515. Bremer Montagsdemo
am 13. 04. 2015  I◄◄  ►►I

 

Für unsere Zukunft auf die Straße!

Harald BraunDie Jobcenter der Bundesagentur für Arbeit haben letztes Jahr eine halbe Milliarde Euro, die für die Förderung von Langzeitarbeitslosen vorgesehen war, zur Deckung ihrer Verwaltungskosten verwendet. Dies ging aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervor. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, ist weit davon entfernt, sich für die missbräuchliche Verwendung der Gelder zu entschuldigen. Stattdessen hat er neue Vorschläge, die Statistik zu schönen. So fordert er, den Langzeitarbeitslosen die Möglichkeit zu bieten, mit zwei Stunden Tätigkeit am Tag „einzusteigen“, oder ihnen zu „helfen“, sich in Vereinen, Kirchengemeinden oder Wohltätigkeitsorganisationen zu engagieren. Dabei könnten sie Anerkennung erfahren und Selbstbewusstsein gewinnen.

Wenn man schon von vorneherein den Maßstab senkt, nur zwei Stunden pro Tag zu arbeiten, erhöht dies zwar die Erfolgsquote der Jobcenter, aber die Chance, wieder in einen regulären Job vermittelt zu werden, rückt in noch weitere Ferne. Die Idee, ehrenamtliche Tätigkeit als Wiedereingliederungsmaßnahme zu beschwören, ist alt, aber nur eine Neuauflage der unsäglichen Ein-Euro-Jobs. Dass es der Bundesagentur für Arbeit gar nicht daran gelegen ist, das Selbstbewusstsein der Langzeitarbeitslosen zu fördern, zeigte unter anderem die „Monitor“-Sendung „Wer sich engagiert, wird bestraft“ vom 26. Februar 2015. Sie schilderte exemplarisch die Situation zweier Frauen, die sich – durchaus selbstbewusst – selber einen Ausbildungsplatz suchten, um aus der Langzeitarbeitslosenfalle zu entkommen. Da sie aber formal dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen, wurden ihnen vom Arbeitsamt sämtliche Bezüge gestrichen, und sie sind gezwungen, ihre Ausbildung abzubrechen.

Mehr als die Hälfte aller Hartz-IV-Betroffenen hat keinen Berufsabschluss, aber noch nicht mal ein Prozent kommt in den Genuss einer regulären Ausbildung. Angesichts der beschämenden Tatsache, dass Deutschland bei der Langzeitarbeitslosigkeit fast zehn Prozentpunkte über dem OECD-Schnitt liegt, bleibt Heinrich Alt nur, den Bankrott zu erklären: „Ich habe nicht die Illusion, wir könnten eine Million Langzeitarbeitslose – zumal zu Mindestlohnbedingungen – erfolgreich in den Arbeitsmarkt integrieren.“ Wir finden uns damit nicht ab, sondern kämpfen für unsere Interessen! Die Bundesdelegiertenkonferenz der Montagsdemonstrationen am 21. März 2015 in Kassel hat beschlossen, sich an der bundesweiten Zukunftsdemonstration am 23. Mai 2015 in Essen zu beteiligen. Die Koordinierungsgruppe hat den Aufruf unterzeichnet und ruft alle Montagsdemos in Deutschland zur Teilnahme auf.

Im Aufruf „Für unsere Zukunft auf die Straße“ heißt es unter anderem: „Für eine Jugendkultur der Solidarität und des Zusammenhalts statt Spaltung, Mobbing und Sexismus! Für mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze, Jugendzentren, Schwimmbäder, Sportplätze und Büchereien! Ein System, das der Jugend keine Zukunft bietet, hat selbst keine. Wir nehmen uns die Freiheit, über den Kapitalismus hinaus zu denken. Eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Kriege und Umweltzerstörung ist möglich – weltweit! Dafür und für weitere Zukunftsforderungen wollen wir am 23. Mai in Essen demonstrieren – überparteilich, antifaschistisch, selbstorganisiert und selbstfinanziert. Was sind eure Zukunftsforderungen? Werdet Unterstützer – per Mail an zukunftsdemo(at)gmx.de!“ Und kommt im Anschluss zum 17. internationalen Pfingstjugendtreffen, dem Jugendfestival der internationalen Solidarität und Freundschaft, am 23. und 24. Mai 2015 auf der Trabrennbahn in Gelsenkirchen! Auch ab Bremen wird es eine günstige Mitfahrgelegenheit geben. Näheres bei der Montagsdemo.

