499. Bremer Montagsdemo
am 01. 12. 2014  I◄◄  ►►I

 

Ein Lob dem Land der
Stifter und Schenker

Elisabeth Graf1. Der „Verband alleinerziehender Mütter und Väter“ weist darauf hin, dass sich die finanzielle Situation von Kindern getrennt lebender Eltern im Hartz-IV-Bezug zukünftig wesentlich verschlechtern könnte. Bisher erhält der Elternteil, bei dem das Kind hauptsächlich lebt, die sogenannte Hauptbedarfsgemeinschaft, das Sozialgeld für das Kind. Geplant ist jedoch, dass der betreuende Elternteil das Sozialgeld für das Kind für die Tage, an denen sich der anderen Elternteil um das Kind kümmert, an diesen weitergeben muss, sodass sich eine Kürzung für die Hauptbedarfsgemeinschaft ergibt und die Existenz des Kindes nicht mehr gewährleistet sein kann. Schließlich kann das Kind die angefangene Milchpackung nicht mit rübernehmen. Auch Fixkosten und Anschaffungen wie Kleidung oder Schuhe werden nicht tageweise eingespart.

Der Verband weist darauf hin, dass die Regelung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts widerspricht, wonach der entstehende finanzielle Mehrbedarf bei Bedürftigkeit der Eltern von den Grundsicherungsträgern zu übernehmen ist, selbst wenn die anspruchsberechtigten Kinder dadurch insgesamt ein höheres Sozialgeld erhalten. Auch würden die geplanten Kürzungen Alleinerziehende in einen Interessenskonflikt bringen, da die Existenzsicherung des Kindes in der Hauptbedarfsgemeinschaft umso schwieriger wird, je öfter sich das Kind beim anderen Elternteil aufhält.

In München soll ab Januar 2015 für alle Bezieherinnen von Hartz IV die Ver­hü­tung bezahlt werden. Hartz-IV-Bezieher bekommen neben den Kosten für die Unterkunft nur 391 Euro zum Vegetieren, wovon außer den immens gestiegenen Stromkosten Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke, Bekleidung und Schuhe, Wohnen und Energie, Fahrkarten, Bildung, Freizeit und Kultur bezahlt werden sollen. Für Gesundheitspflege, wozu alle Cremes, Shampoos, nicht verschreibungspflichtige Medikamente, Rezeptgebühren und so weiter zählen, sind nur absolut utopische 16,81 Euro vorgesehen. Die „Pille“ kostet allein zehn Euro im Monat, und der Bund übernimmt die Kosten nur bis um 20. Lebensjahr, wodurch die Zahl der Abtreibungen steigt.

Ich persönlich kann es nicht nachvollziehen, wie Frauen sich dazu bereit erklären können, Hormone zu schlucken, aber das muss jede Frau unabhängig von ihrem Geldbeutel selbst entscheiden können. Weil die Kosten aber bei 1,6 Millionen Euro liegen würden, protestiert Stadtkämmerer Ernst Wolowizc, der Mehraufwand komme einer freiwilligen Regelsatzerhöhung gleich, deren Rechtmäßigkeit fraglich sei. Ich weiß gar nicht, was die ganze Aufregung soll! Wenn die anderen Städte nachziehen, kann doch die „Produktion“ neuer Hartz-IV-Bezieher gezielt gedrosselt werden, und bestimmt lässt sich auch durch Einsparungen an bereits vorhandenen Kindern von transferleistungsbeziehenden Alleinerziehenden wieder Geld zurücklegen.

 

2. Immer mehr Bundesbürger können wegen steigender Preise ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen. Im vergangenen Jahr wurde fast 345.000 Haushalten zeitweilig der Strom abgestellt. Jedoch haben noch weitaus mehr Haushalte Probleme mit ihrer Stromrechnung: 2011 erhielten rund sechs Millionen die Drohung, dass ihnen der Stromzufluss gekappt werden soll, 2013 waren es bereits fast sieben Millionen. So können immer öfter Hunderttausende Menschen keine elektrischen Geräte einschalten. Sie sitzen im Dunkeln und Kalten, denn auch viele Heizungen benötigen eine Stromzufuhr.

„Linken“-Fraktionsvize Caren Lay spricht deshalb von einem Anschlag auf die Menschenwürde. Sie wirft der Bundesregierung vor, eine Stromaufsicht zu verweigern und mit ihrer Politik dafür zu sorgen, dass der Strompreis seit 2008 für private Haushalte um 38, für die Industrie aber nur um 13 bis 15 Prozent gestiegen ist, was ein schweres soziales Versagen sei. Ein wesentlicher Grund für die hohen Strompreise sind die staatlich verursachten Abgaben und Steuern, die derzeit 52 Prozent der monatlichen Stromrechnung ausmachen.

Ein durchschnittlicher Haushalt mit drei Personen und einem Jahresverbrauch von 3.500 Kilowattstunden zahlt rund 85 Euro im Monat für Strom. Davon entfallen knapp 45 Euro auf Steuern und Abgaben. Bei den staatlichen Abgaben schlägt vor allem die „Umlage zur Förderung der erneuerbaren Energien“ kräftig zu Buche: Ein durchschnittlicher Haushalt muss derzeit 18 Euro pro Monat dafür zahlen, 2013 waren es noch 13 Euro. Die Linkspartei fordert die Bundesregierung auf, umgehend Maßnahmen zur Senkung der Stromkosten für die Verbraucher zu ergreifen. Ich schließe mich dem sozialpolitischen Sprecher der Bremer Linkspartei, Peter Erlanson, an und fordere ein Verbot von Energiesperren!

 

3. Nicht nur für den Armutsforscher Christoph Butterwegge gibt es keinen Grund zu feiern, wenn am 1. Januar 2015 die Hartz-Gesetze zehn Jahre alt werden, weil diese „Reformen“ zur Spaltung der Gesellschaft geführt und tiefe seelische Verwundungen hinterlassen hätten. Sowohl die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen als auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer „Bedarfsgemeinschaft“ zusammenlebenden Personen werden stigmatisiert, sozial ausgegrenzt und isoliert. Seit die Furcht vor dem materiellen Absturz sogar in der Mittelschicht um sich greift, stehen Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften unter einem stärkeren Druck, geringere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.

Zeitweilig „lebten“ fast siebeneinhalb Millionen Personen – darunter etwa fünfeinhalb Millionen ALG-II-Bezieher und rund zwei Millionen Sozialgeldbezieher, meistenteils Kinder unter 15 Jahren – in über vier Millionen „Bedarfsgemeinschaften“. Nicht nur das Verhältnis von Staat und Leistungsberechtigten sowie von Bürgern zu Leistungsbeziehern wandelte sich: Die Hartz-Gesetzgebung veränderte Deutschland mitsamt seinem Wohlfahrtsstaat. Wenn nach den immateriellen Schäden, seelischen Verwundungen und Veränderungen im Alltagsbewusstsein gefragt werde, die besonders Hartz IV unter den Betroffenen hervorgerufen beziehungsweise hinterlassen hat, brauche das Gesetzespaket womöglich „selbst einen Vergleich mit beiden Weltkriegen nicht zu scheuen“.

Das Hartz-IV-System sei totalitär, weil es sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringe, die Betroffenen nicht mehr loslasse, ihren Alltag völlig beherrsche und sie zwinge, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten. Deutschland verwandelte sich in ein sozial fragmentiertes, polarisiertes Land, in dem sich eine „Hartz-IV-Welt“ mit einer ausgeprägten Subkultur von Hartz-IV-Kochbüchern über Sozialkaufhäuser bis zu Hartz-IV-Kneipen herausgebildet hat. Praktischerweise sorgte die rot-grüne Koalition mit der gleichzeitig eingeführten Pfandpflicht dafür, dass Transferleistungsbezieher und Niedriglöhner ebenso wie Altersrentner ihr karges Haushaltseinkommen durch das Sammeln und die Rückgabe von Pfandflaschen und Getränkedosen aufbessern können.

Immer mehr Erwerbslose sind resigniert oder voll ohnmächtiger Wut auf „die Etablierten“. Auf der anderen Seite des „abgehängten Prekariats“ entstehen Lu­xus­quar­tie­re, in denen sich die „Superreichen“ hinter den hohen Mauern ihrer Villen verschanzen. Weil die sogenannte Grundsicherung eben nicht zum Leben reicht und der Staat sich bewusst aus seiner sozialen Verantwortung zieht, müssen sich die Abgehängten, ökonomisch Überflüssigen vom Wohlstandsmüll der „Lebensmitteltafeln“ und Suppenküchen ernähren, abgelegte Kleidung aus Wäschekammern tragen, aus Möbellagern Sperrmüll für die Wohnzimmereinrichtung und den verbleibenden Rest aus eigens für sie geschaffenen Sozialkaufhäusern besorgen.

Butterwegge polemisiert so schön, dass aus dem „Land der Dichter und Denker“ ein „Land der Stifter und Schenker“ wird, die für Arme und Bedürftige sorgen. Er resümiert allerdings, dass zivilgesellschaftliches oder bürgerschaftliches Engagement die im Grundgesetz verankerten sozialen (Staats-)Bürgerrechte nie vollwertig ersetzen kann. Die sogenannten Wirtschaftsweisen scheuen sich aber nicht, die Bundesregierung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu loben: Mit der Agenda 2010 sei „der richtige Weg zur deutschen Erfolgsökonomie“ beschritten worden.

Ihnen scheint die galoppierende Armut gar nicht weit genug zu gehen, oder warum „warnen“ sie zugleich davor, dass keine „sozialen Wohltaten“ erlaubt seien? Das neue Rentenpaket müsse rückentwickelt werden. Die Sozialverbände weisen allerdings auf die Gefahr einer bevorstehenden „Armutslawine“ vor allem bei den Alten hin. Wenn 5,3 Millionen Menschen von einer Pseudogrundsicherung abhängig sind, müssen sie zwar wenigstens nicht verhungern, haben aber keine Chance, am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilzunehmen. Jetzt feiern wir Hartz IV, dank sei dir dafür!

Elisabeth Graf (parteilos, aber Partei ergreifend) – siehe auch „Die Linke
 
„Beschämendes Armutszeugnis“: Jede(r) sechste Bremer(in) ist auf die staatliche Grundsicherung angewiesen („Bild“-Zeitung)
 
„Früher war mehr Lametta“: 1936 erhielten Bergleute erstmals Weihnachtsgeld als streikdämpfende Maßnahme in kriegswichtigen Betrieben („Nahraum“)
 

 
Terrorwarnung zu Weihnachten: Dank flächendeckender Styropor-Wärmedämmung lassen sich in Deutschland mit dem Feuerzeug
ganze Stadtbrände entfachen („Berliner Kurier“)
 
Am 8. Dezember 2014 findet die 500. Bremer Montagsdemo statt. Wir wollen das mit euch feiern: Zuerst auf dem Hanseatenhof, ab 17:30 Uhr – und hinterher ab 19 Uhr im Jugendfreizeitheim Buntentor im Geschwornenweg 11. Das ist gleichzeitig unsere diesjährige Weihnachtsfeier.
Wir würden uns sehr freuen, wenn auch die „alten“ Weggefährten zu diesem Jubiläum kommen würden – alle, die irgendwann schon mal an der Montagsdemo teilgenommen haben und sich dem Kampf gegen
die Hartz-Gesetze und den anderen Themen der Montagsdemo verbunden fühlen. Höchst willkommen sind auch kulturelle Beiträge jeglicher Art, politische und kulinarische Beiträge. Wir freuen uns auf euch!
www.Bremer-Montagsdemo.de – 17:30 Uhr am Marktplatz