SPIEGEL ONLINE - 02. Dezember 2005, 10:17
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Arbeitsmarkt
 
Müntefering nimmt Wirtschaft in die Pflicht

Arbeitsminister Müntefering hat im Bundestag die Wirtschaft aufgefordert, ihrer sozialen Verantwortung nachzukommen. Er gehe davon aus, dass die Unternehmen Arbeitsplätze sichern und schaffen. Durch eine Korrektur bei Hartz IV will der Minister 600 Millionen Euro einsparen.

Berlin - Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) hat den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt. "Wir gehen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist. Das heißt auch, Arbeitsplätze zu sichern und Arbeitsplätze zu schaffen", sagte Müntefering im Bundestag.

Die schwarz-rote Bundesregierung sehe sich dem Erhalt der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. "Die Menschen sollen frei sein von Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und sozialer Not", sagte er in der arbeitsmarktpolitischen Debatte während der Generalaussprache nach der Regierungserklärung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Der Koalitionsvertrag habe dafür die richtigen Weichen gestellt. Es werde "das Machbare getan" und das "Wünschbare im Blick" behalten, sagte der Vizekanzler im Parlament.

Die "notorischen Quengler" und "mutlosen Zweifler" würden in Zukunft keinen Chance mehr haben, zeigte sich Müntefering mit Blick auf das Regierungsprogramm bis 2009 überzeugt. Er räumte ein, dass die Zahl von 4,5 Millionen Arbeitslosen viel zu hoch sei. Daher habe die Regierung ein 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm aufgelegt, obwohl der Staat "nur bedingt Arbeitsplätze schaffen kann".

Nun seien die Arbeitgeber am Zuge, die "Attraktivität des Standortes Deutschland" durch den Erhalt von Arbeitsplätzen zu sichern. "Da sind alle gefordert, auch die deutsche Wirtschaft", sagte der Minister. Das betreffe nicht zuletzt die Bereitstellung von Lehrstellen oder die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer. Ein "faktischer Renteneintritt" mit 60 Jahren sei nicht länger möglich.

Die Bekämpfung der Schwarzarbeit bezeichnete Müntefering als eines der drängenden Probleme. "Es kann nicht sein, dass der ehrliche Arbeitnehmer der Dumme ist", sagte der Minister. Schließlich entstünden der Gemeinschaft Schäden von mehr als 200 Milliarden Euro allein durch Schwarzarbeit. Auf der anderen Seite gehe es um Existenz sichernde Löhne. Hier werde es im ersten Halbjahr 2006 eine Entscheidung der neuen Regierung geben.

Ferner bekannte sich Müntefering zu einer Überarbeitung der Hartz-IV-Regelungen: "Wir werden das Gesetz an einigen Stellen korrigieren", sagte er und nannte als Sparziel 600 Millionen Euro. So sollen unter 25-Jährige weniger staatliche Leistungen erhalten und der Missbrauch durch sogenannte Bedarfsgemeinschaften eingeschränkt werden.

Schließlich verteidigte der SPD-Politiker die von Schwarz-Rot geplante Aufweichung des Kündigungsschutzes, wo eine Ausweitung der Probezeit auf zwei Jahre vorgesehen ist. Als Begründung führte Müntefering an, die bisher schon mögliche Befristung von Arbeitsverträgen werde nur durch eine Neuregelung der Probezeit ersetzt.
 


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SPIEGEL ONLINE - 02. Dezember 2005, 17:15
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Bundestagsdebatte
 
Müntefering und die Nobodys

Von Carsten Volkery

Die Arbeitslosigkeit gilt als Hauptproblem Deutschlands, doch die heutige Debatte im Bundestag verlief merkwürdig uninspiriert: Auf die Mini-Regierungserklärung von Vizekanzler Müntefering antworteten nur Hinterbänkler.

