SPIEGEL ONLINE - 22. November 2005, 19:19
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Große Koalition
 
Merkels schönster Tag

Von Severin Weiland

Zum ersten Mal wurde mit Angela Merkel eine Frau zur Bundeskanzlerin der Bundesrepublik gewählt. Zwar gab es Nein-Stimmen aus der Großen Koalition, doch die Freude auf den Start in eine gemeinsame Zukunft wollen sich die Beteiligten nicht nehmen lassen.

Berlin - Die elektronische Uhr auf der Stirnwand des Bundestags zeigt in roter Schrift 14.04. Angela Merkel hebt die rechte Hand und spricht die Eidesformel. Bundestagspräsident Norbert Lammert hält ihr das Grundgesetz hin. Die Uhr zeigt immer noch 14.04, als Merkel den Satz "So wahr mir Gott helfe" ausspricht. Später verriet sie, sie habe etwas Bammel gehabt, den Eid ordentlich zu sprechen. RTL Aktuell sagte sie: "Das ist schon ein bewegender Moment".

Jetzt ist Merkel, Ostdeutsche aus protestantischem Elternhaus, erste Kanzlerin der Bundesrepublik. Einen Augenblick steht sie still neben der Bundesfahne, ganz in schwarz gekleidet, im Hosenanzug, die Hände fast an der Naht. Sie blickt ins Podium, wo die Abgeordneten applaudieren, dann nach oben zu den Tribünen. Auf einer sitzt die Familie Kasner, wie Merkel einst hieß - Mutter, Vater, Bruder. Ihr Mann, Joachim Sauer, ist nicht da, verhindert durch Termine in der Universität, wie es heißt.

Drängeln an der Gratulationsfront

Es ist ein Tag der Bilder, der kleinen und großen Gesten. Ihr Mathematiklehrer aus ihrer Heimatstadt Templin überreicht ihr nach der Abstimmung am Vormittag einen Blumenstrauß auf dem Gang des Reichstagsgebäudes. Es werden nicht die einzigen Blumen bleiben. Als Gerhard Schröder ihr um kurz nach 17 Uhr das Kanzleramt übergibt, gibt er seinen Strauß gleich an die Neue weiter. Merkel steht plötzlich vor den Mitarbeitern mit zweien in den Händen. Ein versöhnliches Bild zum Abschluss, der sich auch in den Reden ausdrückte: Schröder, der Merkel noch am Wahlabend des 18. September in der TV-Sendung machohaft angegangen war, wünscht ihr Glück und sichert ihr die Loyalität des Hauses zu; Merkel wiederum nennt ihn einen Kanzler, "an den sich die Menschen gerne erinnern werden".

Es ist alles anders gekommen, als es sich die Union gewünscht hat. Als Merkel nach ihrer Vereidigung hinab geht ins Plenum, ist der erste Gratulant ausgerechnet Guido Westerwelle. Eigentlich wollte sie mit ihm, dem FDP-Chef, eine Koalition bilden. Doch jetzt muss sie mit der SPD die Republik führen. Peter Struck, der neue Fraktionschef der SPD, drängt sich schnell nach vorne, wo sich gerade der Liberale Wolfgang Gerhardt anschickt, der neuen Kanzlerin zu gratulieren. Doch der SPD-Mann, der die eigenen Reihen zusammenhalten muss für Merkel, hat erst einmal Vortritt. Der FDP-Fraktionschef muss warten.

Am Vorabend hatte Merkel in der SPD-Bundestagsfraktion ihren Einstand gegeben. Sie hinterließ Eindruck bei den Genossen, einen überwiegend positiven. Vor allem mit ihrer Bemerkung, sie habe ein offenes Ohr auch für die Abgeordneten der SPD. Da kommt die Abstimmung am heutigen Dienstag einem Nackenschlag gleich.

51 Nein-Stimmen aus dem eigenen Lager von CDU, CSU und SPD werden gezählt. 397 votieren für Merkel. Auf den Gängen wird der neue Unions-Fraktionschef Volker Kauder davon sprechen, noch nie habe ein Kanzler bei einer Wahl im Bundestag so viele Stimmen erhalten. Das ist jedoch ein relativer Blick auf das Ergebnis an diesem kalten, grauen Novembertag in Berlin - der Bundestag ist größer als in früheren Zeiten der alten Bundesrepublik. Kurt Georg Kiesinger etwa, der Kanzler und CDU-Politiker der erste Großen Koalition von 1966, erhielt zwar doppelt so viel Gegenstimmen wie Merkel aus den eigenen Reihen - aber er vereinigte, wegen der kleineren Opposition, am Ende 71 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich. Bei Merkel sind es 64 Prozent.

Über die Bedeutung der Nein-Stimmen wird natürlich spekuliert, auch wenn die SPD in den Tagen zuvor verbreitet hatte, sicher würden nicht alle für Merkel votieren. Als Bundestagspräsident Lammert das Ergebnis der Nein-Sager vorträgt - es sind mitsamt der Opposition 202 - applaudieren einige Abgeordnete in den hinteren Reihen der Linkspartei - da lässt sich der CDU-Politiker zur ironischen und von allen mit Gelächtern quittierten Bemerkung hinreißen, bis zu "diesem Augenblick" sei die Wahl "geheim" gewesen. Gregor Gysi wird später Merkel lange und herzlich gratulieren, der Handschlag von Oskar Lafontaine fällt dagegen kurz aus.