Harald Braun

 

Warum sollten die Armen und Abgehängten das Hartz-IV-All­par­teien­mischmasch wählen?

1. Am 31. März 2015 strahlte die ARD das Politmagazin „Fakt“ aus. In der Programmankündigung stand die berechtigte Frage „Hartz IV – Kinder als Leidtragende?“ Ich war erstaunt über so eine kluge Frage im deutschen Fernsehen und erwartete fast schon ein bisschen naiv, dass Kinder deswegen als Leidtragende dargestellt würden, weil (nicht nur) der Regelsatz für sie natürlich viel zu gering ist und die „Berechnung“ ganz herzallerliebst manipuliert wurde. Oh nein, weit gefehlt: Hier wurde nur wie üblich eine „Familie“ vorgeführt, aus einem gesellschaftlichen Problem derart ein Individualschicksal gebastelt, dass sich mir von Anfang an die Frage stellte, ob es sich hier nicht um ein „reinrassiges“ Fake handelt.

Elisabeth GrafEine von Hartz IV vegetieren müssende Familie mit zwei Kindern, natürlich jedes von einem anderen Mann, wie sie „schöner“ nicht aus dem „Hetz-Katalog“ hätte ausgeschnitten werden können. Leider musste ein Kind aus dem Kindergarten genommen werden, weil die Eltern die dafür nötige Gebühr von 25 Euro nicht aufbringen konnten. Schließlich musste das knappe Budget ja lieber – voll den gezüchteten Vorurteilen entsprechend – für Zigaretten, Ratenzahlungen und den Flachbildschirm ausgegeben werden. Resigniert zeigt die ewig Kaugummi in die Kamera kauende Mutter auf die voll eingerichteten Kinderzimmer, die von den Kindern leider nicht bewohnt werden, da sie in Pflegefamilien lebten.

Vor Jahren, als die Mutter gerade Baby Louisa stillte, habe sie vom kleinen Sohn Max verlangt, er möge sich selbst etwas zu essen machen. Weil Max dies aber nicht befolgte, sei der Mama „die Hand ausgerutscht“ und habe ihrem Sohn ein blaues Auge geschlagen. Daraufhin habe das Jugendamt erst Max und später auch Louisa aus der Familie genommen. Um auch kein Vorurteil auszulassen, sollen beide Eltern ein Alkoholproblem gehabt haben. Irgendwann sei es auch zu einer Zwangsräumung gekommen. In seiner neuen Umgebung wird Max als intelligenter, aber verhaltensauffälliger Junge beschrieben, der keinen Schulsport möge, nur Technik. Max wurde auch interviewt und die Fragen so gestellt, dass sich ein kleiner Junge öffentlich gegen seine Eltern gestellt haben soll.

 

2. In einer Zeit, in der Schlagzeilen wie „Arbeitslosigkeit sinkt auf Rekordtief“, „So viele Erwerbstätige wie nie“, „Ifo-Geschäftsklimaindex erneut gestiegen“ auf den Titelseiten prangen, haben es Erwerbslose doppelt schwer. Die Armutsquote von Arbeitslosen in Deutschland ist die mit Abstand höchste in der ganzen EU, doch Arbeitslose sind nicht nur materiell ausgegrenzt, nein, sie werden auch noch vielfältig diskriminiert. Langzeitarbeitslose, die ALG II beziehen, sind davon am meisten betroffen. Wenn die häufigen Kampagnen der „Bild“-Zeitung suggerieren, die Arbeitslosenquote sei in den letzten Jahren immer weiter zurückgegangen, dann finden anscheinend alle, die arbeiten wollen, auch eine Arbeit.

Ergo wollen die allermeisten Arbeitslosen gar nicht arbeiten. Demnach scheinen die Sozialleistungen immer noch zu hoch zu sein! Dabei ist es eine durch absolut gar nichts bewiesene Behauptung, dass die meisten Arbeitslosen nicht arbeiten wollten. Wenn nach der letzten Monat veröffentlichten Arbeitslosenstatistik 542.000 offenen Stellen rund 2,9 Millionen offiziell Arbeitslose gegenüberstehen, beweist dies, dass es keinesfalls eine Frage des Willens und der eigenen Anstrengung ist, ob jemand aus der Arbeitslosigkeit heraus einen Job findet oder nicht. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Tatsächlich hat nur ein Bruchteil der Erwerbslosen überhaupt die Chance, eine Stelle zu finden!