Berlin - Fragende Blicke empfingen Franz Müntefering, als er heute Morgen mit einem roten Schal auf der Regierungsbank neben der Kanzlerin Platz nahm. Angela Merkel lächelte und machte eine Bemerkung, woraufhin Müntefering den Schal - sein politisches Markenzeichen, das er auch nach dem Rücktritt als SPD-Chef nicht abgelegt hat - unter der Bank verschwinden ließ.

Nach der Regierungserklärung der Kanzlerin vor zwei Tagen gab heute der Vizekanzler im Bundestag seine Visitenkarte ab. Das Kabinett war fast vollzählig erschienen, um die Mini-Regierungserklärung zum Thema Arbeit und Soziales zu hören, doch das Plenum blieb auffällig leer. Die meisten Fraktionschefs fehlten, weder Guido Westerwelle (FDP) noch Oskar Lafontaine (Linkspartei) oder Peter Struck (SPD) waren zu sehen.

Müntefering blieb sich treu: Er zündete kein rhetorisches Feuerwerk, sondern wiederholte größtenteils Passagen jener Rede, mit der er vor der Wahl über die Marktplätze gezogen war. Der kleine Unterschied: Heute applaudierte auch die Unionsfraktion heftig, wenn Müntefering gegen die Schwarzarbeit wetterte und eine Lanze für die "ehrlichen Arbeitnehmer" brach. Oder wenn er die soziale Verantwortung der Wirtschaft bei der Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen anmahnte. Der Vizekanzler vermied jegliche "Heuschrecken"-Polemik, doch seine Worte gefielen sogar der Linkspartei, deren Vertreterin ihm hinterher zur "ersten sozialdemokratischen Rede seit drei Jahren" gratulierte.

Über mangelndes Glück kann sich der neue Arbeitsminister bisher nicht beklagen. Gestern waren die neuen Arbeitslosenzahlen veröffentlicht worden: Zum ersten Mal seit elf Jahren ist die Zahl der Arbeitsplätze in einem November nicht zurückgegangen, sondern gestiegen. Dies sei eine günstigere Entwicklung als erwartet, freute sich Müntefering. Eine Lösung des Problems sei es aber noch nicht. Der Staat könne nur bedingt Arbeitsplätze schaffen. Mit dem angekündigten 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm leiste er immerhin einen Beitrag.

Den Ausbildungspakt bezeichnete Müntefering als Erfolg, erinnerte aber daran, dass viele junge Menschen auch weiterhin "in Warteschleifen" seien. Zur niedrigen Erwerbsquote bei den über 55-Jährigen erklärte er, viel zu lange habe man sich eingeredet, mit Vorruhestandsregelungen die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. In Wirklichkeit seien viele Frührentner schlicht Arbeitslose. "Da dürfen wir uns nicht vormachen."

Die anschließende Aussprache war merkwürdig uninspiriert. Die Arbeitslosigkeit gilt als Hauptproblem des Landes, doch die Debatte wurde vor allem von Hinterbänklern geführt. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel war noch der prominenteste unter den Rednern, die auf Müntefering antworteten. Für die Union trat Ilse Falck an, gerade erst zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden für den Bereich Arbeit und Soziales gewählt. Für die Rednerinnen von Linkspartei, Kornelia Möller, und der Grünen, Brigitte Pothmer, war es gar die erste Rede im Bundestag.

Sie alle warfen Müntefering die geplante Mehrwertsteuererhöhung vor, die die SPD im Wahlkampf abgelehnt hatte. Niebel kritisierte auch die Aufspaltung des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Dies schaffe nur neue Arbeitsplätze in der Regierung.

Müntefering plädierte indirekt für eine "Politik der kleinen Schritte" auch in seinem Bereich. So hatte Merkel am Mittwoch die Arbeitsweise der Großen Koalition beschrieben. In den nächsten Monaten werde man eine Debatte über "existenzsichernde Löhne" führen, kündigte Müntefering an. Dies könnten Mindestlöhne oder Kombilöhne sein. Eine Entscheidung solle im ersten Halbjahr 2006 fallen, bis dahin werde man diskutieren. "Diese Freiheit nehmen wir uns."

