michael Schubert.

Renten unter Druck

Der Eurokurs stieg nach den Äußerungen Trichets kräftig an und notierte zuletzt bei 1,1794 Dollar und damit auf den höchsten Stand seit mehr als einer Woche. Die EZB hatte den Referenzkurs zuvor bei 1,1679 (Donnerstag: 1,1692) Dollar fixiert. Der Dollar hatte in den vergangenen Wochen deutlich zulegen können, weil die US-Leitzinsen inzwischen nach einer Serie von Zinserhöhungen bei 4,0 Prozent liegen.

Der Dax fing sich wieder, blieb aber 20 Punkte unter seinem Tageshoch - gegen 16.15 Uhr lag er bei 5127 Punkten, ein Plus von 0,55 Prozent zum Vortagesschluss.

IWF-Chef hält Zinssteigerung für unnötig

Die Rentenmärkte gerieten deutlich unter Druck.Der richtungsweisende Euro-Bund-Future verlor 0,82 Prozent auf 119,38 Punkte und lag damit knapp einen Punkt unter seinem Tageshoch von 1,2031 Zählern. Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe stieg um 0,090 Punkte auf 3,520 Prozent.

In der alten Oper gab es auch kritische Stimmen zum Thema Zinserhöhungen. Rodrigo Rato, Chef des Internationalen Währungsfonds, bezeichnete eine Zinserhöhung als unnötig. Es seien derzeit keine Zweitrundeneffekte durch höhere Löhne abzusehen. Auch gingen von der so genannten "Kerninflationsrate" nach seiner Auffassung noch keine Gefahren für die Preisstabilität aus.
 


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SPIEGEL ONLINE - 18. November 2005, 19:00
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Kritik an der Zinswende
 
"Für Deutschland alles andere als förderlich"

Die angekündigte Zinserhöhung kommt für Deutschland zum falschen Zeitpunkt, warnt der Volkswirt Thomas Straubhaar. Die Konjunktur sei noch sehr anfällig für Rückschläge.

Hamburg - "Für Deutschland ist die Zinsanhebung schon rein psychologisch dem Konjunkturverlauf alles andere als förderlich", sagte der Chef des Forschungsinstituts HWWA laut Nachrichtenagentur Reuters. Zinserhöhungen bremsten generell die Konjunktur. "Der Punkt ist aber, dass jetzt gerade in Deutschland der Aufschwung sich zart abzuzeichnen beginnt."

Aus europäischer Sicht sei die Zinserhöhung durch die EZB, die die Finanzmärkte nach der Ankündigung von Notenbank-Chef Jean-Claude Trichet nun am 1. Dezember erwarten, aber richtig. "Ich verstehe die EZB", sagte Straubhaar. Wenn die Konjunktur 2006 anziehe, wachse die Gefahr, dass der hohe Ölpreis zu höheren Lohnforderungen und einem generellen Preisanstieg führe.

Während Politiker von der EZB gefordert hatten, das historisch niedrige Leitzinsniveau von zwei Prozent noch beizubehalten, hatten Vertreter deutscher Wirtschaftsverbände sich gelassen zu der heraufziehenden Zinsanhebung geäußert. Straubhaar betonte, dass die deutsche Situation auch wegen der von der Bundesregierung angekündigten Steuererhöhungen besonders problematisch sei.

"Mulmiges Gefühl"

"In dieser Zeit sind Zinserhöhungen eher Gegenwind." Die gerade begonnene Belebung der Investitionen werde zwar nicht einknicken. Die höheren Zinsen wären aber besonders dem schwachen Konsum nicht förderlich. Ob sich der EZB-Schritt auf die deutschen Wachstumsprognosen auswirken werde, ließ Straubhaar offen: "Wir rechnen gerade. Wir haben aber schon ein mulmiges Gefühl, weil schon die ganzen Diskussionen über Steuererhöhungen ein negatives Signal darstellen."

Die führenden Forschungsinstitute, zu denen das HWWA gehört, erwarten für 2006 ein Wachstum von 1,2 Prozent nach 0,8 Prozent im laufenden Jahr. Der Politik riet der Chef des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs aber, Ruhe zu bewahren. Sie habe kaum Möglichkeiten zu reagieren, sie könne nur Kritik üben. "Und das würde nicht helfen, sondern schaden."
 


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