SPIEGEL ONLINE - 15. November 2005, 11:57
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Parteitag
 
Platzeck fast einstimmig zum neuen SPD-Chef gewählt

Matthias Platzeck ist neuer Vorsitzender der SPD. Der Ministerpräsident Brandenburgs wurde auf dem Parteitag in Karlsruhe mit dem Traumergebnis von 99,4 Prozent der Stimmen zum Nachfolger von Franz Müntefering gewählt.

Karlsruhe - Für Platzeck votierten 512 von 515 Delegierten. Es gab nur zwei Gegenstimmen und eine Enthaltung. Das entspricht einer Zustimmung von 99,4 Prozent. Der 51-Jährige hatte keinen Gegenkandidaten.

Die Delegierten spendeten minutenlang stehend Applaus. Von unzähligen Mitgliedern der Parteiführung, mehreren Landes- und Bezirksvorsitzenden wurde Platzeck umarmt. Unter den ersten Gratulanten waren sein Vorgänger Franz Müntefering und der scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder, die ihn ebenfalls herzlich umarmten.

Nach einer Weile ging der neue SPD-Chef dann ans Mikrofon, um sich für das überwältigende Votum zu bedanken. "Einer der ostdeutschen Genossen sagte eben: Das Ergebnis erinnert an alte Zeiten", erzählte Platzeck und fügte hinzu: "Es ist aber ganz regulär und demokratisch zustande gekommen." Der Politiker räumte ein, so ein Resultat sei kaum noch zu steigern. Er wolle aber alles tun, um das Vertrauen zu rechtfertigen.

Schließlich bestätigte Platzeck noch eine seit seiner Nominierung in Umlauf befindliche Anekdote: Sein Vater habe auf Grund der Erfahrungen in Ostdeutschland sein parteipolitisches Engagement zunächst skeptisch gesehen, ihm dann aber auf den Weg gegeben: "Mein Junge, wenn du in eine Partei eintrittst, versuche, ihr Vorsitzender zu werden", zitierte Platzeck und fuhr fort mit den Worten: "Das habe ich heute gemacht."

Ein besseres Ergebnis als Platzeck hatte nur Kurt Schumacher in den Jahren 1947 und 1948 bekommen. Platzeck ist der siebte SPD-Vorsitzende nach Willy Brandt, der die Partei bis 1987 insgesamt 23 Jahre lang geführt hatte.

Der brandenburgische Ministerpräsident hatte die SPD in seiner Rede am Vormittag zur Geschlossenheit aufgerufen. "Wir dürfen uns selbst niemals genug sein", rief Platzeck die Genossen auf. Die Menschen in Deutschland erwarteten, dass sich die SPD mit aller Kraft der Problemlösung widme. Diese Erwartung sei berechtigt und dürfe nicht enttäuscht werden.

Es dürfe niemals der Eindruck entstehen, "es würde uns um das Regieren gehen, nur um des Regierens willen", sagte der brandenburgische Ministerpräsident. Er forderte seine Partei auf, die Probleme des Landes entschlossen anzugehen, statt sich mit sich selbst zu beschäftigen. "Unsere Diskussionen müssen immer mehr sein als nur Selbstzweck", sagte er. "Wir dürfen uns selbst niemals genug sein."

Platzeck forderte die SPD auf, "einen dicken Strich" unter ihre Personalstreitereien zu ziehen. "Es nutzt nichts, darum herum zu reden: In unserer Partei sind in den vergangenen Wochen Fehler gemacht worden", sagte er. Auch der von ihm als Generalsekretär vorgeschlagene Hubertus Heil habe "nicht immer alles nur richtig gemacht". Gleichwohl sollten alle in der SPD jetzt nach vorn blicken.

"Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist mehr als die Summe ihrer Flügel und Fraktionen, ihrer Arbeitsgemeinschaften und Gliederungen", sagte Platzeck. Die SPD sei die Partei der gleichen Lebenschancen für alle, des sozialen Zusammenhalts und der Solidarität. "Uns geht es um die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft."

Die zentrale Gerechtigkeitsfrage sei es, "ob es uns gelingt, gute und gleiche Bildungschancen für alle zu organisieren", sagte Platzeck. Die SPD müsse "die Bildungspartei schlechthin des 21. Jahrhunderts" werden.