Auch die Aufbruch-Rhetorik, die das Ost-Duo Merkel und SPD-Chef Matthias Platzeck zum Markenzeichen gemacht hat, eignete Müntefering sich an. Die "Lust im Lande" wachse, sagte er. "Die notorischen Quengler haben keine Chance, sie bleiben allein zurück."
 


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SPIEGEL ONLINE - 02. Dezember 2005, 16:38
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Arbeitsmarkt
 
Sperre für Polen wird drei Jahre verlängert

Angela Merkel hat in einem Interview um die Sympathie der polnischen Bevölkerung geworben - und durch die Blume ihre Positionen klargemacht. Deutschland werde den Arbeitsmarkt weitere drei Jahren vor polnischen Arbeitnehmern schützen müssen, erklärt sie.

Berlin - In einem Interview mit der polnischen Zeitung "Fakt" erklärte Merkel, die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt sei immer noch sehr angespannt. "Deutschland wird daher auch in den kommenden drei Jahren den Zugang zu unserem Arbeitsmarkt beschränken müssen." Danach werde die Regelung überprüft.

Beim Beitritt der zehn neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union 2004 wurden gestaffelte Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren vereinbart. Die erste Frist von zwei Jahren endet im Mai 2006, so dass die Frage der Verlängerung anstand. Nach der folgenden Drei-Jahres-Frist wäre eine neue Beschränkung um weitere zwei Jahre möglich. Mit den Übergangsfristen wollen einige alte EU-Staaten ihren Arbeitsmarkt vor billigeren Arbeitskräften aus den neuen Staaten schützen. Der Effekt dieser Regelungen ist jedoch umstritten. Manche EU-Staaten, wie etwa Schweden, Irland und Großbritannien, haben ihre Arbeitsmärkte vom Beitritt der neuen Staaten an geöffnet.

Neben solch klarer Aussagen wirbt Merkel in dem Interview jedoch vor allem um Sympathie. Sie hatte bereits mehrfach angekündigt, trotz enger Beziehungen Deutschlands zu Russland, Frankreich und anderen größeren Staaten müssten die kleineren und mittleren EU-Beitrittsstaaten in Osteuropa mehr Gehör finden als bisher. "Ich denke etwa an eine noch engere Abstimmung bei Fragen, die die Weiterentwicklung der EU oder die transatlantischen Beziehungen betreffen, an mehr Zusammenarbeit bei Zukunftsthemen", erklärt sie jetzt. Sie wolle auch die Dreiecks-Beziehungen zwischen Deutschland, Polen und Frankreich stärken.

Auch Polen soll von Ostsee-Pipeline profitieren

Die engen Beziehungen Deutschlands zu Russland würden nie zu Lasten Polens gehen, heißt es weiter. Für die geplante deutsch-russische Gas-Pipeline durch die Ostsee wirbt sie um Verständnis. In Polen wurde der Plan als Beleg für die Zusammenarbeit beider Länder an Polen vorbei interpretiert. Die Pipeline sei wichtig, um die Energieversorgung in Deutschland auf eine breitere Basis zu stellen, erklärt Merkel deshalb. Es gehe bei diesem Projekt außerdem nicht nur um deutsche und russische Interessen. "Auch andere Länder in Europa - insbesondere auch Polen - sollen von der Ostsee-Pipeline profitieren."

Mit Blick auf das umstrittene Zentrum gegen Vertreibungen bekräftigte die Kanzlerin die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag, wonach in Berlin ein Zeichen zur Erinnerung an die Vertreibung gesetzt und Vertreibungen geächtet werden sollen. Sie betonte erneut, dies solle in einer europäischen Perspektive und im Dialog mit Nachbarn wie Polen geschehen. In Polen wird von dem geplanten Zentrum, das vor allem der Bund der Vertriebenen fordert, eine Relativierung der NS-Verbrechen gefürchtet.


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