Auf den Gängen des Bundestags beginnt nach der Wahl sofort das Deutungsspiel. Die Rollen sind neu und doch alt: Die Parteichefin der Grünen Claudia Roth warnt davor, mit der Wahl Merkels nun den Durchbruch der Frauen in der Politik zu preisen. FDP-Vorkämpfer Westerwelle sagt, dass Votum zeige, ein Auseinandergehen der Koalition vor 2009 sei sehr wahrscheinlich. "Wenn ich wetten würde, würde ich keinen großen Einsatz auf das Pferd Große Koalition setzen", unkt er.

Die Großkoalitionäre wollen sich indes diesen Tag nicht schlecht reden lassen. "Das Ergebnis zählt", sagt der Merkel-Vertraute Hintze. Friedbert Pflüger, nunmehr parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, setzt darauf, dass trotz mancher Skepsis die Koalition die Chance habe, am Ende erfolgreich zu sein. "Und dann kommen die Leute, die jetzt Nein gestimmt haben, noch dazu."

Seehofer lobt, Lammert witzelt

Selbst Horst Seehofer, der Merkels Kopfprämienmodell vehement bekämpft hatte, ist heute ganz positiv gestimmt. Der CSU-Vize, neuer Minister für Landwirtschaft und Verbraucherschutz, nennt das Ergebnis eine "gute Grundlage". Man solle jetzt nicht "Erbsenzählerei" betreiben.

Um 16 Uhr wird Merkels Kabinett vereidigt, kurz zuvor waren die Minister beim Bundespräsidenten. Merkel hatte aus den Händen von Horst Köhler ihre Urkunde bereits am Mittag erhalten. Die Minister werden einzeln von vom Bundestagspräsidenten aufgerufen und als der Verteidigungsminister an der Reihe ist, steht plötzlich Seehofer vor Franz Josef Jung. Blitzschnell sagt Lammert, man werde zwischen Verteidigung und Verbraucherschutz noch zu unterscheiden wissen. Wieder hat Lammert die Lacher auf seiner Seite. Bis auf die alte und neue Justizministerin Brigitte Zypries sprechen alle Minister den Zusatz mit dem Gottesbezug. Vor knapp drei Jahren, zu Beginn der zweiten Legislaturperiode von Rot-Grün, waren es noch fünf Minister, die darauf verzichtet hatten.

Die Welt der Großen Koalition ist in Ordnung

An diesem Tag geht es Schlag auf Schlag. Am Nachmittag hat die neue Kanzlerin noch in der Unions-Fraktion die Verteilung der Staatssekretärs- und Staatsministerposten auf Seiten von CDU und CSU mitgeteilt. Viele, die sie in den letzten Jahren loyal unterstützt haben - Pflüger, Peter Hintze, Hildegard Müller, Bernd Neumann, aber auch Peter Altmaier, rücken nun auf. Es ist eine Verteilung auch nach landsmannschaftlichen Gesichtspunkten in einer sehr föderalen Union - so wird neben Altmaier auch der ehemalige sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Christoph Bergner an der Seite von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sein - zwei überraschende Nominierungen. Auch dass Müller Staatsministerin im Kanzleramt wird, hatten die wenigsten Beobachter erwartet.

Schröder ist an diesem Tag schon fast in einer Statistenrolle. Er wirkt aufgeräumt, sitzt in der ersten Reihe unter den SPD-Granden der Fraktion, es sind seine letzten Stunden im Bundestag. Am Mittwoch wird er sein Mandat niederlegen, sich in Berlin künftig als Anwalt betätigen.

Joschka Fischer eilt an diesem Tag gemeinsam mit Christian Ströbele, dem Linken bei den Grünen, die Treppe zum Plenum hoch - die Fotografen erfreut das Bild. Fischer bleibt sich auf den letzten Metern treu - wie so oft ist er kurz angebunden und eilt grußlos in den Saal.

Die neuen SPD- und Unions-Minister sitzen, vor der Abstimmung und während der Vereidigung Merkels, auf den Tribünen. Vor allem drei Männer scherzen miteinander - Thomas de Maizière, der neue Kanzleramtsminister, Peer Steinbrück, Mann für die Finanzen sowie Frank Walter Steinmeier, Fischers Nachfolger im Auswärtigen Amt.

So wie sie da zusammenhocken auf der Tribüne, plaudern und lachen und später Familienministerin Ursula von der Leyen und Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee in ihre fröhliche Runde miteinbeziehen, da scheint für einen Augenblick wahr zu sein, was selbst Seehofer gegenüber Journalisten versichert hat: "Es läuft gut, es läuft gekonnt". Zumindest für diesen einen Tag ist die Welt der Großen Koalition in Ordnung.
 


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