Platzeck warnte angesichts der jüngsten Ausschreitungen in Frankreich auch vor einer Spaltung der Gesellschaft. Das Beispiel Frankreichs mache klar, was passiert, wenn "das Band der gesellschaftlichen Gemeinsamkeit zerfasert", sagte Platzeck. "Auch bei uns gibt es zunehmend Menschen und Gruppen, die nicht teilhaben an dem, was unsere Gesellschaft ausmacht", sagte der Müntefering-Nachfolger.

Platzeck bekannte sich ausdrücklich zu seiner ostdeutschen Herkunft. "Ich habe die ersten 35 Jahre meines Lebens in einer vollständig anders organisierten Gesellschaftsordnung verbracht. Das ist nicht zu ändern. Und daran würde ich auch nichts ändern, selbst wenn ich es könnte", sagte Platzeck.

Platzeck ist erst seit zehn Jahren SPD-Mitglied. "Ich weiß sehr wohl, dass diese Zeitspanne manchen von Euch außerordentlich kurz vorkommen muss. Für mich waren es die zehn besten und glücklichsten Jahre meines Lebens", behauptete er. "Ich möchte mein Land, unser Deutschland, gegen kein anderes Land der Welt eintauschen."
 


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SPIEGEL ONLINE - 15. November 2005, 17:50
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Parteitag
 
SPD wählt sich einen modernen Chef

Von Carsten Volkery, Karlsruhe

Die Genossen schwärmen, jubeln, feiern. Heute war Platzeck-Tag in der SPD. Auf dem Parteitag in Karlsruhe hielt der neue Chef eine fulminante Bewerbungsrede und wurde mit einem noch fulminanteren Ergebnis gewählt: 99,4 Prozent. Die Zweifel an seiner Person sind zunächst ausgeräumt.

Karlsruhe - Am Ende steht Platzeck nicht mehr am Rand. Stolz bildet er den Kopf einer Troika, in einem Arm Franz Müntefering, im anderen Gerhard Schröder. Die Delegierten stehen vor ihm und feiern ihren neuen Vorsitzenden, einige setzen zu "Platzeck"-Sprechchören an. Der Endorphinausstoß hat seine Gesichtsmuskeln gelöst. Vorhin hat er darüber geredet, dass Deutschland und die SPD ihre "Strahlkraft" wieder gewinnen müssten. Jetzt geht er mit gutem Beispiel voran: Er strahlt. Für ihn sei dies "eine Stunde großer Freude", sagt er.

Gestern hatte die SPD die beiden Überväter Schröder und Müntefering aus ihren Ämtern verabschiedet, heute ist Platzeck-Tag auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe. Der Tag des Neuanfangs, im buchstäblichen Sinne des Wortes. Der brandenburgische Ministerpräsident hat das rote Parteibuch erst seit zehn Jahren. So einen Vorsitzenden hatte die älteste Partei Deutschlands noch nie.

Auch andere Zweifel hatte es gegeben. Platzeck galt bisher vor allem als netter Händeschüttler, nicht als Visionär. Der Posten des Parteivorsitzenden sei vielleicht eine Nummer zu groß, hatte es geheißen, gefolgt von dem beruhigenden Nachsatz, man wachse ja mit dem Amt. Auch Müntefering hatte gönnerhaft durchblicken lassen, dass er dem Neuen sicher noch hier und da Nachhilfe geben werde. Und hatte nicht Platzeck selbst immer wieder den Eindruck erweckt, dass er sich die Bundesebene nicht zutraut? Zuletzt hatte er den Posten des Außenministers abgelehnt mit dem Hinweis, er sei ein "Provinz-Ei".

Alle diese Zweifel räumt Platzeck heute aus. In seiner bejubelten Rede macht er aus der Not eine Tugend: Er empfiehlt sich als Experte für Neuanfänge und Umbruchsituationen. Die Wiedervereinigung habe gezeigt, dass Deutschland zur Erneuerung fähig sei, sagt der Potsdamer. In diesem Umbruch habe er erfahren, "dass man sich den Blick offen halten muss" für Chancen und Gelegenheiten.

Am deutlichsten wird seine Philosophie in dem Satz: "Zupackende Menschen sind zufriedene Menschen". Platzeck ist Pragmatiker und bekennender Optimist. Das scheint ihm als Programm zunächst zu reichen. Diesen Geist will er auch in der Partei und im Land etablieren. Viel ist die Rede von Stolz, Selbstvertrauen, Eigenverantwortung und Tatkraft. "Dieses Land ist kein naturgegebener Zustand, sondern eine alltägliche Aufgabe". Als Vorbild nennt Platzeck an einer Stelle Finnland, welches die richtigen Antworten auf die großen Herausforderungen Demografie und Globalisierung gefunden habe. Damit, lockt er, könne die SPD zur "prägenden Kraft für Jahrzehnte" werden. Ob allerdings das Fünf-Millionen-Land wirklich als Modell für den Supertanker Deutschland taugt, ist fraglich.

