30.01.2007 / Schwerpunkt / Seite 3
Heute jung, morgen arm
Rente mit 67? Sozial gerecht wären mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten und ein früherer Ruhestand. Doch das könnte die Profite des Kapitals schmälern
Hubert Zaremba
Heute in Deutschland Geborene können im Schnitt ein Lebensalter von 80 Jahren erwarten. Das ist fast doppelt so viel wie vor hundert Jahren. Sinkende physische Belastung durch kürzere Arbeitszeiten, bessere Ernährung und intensivere Gesundheitsbetreuung machen es möglich. Eine Funktion sozialstaatlicher Umverteilung besteht darin, an sich vermögenslosen Lohnabhängigen nach ihrem Arbeitsleben eine Altersrente zu gewähren. Sie soll ihnen die erlangte Lebensführung bis zum Lebensende sichern. Dafür dienen zentral verwaltete Lohnbestandteile der noch arbeitenden lohnabhängig Beschäftigten. Die Gesamtauszahlung der gesetzlichen Rentenversicherung belief sich 1995 auf 184,8 Milliarden Euro. Inklusive der enthaltenen staatlichen Steuerzuschüsse, abgedeckt durch einen Großteil der Ökosteuer, erhöhten sich die Auszahlungen bis 2003 auf 238,2 Milliarden Euro.
Ohne Zuschüsse aus Massensteuern bliebe zur Erfüllung der Rentenansprüche nichts übrig, als die Beiträge zu erhöhen. Dies würde erhebliche Lohnerhöhungen nach sich ziehen. Denn was ist Lohn? Nichts anderes, als der Wert der Existenzmittel einer Arbeitskraft. Diese braucht sie unter gegebenen hiesigen Umständen, um gesund, munter und pünktlich die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung zu erbringen. Da der Nachwuchs nicht umsonst aufwächst und das Leben der meisten Ruheständler weitergeht, muß dieser Kostenaufwand mit in den Lohn eingehen. Mehr Rentner aus geburtenstarken Jahrgängen, die auch noch länger leben, benötigen daher einen größeren Anteil der jährlichen Wertschöpfung. Höhere Löhne schmälern jedoch bei geringen Wachstumsraten die Gewinne der Unternehmen, bzw. ihrer Eigner.
Boom der Profite
Das Bruttoinlandsprodukt der BRD wuchs seit 1991 von 1,53 Billionen auf etwa 2,25 Billionen Euro 2005. Davon flossen als sogenanntes Volkseinkommen 1,69 Billionen Euro zurück auf die Konten der Einwohner. Etwa neunzig Prozent von denen, nebst Kindern, waren oder sind Lohnabhängige. Deren Quote am Volkseinkommen sinkt. Umfaßten die Löhne 2002 noch 71,4 Prozent, sackten sie bis 2005 auf 67,0 Prozent ab. Dagegen stieg der Anteil des Volkseinkommens, der aus Unternehmens- und Vermögenseinkommen stammt, zwischen 2003 und 2005 von 30,1 Prozent auf 32,7 Prozent. Möglich machte das eine im Verhältnis zum wachsenden Bruttoinlandsprodukt mäßige Entwicklung der Bruttolöhne – der Gesetzgeber deckelte oder kürzte Lohnbestandteile für Gesundheit, Erwerbslosenunterstützung und Renten. Die stagnierenden Beitragseinnahmen der gesetzlichen Rentenversicherungsträger (ohne Knappschaftsversicherung) entsprechen dem politischen Diktum, die Beiträge vorerst nicht über zwanzig Prozent des Bruttolohns anzuheben. Wurden 2003/2004 jeweils 168,4 Milliarden Euro eingenommen, hieß es 2005, sich mit 168,0 Milliarden zu begnügen.
Wo »Reform« Kürzung meint, unterliegen alle Sozialversicherungszweige speziellen Methoden der Beitragsdrosselung. Stellen wir uns einen Betrieb mit hundert Beschäftigten vor, die alle auf ihrem Lohnzettel 2000 Euro Bruttoverdienst ausgewiesen bekommen. Jeder zahlt ewa zwanzig Prozent Sozialversicherungsbeiträge: Zehn Prozent für Rente, sieben Prozent für Gesundheit/Pflege, drei Prozent Erwerbslosenbeitrag. Das macht 400 Euro monatlich. Der Unternehmer kalkuliert anders. Die hälftige Berechnung der Sozialbeiträge veranlaßt ihn von vornherein, weitere zwanzig Prozent vom Bruttolohn für die Arbeitskraft »einzupreisen«. Sie kostet ihn tatsächlich 2400 Euro. Dieser Lohn ist nicht auf den Millionen individuellen Abrechnungen ausgewiesen, aber da real gezahlt, in der statistischen Bruttolohnquote erfaßt.
Kein Arbeitsmarkteffekt
Sowenig es Lohnnebenkosten gibt, sowenig gibt es eine Bruttolohnnebenquote. Nehmen wir nun an, die Politik verordnet eine Beitragssenkung von einem Prozent bei den Krankenkassenbeiträgen. Der einzelne Beschäftigte freut sich. Denn, wiederum hälftig berechnet, findet er zwanzig Euro mehr auf seinem Lohnzettel. Über die Leistungsminderung oder Zuzahlung wundert er sich später beim Arztbesuch. Noch mehr freut sich der Unternehmer. Pro Nase darf er jetzt zwanzig Euro weniger Lohn zahlen. Monatlich bei hundert Beschäftigten sind das 2000 Euro, im Jahr 24000. Hochgerechnet auf zwanzig Millionen Vollzeiterwerbstätige bei gleichem Verdienst wären das monatlich 400 Millionen – also 4,8 Milliarden Euro im Jahr – die die Unternehmer insgesamt als Klasse verbuchen könnten.
Nun heißt es offiziell: Diese ersparten Lohnzahlungen erlauben Neueinstellungen. Aber weshalb? Bleiben wir beim Beispiel des Betriebs mit hundert Beschäftigten. Der Arbeitsanfall bleibt doch gleich. Bei saisonal anfallender Mehrarbeit tun es auch Überstunden. Ob offen oder verdeckt: Niedrigere Löhne führen nicht zu mehr Arbeitsplätzen.
Umgekehrt ist es richtig. Je früher Beschäftigte von ihrem Arbeitsplatz ins Rentnerdasein wechseln, desto eher kann eine andere Arbeitskraft ihn einnehmen. Längere Lebensarbeitszeiten blockieren das Nachrücken. Die IG Metall hat errechnet, daß eine Rentenbeitragserhöhung von 0,5 Prozent die Einführung der Rente ab 67 erübrigen würde. Dabei beschäftigt nur noch ein Drittel aller Betriebe Leute, die älter sind als 50 Jahre. »Rente ab 60 für alle«, wäre die richtige Forderung. Dazu eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung auf den Sechsstundentag, um Vollbeschäftigung bei geringerer Arbeitsbelastung für alle herbeizuführen.