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass zu den rund 2,9 Millionen Arbeitslosen noch einmal rund 886.000 „Unterbeschäftigte“ dazukommen, also beispielsweise Erwerbslose, die längere Zeit krank oder mindestens 58 Jahre alt sind und seit mindestens einem Jahr keinen sozialversicherungspflichtigen Job mehr angeboten bekamen, nicht zu vergessen alle diejenigen, die an einer „Schulung“ teilnehmen (müssen – oft nur, damit die Trägergesellschaften daran verdienen und die Erwerbslosen aus der Statistik verschwinden). Auch an der Rentenpolitik lässt sich das kontinuierlich sinkende Ansehen ablesen, das Arbeitslosen in unserer Gesellschaft entgegen gebracht wird.

Für Langzeitarbeitslose, die noch in den Neunzigerjahren die damalige Arbeitslosenhilfe erhielten, wurden Beiträge auf der Basis von rund 80 Prozent des letzten Gehaltes in die Rentenversicherung einbezahlt, sodass sie im Rentenalter für diese Zeit eine annähernd gleichwertige Rente bekamen, als wenn sie weiter gearbeitet hätten. Seit dem Jahr 2000 wurden für sie nur noch Rentenbeiträge auf Basis der tatsächlich gezahlten Arbeitslosenhilfe bezahlt. Mit Einführung der menschenverachtenden Hartz-Gesetze wurden die in die Rentenkasse bezahlten Beiträge für Langzeitarbeitslose erneut gesenkt, mit der Folge, dass ein heutiger Rentner, der 2005 und 2006 Hartz IV bezog, für diese beiden Jahre rund zehn Euro Rente pro Monat erhält. 2007 wurde der Rentenversicherungsbeitrag für Langzeitarbeitslose in etwa halbiert und 2011 zur Krönung ganz abgeschafft.

Seitdem führt Langzeitarbeitslosigkeit auf direktem Wege in die Altersarmut. Arbeitslosigkeit wirkt sich jedoch auch gesundheitlich aus. Arbeitslose sind besonders häufig und besonders schwer krank. Der Deutsche Gewerkschaftsbund veröffentlichte 2010 eine Studie, wonach Arbeitslose doppelt so häufig an Krebs und viermal häufiger psychisch erkrankten wie Erwerbstätige. Die „soziale Hängematte“ ist gar keine. In einer Studie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer über Vorurteile und Diskriminierungen wurden im Zeitraum von 2002 bis 2011 vermehrte Abwertungen von als „nutzlos“ und „ineffizient“ deklarierten Gruppen festgestellt. Die Rede war also von Hartz-IV-Empfängern und Langzeitarbeitslosen.

Insbesondere bei Gutverdienerinnen und Gutverdienern habe die Verachtung von Randgruppen stark zugenommen. Heitmeyer spricht von einem „eisigen Jargon der Verachtung“ und einer „rohen Bürgerlichkeit“, die sich unter finanziell Bessergestellten etabliert hat. „In einem solchen gesellschaftlichen Klima ist es für arbeitslose Menschen verdammt schwer, menschenwürdig zu leben. Oder anders ausgedrückt: Wenn Arbeit tatsächlich unsere Religion ist, dann sind die Arbeitslosen die Exkommunizierten. Und so ist es dann höchste Zeit, diese Religion kritisch zu hinterfragen.“ Dabei haben unsere alten Religionen ebenso wie das Grundgesetz ganz andere Prinzipien, die den Menschen eine unveräußerliche Würde zusprechen und zwar ganz unabhängig davon, was er oder sie zu leisten imstande ist!