Der Anzug des Parteichefs sitzt wie angegossen

Der 51-Jährige erweist sich als gewaltiger Rhetoriker. Souverän verteilt er Lob, weist in die Schranken. Von Unsicherheit keine Spur. Der Anzug des Parteivorsitzenden passt ihm von Anfang an wie angegossen. Die SPD sei die "Partei der linken Mitte", betont Platzeck. Das seien "die vielen, vielen Millionen ganz normalen Menschen". Die dürfe man nicht enttäuschen.

Im Versuch, programmatisch zu werden, spricht Platzeck sich für einen neuen Begriff sozialer Gerechtigkeit aus. Im 21. Jahrhundert gehe es nicht mehr um klassische materielle Umverteilung, sondern um "Mitmachen und Mitmachen können". Zentrale Instrumente für "gleiche Lebenschancen" seien daher Bildungs- und Familienpolitik - just die Bereiche, in denen die SPD ihre Ministerien gerade abgegeben hat.

Eine Kampfansage geht in Richtung Linkspartei. Links, definiert Platzeck unter dem Jubel der Delegierten, seien Aufklärung, Weltoffenheit und Kreativität. "Das ist links, und wir sind das".

Um das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, fordert Platzeck ein "Signal von Karlsruhe". Die Partei müsse "einen ganz dicken Strich unter die Vergangenheit ziehen". Damit spielt er auf die selbstverschuldete Krise der letzten zwei Wochen an. Die Aufgabe der SPD sei nicht die "Selbstbeschäftigung", sagt Platzeck, sondern das Regieren. Denn "wenn wir uns nicht um diese Aufgabe kümmern, kümmert sich niemand darum". Er zitiert auch Müntefering: "Opposition ist Mist".

Als Reaktion auf die Kritik an Schröders Basta-Politik und Münteferings einsamen Entscheidungen hatte Platzeck im Vorfeld einen neuen Führungsstil angekündigt. In Karlsruhe präsentiert er sich als moderner Chef. Die SPD solle "lebhaft" bleiben, denn "wo nichts los ist, geht niemand hin", sagt er. Konstruktive Kritik sei erwünscht, Flügel seien wichtig. Allerdings gebe es nicht umsonst eine gewählte Führung. "Die heißt so, weil erwartet wird, dass sie die Partei führt." Und er betont: "Das soll auch so bleiben."

"Wo nichts los ist, geht niemand hin"

Der Ruf des Menschenfängers eilt ihm zu Recht voraus. Wie man Menschen einbindet, demonstriert Platzeck, als er jedem einzelnen Kandidaten für die Parteiführung einige Worte widmet. "Ute, ich hab das Gefühl, da geht noch was", ruft er der baden-württembergischen Landeschefin Ute Vogt zu, die im März Landtagswahlen hat. "Tu es, wir helfen wir dabei". Peter Struck nennt er einen der besten "Friedensverteidigungsminister", die Deutschland je hatte. Dem designierten Finanzminister Peer Steinbrück gratuliert er zum "schönsten Job". Er bittet um ein gutes Ergebnis für den umstrittenen Generalsekretärskandidaten Hubertus Heil und schließt auch Andrea Nahles mit ein. "Wir brauchen die jungen Leute, wir brauchen die Talente", sagt er. Die Großbildleinwand zeigt es allen: Die Genannten sind gerührt. Auch Gerhard Schröder lächelt seinen Nachfolger dankbar an, als der ihn für seine Verdienste um den Frieden lobt.

Wie Schröder und Müntefering in ihren besten Zeiten findet der neue Vorsitzende gleich den richtigen Draht zur Partei. Die Delegierten sind begeistert von dem Naturtalent. "Viel besser als erwartet", sagt eine Frau aus Hannover. "Was für ein Gespür für Menschen", schwärmt ein Delegierter aus Baden-Württemberg. Das Wahlergebnis bestätigt dann ein weiteres Vorurteil über Platzeck: Alle mögen ihn. Nur zwei Delegierte stimmen gegen ihn, einer enthält sich. Die 99,4 Prozent, das zweitbeste Ergebnis der Geschichte der SPD, sind Platzeck fast schon peinlich. "Es erinnert an alte Zeiten", witzelt er in Anspielung auf Wahlergebnisse in der DDR.

