Göttingen - Der
Begründungsbogen für eine solche Regierungsvariante ist ganz nüchtern zu
spannen. Im politischen System Deutschlands ist die Zahl der Vetomächte so groß
wie nirgendwo sonst in dieser Welt. Insofern kann eine Zentralregierung in
Deutschland keineswegs einfach "durchregieren". Die eine Volkspartei braucht für
den gesellschaftlichen Erfolg fast durchweg die andere Volkspartei. Aber die
gerade opponierende Volkspartei ist ihrerseits natürlich keineswegs am Erfolg
des regierenden Pendants interessiert. Und so ereignen sich immerfort die
unergiebigen Stellungskriege und taktischen Scharmützel der beiden Volksparteien
um jeden Zentimeter strategischen Bodens.
Bleibt als Alternative die
Große Koalition. Sie ist die zeitweise zwingende Konsequenz aus dem
kooperationsdemokratisch angelegten Institutionengefüge der bundesdeutschen
Republik. So wie Deutschland strukturell verfasst ist, gelingt Politik im
Wesentlichen durch Konzertierung, eben dadurch, dass beide Parteien
gleichermaßen am Erfolg der Zentralregierung interessiert
sind.
Doch kann die SPD diese Rolle an der Seite der ungeliebten und
gerade in diesen Wahlkampfwochen bekämpften "Schwarzen" überhaupt aushalten?
Viele Sozialdemokraten setzen in der Tat eher auf Regeneration und Wandel ihrer
Partei in der Opposition. Doch hat sich diese Transformation der deutschen
Sozialdemokratie längst schon vollzogen. Die Partei hat es sich nur noch nicht
hinlänglich bewusst gemacht, drückt sich bislang vor den harten Konsequenzen -
und würde in der Opposition erst recht in die beliebte sozialdemokratische
Selbsttäuschung und Sentimentalitätshuberein zurückfallen.
Wenn eine
innersozialdemokratische Leistung von Schröder und Müntefering letztlich
beeindruckt, dann ist es die, dass sie die traditionelle und fatale Kluft in
ihrer Partei zwischen Phrase und Praxis geschlossen, dass sie Rhetorik und Tun
synchronisiert haben. Das war lange anders. Der frühere programmatische Traum
von einer ganz und gar besseren, konfliktfreien Gesellschaft blamierte stets
jede Regierungspraxis, ließ die exekutiven Anstrengungen - gleichviel ob unter
Scheidemann, Brandt oder Schmidt - als gering erscheinen. Das führte über
etliche Jahrzehnte zu dem chronischen sozialdemokratischen
Frust.
Abschied vom ProletariatDoch
hat sich die sozialdemokratische Regierungspartei in den letzten Jahren vom
Glauben an historische Subjekte und geschichtliche Endziele, vom Mythos der
Arbeiterklasse gelöst. Die SPD ist nicht mehr die Partei eines kühnen
Sozialismus, sie hat ihre Stammmilieus keineswegs mehr zwischen Hochöfen und
Zechen, ihre Funktionäre stehen nicht mehr an Drehbänken. Die SPD ist zu einer
robusten antikapitalistischen Strategie, zu einem harten Konflikt mit den
bürgerlichen Globalisierungseliten nicht gerüstet. Es reicht allein für ein paar
empörte Sprüche gegen die "Merkelsteuer" - die natürlich eine SPD-Regierung
ebenfalls künftig einführen würde - und den "Heidelberger Professor".
Es
wäre absurd, wenn die Sozialdemokratie im Oktober 2005 wieder den Herbst 1997
sozialagitatorisch nachspielen würde. Dafür hat sich die SPD im Inneren -
sozial, personell, programmatisch - und bei allzu großen Blessuren verändert.
Ihr neuer Kern, eine beruflich angespannte, außerordentlich ergebnisorientierte
Mitte erwartet keine dröhnbackigen Protestkundgebungen; sie will durch
profilstarken Realismus überzeugt werden. Profil, das belegbar und überprüfbar
ist, das gerade in der Erneuerung den Härtetest der Operationalisierbarkeit
durchstehen muss, erhält man aber nur in der Regierung, nicht in der
zwischenruffreudigen Opposition. Eben deshalb sollten die Sozialdemokraten in
den wenigen Tagen, die noch verbleiben, sich zumindest subkutan auf die Große
Koalition vorbereiten.
Im Übrigen:
Eine Große Koalition bietet die Möglichkeit, dass gerade die sozialdemokratische
Generation nach Schröder genug Raum für eine solche politische Kreativität
vorfindet. Auch das wissen wir aus der europäischen Parlamentsgeschichte:
Regierungen mit großer parlamentarischer Mehrheit bieten den Abgeordneten
Gelegenheit für Eigensinn. Denn der Disziplinierungszwang von knappen Mehrheiten
in kleinen Koalitionen entfällt dort. Die Abgeordneten von Großen Koalitionen
können ihrer eigenen Regierung öffentlich widersprechen, dürfen Sondervoten
abgeben, auch Gruppen bilden, um separate Meinungen zu bilden.
