Hier die Armen, dort die Wohlhabenden
Bremer Soziologe Günter Tempel: Die Benachteiligten bleiben in den Stadtteilen zunehmend unter sich
Von unserer Redakteurin Elke Hoesmann |
BREMEN. Arbeitslosigkeit und Armut haben auch in Bremen die Trennung von Bevölkerungsgruppen (Segregation) verstärkt. Die Stadt splittet sich in Quartiere der Wohlhabenden und in die der so genannten A-Gruppen: Arme, Arbeitslose, Ausländer. "Die sozialen Gegensätze verschärfen sich", sagt Günter Tempel (Gesundheitsamt) im Redaktionsgespräch. Der promovierte Soziologe hat für die Stadt Bremen die "Auswirkungen sozialer Polarisierung" analysiert. "Es ist zu befürchten", schreibt er in seiner Studie, "dass dieser Prozess zu einer dauerhaften Ausgrenzung von Teilen der städtischen Armutsbevölkerung führt." Die wachsende Segregation hat laut Tempel drei wesentliche Ursachen: Der Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau mindert die Möglichkeiten armer und diskriminierter Bevölkerungsgruppen, eine Wohnung zu bekommen. "Ihnen stehen nur die weniger begehrten Wohnanlagen offen, und Belegungsrechte haben die Sozialbehörden häufig nur noch in Hochhaussiedlungen am Stadtrand." Haushalte mit höherem Einkommen verlassen die problematisch werdenden Wohnviertel - und verstärken somit die soziale Entmischung. Eine weitere Ursache: Wenn Fabriken schließen, kann dies zum Niedergang ganzer Wohnquartiere führen. In Bremen stellten die Schließungen der AG "Weser" und der Vulkan-Werft die angrenzenden Stadtteile vor massive Probleme. "Traditionelle Arbeiterviertel verwandeln sich in Arbeitslosenviertel", zitiert Tempel einen führenden Stadtforscher. Aus diesen Quartieren wandern wiederum diejenigen ab, die es sich noch leisten können. Zwischen 1970 und 2002 verringerte sich die Bevölkerung in den einstigen Bremer Arbeitervierteln (zum Beispiel Hemelingen, Gröpelingen) um 14,5 Prozent. In den Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus (zum Beispiel Vahr, Tenever, Blockdiek) nahm die Bevölkerung um fast zehn Prozent ab. Dagegen wuchs die Einwohnerzahl in den so genannten bürgerlichen Vierteln (Schwachhausen, Oberneuland) um 4,7 Prozent, so das Statistische Landesamt. Dort blieb auch der Ausländeranteil mit 6,1 Prozent (2002) relativ niedrig. In den Großsiedlungen stieg er hingegen auf 18,4 Prozent, in den Arbeitervierteln auf 17,2 Prozent. Bei den Herkunftsländern hat Tempel einige Besonderheiten herausgefunden: "Während in den bürgerlichen Vierteln über ein Drittel der ausländischen Wohnbevölkerung aus EU-Ländern oder den USA stammen, sind in den Arbeitervierteln über 50 Prozent der Ausländer Türken. In den Großsiedlungen ist jeder vierte Ausländer polnischer oder russischer und jeder dritte türkischer Staatsbürger." Ungleiche Bildungschancen verfestigen die sozialen Diskrepanzen: Über zwei Drittel der Siebt- bis Zehntklässler in den bürgerlichen Vierteln gehen zum Gymnasium (Statistik von 2002); in den Großsiedlungen beträgt dieser Anteil nur ein Fünftel, in Arbeitervierteln knapp ein Drittel. Zweifel an der Qualität der Schulen in sozialen Brennpunkten bewirken überdies weitere Abwanderungen der besser integrierten Haushalte. Tempel: "So bleiben die Benachteiligten zunehmend unter sich und beginnen die Verbindung zur Gesellschaft zu verlieren."Mit zunehmender sozialer Ungleichheit vergrößern sich laut Tempel auch die Unterschiede in der Lebenserwartung und Sterblichkeit der Bevölkerungsgruppen. In den bürgerlichen Vierteln der Stadt sei die mittlere Lebenserwartung eines neugeborenen Jungen von 1970 bis 2003 um fast sieben Jahre auf 77,9 gestiegen - in den Hochhaussiedlungen am Stadtrand dagegen nur um vier Jahre auf 73,1. Noch geringer sei die mittlere Lebenserwartung in den Arbeitervierteln, 2003 betrug sie bei den neugeborenen Jungen 72,5 Jahre. Die Gesamtsterblichkeit bei den Männern lag laut Tempel in den Arbeitervierteln um 54,1 Prozent und in den Hochhäusern um 52,2 Prozent höher als in den bürgerlichen Quartieren. Anlass zur Sorge, so Tempel, gebe die neue Entwicklung der Säuglingssterblichkeit in den Bremer Großsiedlungen. "Im Vergleich zu den bürgerlichen Vierteln beträgt sie jetzt mehr als Doppelte." In den bürgerlichen Vierteln seien zuletzt 4,5 unter einjährige Kinder pro tausend lebend Geborene gestorben, in den Großsiedlungen dagegen 10,8. Wer diese Zahl im internationalen Maßstab einordnet, so Tempel, erfährt Erstaunliches: Dieser Wert ist genau so hoch wie der bei den schwarzen Babys in New York. Die Studie "Die Auswirkungen sozialer Polarisierung. Zur Entwicklung der Lebenserwartung und Sterblichkeit in ausgewählten Bremer Wohngebieten" von Günter Tempel (Kommunale Gesundheitsberichterstattung) kann im Internet als pdf-Datei unter www.gesundheitsamt-bremen.de/aktuelles heruntergeladen werden.
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