Über seine Herkunft redet Platzeck ganz zum Schluss. Mit dramatisch gesenkter Stimme erzählt er, dass er seine ersten 35 Lebensjahre "auf der anderen Seite" der Glienicker Brücke in Potsdam verbracht habe. "Das ist nicht zu ändern", sagt er. "Ich bin klipp und klar sozialisierter Ostdeutscher, und ich bin das gerne, und ich stehe dazu." Manchmal gehe er noch am Sonntagmorgen über die einstige Grenze auf der Brücke, und immer wieder empfinde er das gleiche "Glücksgefühl". Spätestens hier dürften einigen Delegierten die Tränen in die Augen gestiegen sein.

Einen Dämpfer bekommt der neue Parteichef dann doch noch, am Nachmittag, als sein Kandidat Hubertus Heil zum Generalsekretär gewählt wird. In einer blassen Rede wiederholt der Sprecher des "Netzwerks" zunächst etliche Gedanken aus Platzecks Rede, zum Teil mit den gleichen Worten. Ein Denkzettel war bei der Wahl erwartet worden: Der 33-jährige Niedersachse hatte zu den führenden Nahles-Unterstützern im Konflikt um den Generalsekretärsposten gezählt. In seiner Rede sagt Heil erneut, er habe einen Fehler gemacht, und bittet um Nachsehen. Die Partei müsse jetzt nach vorn schauen und zu einem neuen Miteinander kommen. Doch die Wunde des Müntefering-Rücktritts ist noch nicht verheilt: Heil bekommt enttäuschende 61,7 Prozent.
 


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SPIEGEL ONLINE - 16. November 2005, 05:54
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SPD-Parteitag
 
Versöhnung mit den Vorstandsrebellen

Von Carsten Volkery

Auf dem Parteitag hat die SPD ihre Krise offiziell beendet. Die als "Königsmörderin" beschimpfte Andrea Nahles ist rehabilitiert, der neue Parteichef Matthias Platzeck wird gefeiert. Und Franz Müntefering wird mit einem Überraschungsgeschenk in die Regierung geschickt.

Karlsruhe - Der Karlsruher Parteitag soll als Parteitag der Versöhnung in die Geschichte eingehen, das hatte sich die SPD fest vorgenommen. Und sie hat sich mit erstaunlicher Disziplin daran gehalten. Am Montag wurde Kanzler Gerhard Schröder, an dem die Partei oft verzweifelt war, mit großzügigem Beifall verabschiedet. Mit einer überwältigenden Mehrheit wurden anschließend sowohl die Große Koalition als auch Vizekanzler Franz Müntefering gesegnet. Geradezu gespenstisch wurde es dann am Dienstag, als Matthias Platzeck mit dem nordkoreanisch anmutenden Ergebnis von 99,4 Prozent zum Parteichef gewählt wurde.

Als hätte das nicht gereicht, bewiesen die Delegierten auch bei den Wahlen zum Parteivorstand noch einmal ihren ausgeprägten Versöhnungswillen. Der 45-köpfige Vorstand war in den vergangenen zwei Wochen zum umstrittensten Parteigremium avanciert, nachdem er Münteferings Kandidaten für das Generalsekretärsamt, Kajo Wasserhövel, abgelehnt hatte. Entsetzt vom Rücktritt Münteferings waren an der Basis Forderungen nach dem kollektiven Rücktritt des gesamten Vorstands laut geworden.

Es kam anders. Das wichtigste Ergebnis der gestrigen Wahl: Andrea Nahles hat die Sympathie der Partei zurückerobert. Mit respektablen 323 Stimmen wurde sie im ersten Wahlgang in den Vorstand gewählt. Ihr tiefer Fall nach dem Münte-Rücktritt scheint eine gewisse Solidarisierung ausgelöst zu haben. Ihr Verzicht auf die Posten der Generalsekretärin und der stellvertretenden Parteivorsitzenden wird als ausreichende Buße anerkannt.

Geholfen hat sicherlich, dass Müntefering ihr in seiner Rede am Montag die Absolution erteilt hatte. Hinterher, als sie sich bei ihm bedankte, hatte er ihr kurz über die Wange gestrichen. Strahlend war Nahles von dannen gehüpft. Gestern reagierte die 35-Jährige erleichtert. Als das Ergebnis verkündet wurde, sprang sie auf und umarmte auf dem Podium ihren engsten Mitstreiter, Niels Annen. Der Hamburger wurde ebenfalls mit 323 Stimmen in den Vorstand gewählt.

Gabriel gab auf

Die Plätze im Vorstand waren umkämpft. 44 Kandidaten konkurrierten um die 37 freien Sitze. Die restlichen acht sind durch den Parteichef, die fünf Stellvertreter, Generalsekretär und Schatzmeisterin besetzt. Im ersten Wahlgang erreichten nur 25 Kandidaten die notwendigen 261 Stimmen, darunter etliche profilierte Nahles-Unterstützer wie die Landesvorsitzenden Heiko Maas (Saarland), Andrea Ypsilanti (Hessen) und Christoph Matschie (Thüringen). Das beste Ergebnis erzielte der bisher kaum bekannte Jens Bullerjahn. Es war eine strategische Wahl, um die Platzeck gebeten hatte: Der Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt soll bei den Landtagswahlen im März als Spitzenkandidat das Land für die SPD zurückerobern.

Sigmar Gabriel war der Prominenteste, der im ersten Wahlgang scheiterte. Daraufhin verkündete er in einer kurzen Ansprache seinen Verzicht. Als Umweltminister könne er den Sitzungen ja auch als nicht stimmberechtigtes Mitglied beiwohnen, sagte er. Seinen Verzicht begründete der Niedersachse damit, dass er unbedingt den neuen niedersächsischen Landeschef Garrelt Duin, einen weiteren Nahles-Unterstützer, im Vorstand sehen wollte. Duin erhielt daraufhin im zweiten Wahlgang das zweitbeste Ergebnis. Mit Fraktionschef Peter Struck, Duins Vorgänger Wolfgang Jüttner, Generalsekretär Hubertus Heil und Noch-Bildungsministerin Edelgard Bulmahn sind bereits etliche hochkarätige Niedersachsen in dem Spitzengremium vertreten, daher musste Gabriel eine Entscheidung treffen.

Ganz ohne Abstrafaktionen kommt kein SPD-Parteitag aus. Die Opfer waren diesmal Hubertus Heil und Ute Vogt. Die baden-württembergische Landesvorsitzende hatte mit einem reuigen Fernsehauftritt nach dem Müntefering-Rücktritt zum öffentlichen Eindruck beigetragen, der Parteivorstand sei nicht zurechnungsfähig, und hatte dafür viel Kritik geerntet. Gestern erhielt sie die Quittung: Mit 67 Prozent bekam sie das schlechteste Ergebnis von allen fünf stellvertretenden Parteivorsitzenden. Dabei hatten sowohl Müntefering als auch Platzeck an die Delegierten appelliert, der Spitzenkandidatin für die anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg Rückenwind zu geben.

Nussknacker für Münte

Heil wurde mit 61,3 Prozent dafür bestraft, dass er eine Telefonkonferenz des Nahles-Lagers organisiert hatte und nun von der Situation zu profitieren schien, die er selbst mit herbeigeführt hatte. Obendrein hielt er eine Bewerbungsrede ohne Herz und Inhalt, die ihn nicht gerade für das Amt empfahl: Schamlos kopierte er ganze Passagen der Rede seines gefeierten Chefs Platzeck.

Während Platzeck die Zweifel an seiner Person ausräumen konnte, bleibt Heil daher der große Unbekannte der neuen Führung. An den Generalsekretär muss sich die Partei erst gewöhnen. Viel Geduld dürfte der 33-Jährige nicht zu erwarten haben: Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz im März werden zur Bewährungsprobe.

Der designierte Vizekanzler Müntefering, der den Parteitag wegen der Beerdigung der kürzlich verstorbenen Bundestagsabgeordneten Dagmar Schmidt vorzeitig verlässt, erhielt hingegen gestern einen weiteren Liebesbeweis seiner Partei: Einen Nussknacker. "Für die harten Nüsse", die er in der Regierung zu knacken habe, sagte Platzeck. "Er kommt von Herzen."
 


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SPIEGEL ONLINE - 16. November 2005, 06:16
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SPD
 
Platzeck will Schröders Reformkurs fortsetzen

Der neue SPD-Chef Matthias Platzeck hat angekündigt, den von Kanzler Gerhard Schröder begonnenen Reformkurs fortsetzen zu wollen. "Wir werden diesen Weg weitergehen müssen", sagte der brandenburgische Ministerpräsident.

Karlsruhe - Sein wichtigstes Ziel sei die "Wetterfestigkeit der sozialen Sicherungssysteme", sagte Platzeck im ZDF. Schröders Reformkurs müsse fortgesetzt werden, sagte der neue SPD-Chef in der ARD: "Wir werden diesen Weg weiter gehen müssen."

Platzeck war auf dem Parteitag in Karlsruhe mit 99,4 Prozent der Stimmen zum Nachfolger von Franz Müntefering gewählt worden. Müntefering lobte seinen Nachfolger als Mann, "der die Menschen ansprechen kann, der nicht nur den Kopf erreicht, sondern auch das Herz". Die Querelen der vergangenen zwei Wochen sollte die SPD nun hinter sich lassen, sagte Müntefering. "Wir sind keine Selbstfindungsgruppe, wir sind dafür da, dass wir Politik machen für das Land."

Der SPD-Parteitag geht heute mit Antragsdebatten zu Ende. Die rund 500 Delegierten wollen über die Modernisierung der Parteiarbeit unter der neuen Führung beraten. Außerdem soll eine Satzungsreform beschlossen werden. Im Organisationsstatut ist unter anderem eine befristete Gastmitgliedschaft für Nicht-Parteimitglieder geplant.

Auch die Vorschriften für Parteiausschlüsse sollen präzisiert werden. Der Parteitag wird am Nachmittag mit einem Schlusswort von Platzeck beendet werden.


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SPIEGEL ONLINE - 17. November 2005, 07:10
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SPD
 
Platzeck will Genossen an die Union gewöhnen

Matthias Platzeck hat die SPD-Mitglieder aufgefordert umzudenken: Von seinen Genossen verlangt der neue Parteichef, sich auch gefühlsmäßig an die Zusammenarbeit mit der Union zu gewöhnen.

Passau - "Franz Müntefering war ein exzellenter Parteivorsitzender. Wir müssen uns aber auf die neuen Bedingungen einstellen", sagte Platzeck in einem Interview mit der "Passauer Neuen Presse". Zum ersten Mal seit fast vier Jahrzehnten gebe es eine Große Koalition in Deutschland. Die Repräsentanten von damals seien alle nicht mehr dabei. Für die jetzigen Politiker sei eine Große Koalition Neuland, sagte der brandenburgische Ministerpräsident. "Wir, SPD und CDU/CSU, müssen uns aneinander gewöhnen. Dabei geht es nicht um Sachfragen, sondern auch um Gefühlswelten: Da hat sich manches an Reflexen eingeschliffen, von denen wir jetzt wegkommen müssen."

Auf Spekulationen über ein mögliches Bündnis mit der Linkspartei wollte Platzeck nicht direkt eingehen, betonte jedoch: "Ich werde alles dafür tun, dass sich die strukturelle linke Mehrheit in Deutschland in der sozialdemokratischen Partei versammelt." Die Linkspartei stehe für "Wirklichkeitsverweigerung, Rückwärtsgewandtheit, Abschottung. Das sind nicht die Dinge, mit denen man irgendetwas für die Menschen zum Positiven bewegen kann."

Platzeck sagte, er gehe "fest" davon aus, dass die Große Koalition vier Jahre lang halten werde. Eine Festlegung auf einen Kanzlerkandidaten für die SPD hält er derzeit für verfrüht. Der SPD-Chef betonte: "Die SPD hat bewiesen, dass sie Wahlkämpfe machen kann. Dazu braucht sie keinen Kanzlerkandidaten vier Jahre im Voraus. Das werden wir vor der Wahl im Jahr 2009 entscheiden."

SPD will "Agenda 2010" fortsetzen

Die Sozialdemokraten wollen laut ihres neuen Generalsekretärs Hubertus Heil die Reformen der "Agenda 2010" von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in der Großen Koalition fortsetzen. Heil sagte der "Rheinischen Post", es müsse deutlich werden, dass "wirtschaftliche Dynamik und sozialer Zusammenhalt einander bedingen". Dies sei die wichtigste Aufgabe seiner Partei, daran werde man ihr Profil im Bündnis mit der Union erkennen können.

Heil kündigte zudem an, er werde die Partei als General "kämpferisch nach außen" vertreten und als Sekretär die SPD im Inneren zusammenhalten.
 


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