Nie
besaßen Parlamentarier deshalb in der bundesdeutschen Geschichte einen derart
großen Spielraum wie zwischen 1966 und 1969, als der Bundestag nahezu den
montesquieuschen Idealzustand einer Kontrolle der Regierung durch die gesamte
Legislative erreichte. Noch lange zehrte der bundesdeutsche Parlamentarismus von
diesem Zuwachs an Selbstbewusstsein seiner Abgeordneten. Viel davon ist seit den
neunziger Jahren nicht übrig geblieben, da gerade die jungen
sozialdemokratischen Abgeordneten unter dem mitunter hysterisch hochgepeitschten
Druck einer "eigenen Kanzlermehrheit" enorm kujoniert, auf Linie gebracht,
politisch gleichsam nivelliert wurden.
Wie überlebt die
FDP?In einer "Großen
Koalition" könnten sie dagegen ihr Projekt einer sozialen Chancengesellschaft
für die Zeit nach Schröder freier fortentwickeln und zugleich dem Praxistest
ausliefern, ohne - wie in der Opposition - der bequemen Versuchung zu verfallen,
allein die Phrasen aus der politischen Betriebsratszeit von 1982 bis 1998
einfallslos zu reaktivieren.
Doch vielleicht kommt ja koalitionspolitisch
noch alles ganz anders. Denn schließlich gibt es da in Berlin einen Mann, der am
Abend des 18. September - sollte er weiter der Alte geblieben sein, so wie wir
ihn unzählige Male erlebt und insgeheim bewundert haben - in der Tat für eine
deftige Überraschung sorgen könnte: Gerhard Schröder. Denn als Kanzler
überleben, ja triumphieren kann er einzig und allein in einer rot-grün-gelben
Konstellation. Und ein bisschen ist immer noch schwer vorstellbar, dass Gerhard
Schröder - sollte es arithmetisch für eine Ampel reichen - demütig vor die
Mikrophone tritt, mit traurigen Augen seine Niederlage eingesteht, um sich
sodann nach Hannover zu Frau und Kindern zurückzuziehen. In einem solchen Fall
wäre Schröder in der Tat nicht mehr der Alte.
Der Abend könnte also
anders ablaufen, als ihn viele derzeit noch antizipieren. Versuchen wir ein
realistischen Szenarium: Als erstes wird wahrscheinlich ein Freidemokrat aus der
zweiten Reihe, sagen wir: der wendige Herr Kubicki aus Schleswig-Hostein, gegen
19 Uhr, daran erinnern, dass das Wahlergebnis selbstverständlich auch weitere
Koalitionsalternativen diesseits einer Elefantenhochzeit zulässt. Zugleich
werden dann einige der in sieben harten Regierungsjahren gestählten Strategen
aus der Entourage des Kanzlers Kontakt mit dem FDP-Granden aufnehmen, die nur
die eine Chance hat, politisch zu überleben, wenn sie irgendwie in das
Bundeskabinett dringen.
Fehlen nur noch die Grünen. Aber auch die werden
sich gewohnt opportunistisch rasch auf die neue Situation einstellen und alle
Schwüre, mit den sozialkalten "Neoliberalen" niemals anzubändeln, in
Sekundenschnelle wieder vergessen. Denn gerade ihnen ist klar, dass andernfalls
das letzte Stück Macht perdu ist.
Und so werden sie staatsmännisch
erklärend vor die Kameras treten, dass jetzt alles darauf ankomme, die große
Koalition der Reformblockierer zu verhindern und das Land vor Mehltau zu
bewahren. Kurzum: In dieser Konstellation würde Schröder erneut Kanzler, auch
wenn er abgeschlagen als Zweiter durchs Ziel käme. Der christdemokratische
Sieger dagegen wäre dann unversehens zum kläglichen Loser im machtpolitischen
Wettbewerb abgestürzt. Frau Merkel wäre in Bälde nicht mehr als eine
hinterbänklerische Abgeordnete aus dem Wahlkreis Stralsund-Rügen.
Und
dies alles sollte einem Politiker wie Schröder mit seinem vitalistischen
Machtinstinkt und seiner virulenten Spielernatur nicht reizen? Für dergleichen
machiavellistische Genüsse ist er schließlich irgendwann einmal in die Politik
gegangen. Doch noch fehlen ihm entscheidende Prozente.
Professor
Franz Walter lehrt Parteienforschung an der Universität Göttingen
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