 

3. Seit den Achtzigerjahren gehen immer weniger Bremer zur Bürgerschaftswahl. Die Wahlbeteiligung sank von knapp achtzig Prozent im Jahr 1983 auf zuletzt nur noch 55,5 Prozent im Jahr 2011. Obwohl Bremen das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre senkte und das Fünf-Stimmen-Wahlrecht einführte, konnten dadurch nicht mehr Wähler erreicht werden. Landeswahlleiter Jürgen Wayand befürchtet, dass das Parlament irgendwann seine Legitimation verliert, wenn sich die Hälfte aller Wahlberechtigten nicht mehr dafür interessiert. Autoren der „Bertelsmann-Stiftung“ betonen, dass nur die wenigsten der 17 Millionen Nichtwähler in Deutschland „reflektierte Intellektuelle“ seien, die aktiv und gezielt ihre Stimme nicht abgäben und dies auch gut begründen könnten.

Die Daten zeigten es zu deutlich: Je höher die Armut und Arbeitslosigkeit in einem Stadtteil, desto geringer sei auch die Wahlbeteiligung. Die Stadt spalte sich immer stärker in Gebiete der Wähler und Gebiete der Nichtwähler auf. In gutbürgerlichen Vierteln der Gebildeten und Wohlhabenderen gehen drei Viertel der Berechtigten zur Wahl, wohingegen in armen Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit nicht einmal jeder Zweite abstimmt. Die Autoren resümieren, dass sich die Nichtwähler-Hochburgen fast ausnahmslos in Stadtteilen befinden, die mit einer Fülle sozialer Probleme zu kämpfen haben, und leiten daraus ab, dass die Wahlbeteiligung um so geringer ausfalle, je höher die Arbeitslosigkeit, je niedriger die Bildung und je schlechter die Wohnungen seien.

Sie folgerten, dass politische Beteiligung immer mehr zu einer „exklusiven Veranstaltung“ werde. Zweifeln Bremens Politiker nun an der normalen Intelligenz der Nichtwähler, oder warum wurde ein paar Wochen vor der neuen Bürgerschaftswahl in jeden Haushalt ein Großumschlag verschickt, in dem das Wählen in „leichter Sprache“ erklärt wurde? Es sei auch darüber diskutiert worden, Wahlurnen in Einkaufszentren aufzustellen. Sollten Nichtwähler damit überfordert sein, selbständig den Weg zu den für sie zuständigen Wahllokalen zu finden? Ich fürchte, hier wird etwas ganz Entscheidendes nicht verstanden oder will nicht verstanden werden!

Warum in aller Welt sollten finanziell Arme und Abgehängte, gesellschaftlich Ausgeschlossene wohl auf die Idee kommen, ausgerechnet jene Politiker zu wählen, die sie abgehängt haben beziehungsweise weiter abhängen lassen und sich ganz bestimmt nicht für die Verbesserung ihrer Situation einsetzen? Die Hartz-Gesetze, die staatlich verarmen sollen, wurden von der CDU/CSU, der FDP, der SPD und den Grünen gemeinsam verabschiedet, welche sich damit für die Ausgeschlossenen und Abgehängten des Prekariates zu einem in wichtigen, für sie existenziellen Bedingungen kaum voneinander zu unterscheidenden Allparteienmischmasch gemacht haben. Das hat doch wohl kaum etwas mit mangelnder Bildung zu tun! „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“, sagte Bertolt Brecht.

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
„Schlimmer als Realsatire“: Leichte Sprache ist bildungsfeindlich –
und kaum jemand widerspricht dem Irrglauben, es müsse
die Sprache geändert werden, um benachteiligten Menschen Zugang
zum öffentlichen Leben zu ermöglichen („Neue Zürcher Zeitung“)
Benachrichtigung zur 'Wahl von der Bremischen 
Bürgerschaft' in 'leichter Sprache' (2015, Seite 1)
Benachrichtigung zur 'Wahl von der Bremischen 
Bürgerschaft' in 'leichter Sprache' (2015, Seite 2)
 
Unter-Gang von dem Abend-Land“: Worin besteht die Legitimation
der Bremer Recht-Schreib-Reform? („Spiegel-Online“)
 
Die nächste Bremer Montagsdemo findet am 20. April 2015 wieder ab 17:30 Uhr auf dem Marktplatz statt. Unter dem Motto „Gegen das Sterbenlassen auf dem Mittelmeer! Fähren statt Frontex!“ beginnt dort bereits um 17 Uhr eine Trauerkundgebung und Demonstration zum Senator des Inneren.

 

www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz