Dokumentation
Die
Köhler-Rede
Bundespräsident Horst Köhler hat den Bundestag
aufgelöst. Seine Entscheidung gab das Staatsoberhaupt am Donnerstag in einer
Fernsehansprache bekannt. SPIEGEL ONLINE dokumentiert den Wortlaut.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
ich habe heute den 15. Deutschen
Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt. Unser Land
steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf
dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die
Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen
Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder,
und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen
Wettbewerb behaupten.
In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine
Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei
ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verlässliche,
handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen. Der Bundeskanzler hat am 1.
Juli vor dem Bundestag deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen
Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik
mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten
gedroht. Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält der
Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme nicht für dauerhaft
tragfähig. Die Lagebeurteilung des Bundeskanzlers hat mir auch der Vorsitzende
der SPD-Fraktion aus seiner Sicht bestätigt.
Ich weiß: Viele Menschen
haben in den vergangenen Wochen Unbehagen wegen des Verfahrens empfunden, das
eingeschlagen worden ist. Sie zeigen damit, wie wichtig ihnen das Grundgesetz
ist. Darüber freue ich mich.
In der Tat hat sich unsere Verfassung in
über 50 Jahren bewährt. Sie sieht aus guten Gründen nur ausnahmsweise
vorgezogene Wahlen vor. Das Grundgesetz ermöglicht es aber dem Bundeskanzler,
eine parlamentarische Vertrauensfrage mit dem Ziel zu stellen, vorgezogene
Wahlen herbeizuführen.
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
war dies zwei Mal der Fall: 1972 und 1983. Eine Niederlage des Bundeskanzlers
bei dieser Abstimmung allein reicht jedoch nicht aus, um den Bundestag
aufzulösen. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine
Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine von stetiger
Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann. So gibt
es das Bundesverfassungsgericht vor. Und so sieht der Bundeskanzler seine
Lage.
Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend geprüft. Dazu
habe ich viele Gespräche mit den verantwortlichen Politikern und mit
Rechtsexperten geführt. Ich bin den Bürgerinnen und Bürgern dankbar, die mir in
Gesprächen, Briefen und E-Mails ihre Meinung mitgeteilt haben.
Nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1983 hat der
Bundespräsident die Einschätzung des Bundeskanzlers zu beachten, es sei denn,
eine andere Einschätzung ist eindeutig vorzuziehen. Ich habe Respekt vor allen,
die gezweifelt haben, und ich habe ihre Argumente gehört und ernsthaft gewogen.
Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des
Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit
die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages
gegeben sind.
Damit ist es nach dem Grundgesetz meine Pflicht als
Bundespräsident zu entscheiden, ob ich Neuwahlen ansetze oder nicht. In meiner
Gesamtabwägung komme ich zu dem Ergebnis, dass dem Wohl unseres Volkes mit einer
Neuwahl jetzt am besten gedient ist.
Es ist richtig, dass in der heutigen
Situation der demokratische Souverän - das Volk - über die künftige Politik
unseres Landes entscheiden kann. Die Parteien fordere ich auf, den Bürgerinnen
und Bürgern ihre Vorstellungen über die Lösung der Probleme sachlich und
wahrhaftig zu vermitteln. Ich bin ganz sicher: Wir haben die Begabung und die
Fähigkeit, unsere Freiheit zu sichern und einen modernen Sozialstaat zu
gestalten.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, jetzt haben Sie es in der
Hand. Schauen Sie bitte genau hin. Demokratie heißt, die Wahl zu haben zwischen
politischen Alternativen. Machen Sie von Ihrem Wahlrecht sorgsam Gebrauch.
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