SPIEGEL ONLINE - 11. November 2005, 17:52
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,384452,00.html

Schwarz-rotes Bündnis
 
Atomausstieg bleibt, Reichensteuer kommt

Eine Reichensteuer, ein höherer Beitragssatz in der Rentenversicherung, die Besteuerung von Sonn- und Feiertagszuschlägen: Union und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt - nur in der Atompolitik und bei betrieblichen Bündnissen gab es keinen Konsens.

Berlin - Union und SPD haben sich auf eine sogenannte Reichensteuer geeinigt. Man habe einen Kompromiss gefunden, nach dem nur hohe private Einkommen ab 250.000 für Ledige und 500.000 für Verheiratete um drei Prozentpunkte höher besteuert werden sollten. Nur Familienunternehmen sind ausgenommen.

Private Veräußerungsgewinne werden voraussichtlich schon vom Jahr 2007 an mit pauschal 20 Prozent besteuert. Das zeichnet sich Informationen der Deutschen Presse-Agentur zufolge in den Koalitionsvereinbarungen von SPD und Union ab. Die bisherigen Spekulationsfristen von einem Jahr für Wertpapiere und zehn Jahre für Immobilien würden damit abgeschafft. Die Pauschalsteuer ist Teil des Maßnahmenpakets zur Haushaltssanierung, über das die angehenden Koalitionäre im Detail noch endgültig abstimmen sollten.

Sonn- und Feiertagszuschläge sollen ab 25 Euro Stundenlohn besteuert werden. Der Beitragssatz in der Rentenversicherung soll 2007 von derzeit 19,5 auf 19,8 Prozent steigen. Das Arbeitslosengeld II wird laut Angaben aus SPD-Verhandlungskreisen in Ostdeutschland auf den im Westen gültigen Betrag von 345 Euro im Monat angehoben.

Keine Einigung erzielte die Große Koalition im Streit über die Atompolitik. "Es bleibt bei der bestehenden Regelung", sagte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU). In diesem Punkt habe es keinen Konsens gegeben. Bei dem Streit ging es um die Laufzeit der Atomkraftwerke. Die Union hatte eine Verlängerung gefordert, während die SPD bei dem mit der Wirtschaft vereinbarten Ausstiegsszenario bleiben wollte.

Auch bei den von CDU/CSU geforderten betrieblichen Bündnissen erzielten die Verhandlungspartner keine Einigung. Das sagte der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU). Deshalb werde zu diesem Punkt kein Passus in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Mit betrieblichen Bündnissen sollten die Einspruchsmöglichkeiten der Gewerkschaften in den Unternehmen reduziert werden.

Bei der Mehrwertsteuer habe man sich auf eine Erhöhung um drei Prozentpunkte geeinigt, sagte Müller. Mittel in Höhe von einem Prozentpunkt sollen zur Senkung der Lohnnebenkosten genutzt werden, zwei Punkte gingen in die Haushaltskonsolidierung. Der ermäßigte Steuersatz von sieben Prozent für Güter des täglichen Bedarfs werde aber nicht angetastet.

Der Kündigungsschutz soll künftig erst nach zwei Jahren Beschäftigung gelten. Der Punkt war zwischen CDU/CSU und SPD lange umstritten. Die SPD hatte sich im Wahlkampf für den Erhalt des Kündigungsschutzes stark gemacht, während sich die Union für eine Lockerung eingesetzte. Nach der bisherigen Regelung greift der Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen, die länger als sechs Monate bestehen.

Die Renditen aus den Anlagen von Erlösen aus den Verkäufen von Goldreserven sollen Angaben des designierten Kanzleramtsministers Thomas de Maiziere zufolge ab 2008 in Investitionen fließen. De Maiziere sagte heute nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD in Berlin weiter, zunächst müsse mit der Bundesbank über die Modalitäten des Vorhabens beratschlagt werden.

Entscheidungen über die notwendige Gesundheitsreform hat man auf nächstes Jahr vertagt. Die Gegensätze zwischen den konkurrierenden Modellen Kopfpauschale und Bürgerversicherung konnten in den wenigen Wochen der Verhandlungen nicht überbrückt werden.

Einem Zeitungsbericht zufolge hat sich die Große Koalition allerdings auf Beitragserhöhungen bei der Pflegeversicherung verständigt. Die "Neue Osnabrücker Zeitung" meldete unter Berufung auf Kreise der zuständigen Koalitionsarbeitsgruppe, der genaue Umfang müsse noch ausgerechnet werden. Mit der Beitragserhöhung um voraussichtlich einige Zehntelprozentpunkte sollten die Leistungen der Pflegeversicherung verbessert und die Finanzen über einen Kapitalstock demografiefester gemacht werden.

Geplant seien unter anderem die Dynamisierung der Leistungen für ambulante Pflege, die Einbeziehung von Demenzkranken und ein längerer Urlaubsanspruch für pflegende Angehörige. Die seit sechs Jahren anfallenden Defizite der gesetzlichen Pflegeversicherung sollen laut Zeitungsbericht auch durch einen neuen Finanzausgleich zwischen gesetzlichen und privaten Pflegekassen ausgeglichen werden.
 


© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH



SPIEGEL ONLINE - 12. November 2005, 09:45
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,384504,00.html

Neue Regierung
 
Kleine Parteien schimpfen auf Große Koalition

Die kleinen Oppositionsparteien FDP und Grüne reagieren mit einer Mischung aus Spott und Verärgerung auf die Koalitionsvereinbarung von Union und SPD. Dass es doch höhere Steuern geben soll, werten sie als "Betrug".

Berlin - Wolfgang Gerhardt ging mit seiner Kritik schon an die Öffentlichkeit, bevor die künftigen Koalitionäre ihren Koalitionsvortrag in Berlin vorstellten. Der FDP-Fraktionsvorsitzende sagte der "Berliner Zeitung": "Was von den Koalitionsvereinbarungen bislang bekannt ist, löst nicht die dringenden Probleme Deutschlands. Deutschland werde eine "große Koalition mit kleinen Konsensergebnissen" erleben. Statt eines Sparprogramms gebe es lediglich, den Versuch, die Einnahmen zu erhöhen, beispielsweise durch die "völlig unnötige" Mehrwertsteuererhöhung.

Renate Künast, Fraktionschefin der Grünen, sieht in dem Vereinbarten eine "soziale Schieflage". "Ich kann da weder einen roten, noch einen schwarzen Faden erkennen", sagte sie "Neuen Presse" aus Hannover. Das Regierungsbündnis präsentiere sich als "große Koalition der mittelmäßigen Antworten." Bei der Mehrwertsteuer gebe es eine "doppelten Betrug". Die SPD sei umgefallen und auch die Union breche ihr Versprechen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent werde nur zu einem Drittel für niedrigere Lohnnebenkosten eingesetzt. Mit dem Rest sollten Haushaltslöcher gestopft werden.

Der designierte Kanzleramtsminister Thomas de Maizière (CDU) hat die Koalitionsvereinbarungen verteidigt. "Die Sache wird gut, aber schwierig und schmerzhaft", sagte er der "Sächsischen Zeitung". "Wir übernehmen einen kaputten Bundeshaushalt und gefährdete Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen. Das alles in Ordnung zu bringen, dauert wahrscheinlich länger als vier Jahre. Aber wir werden damit beginnen", sagte der CDU-Politiker.

Rürup: Ein Beschäftigungswunder wird es nicht geben

Große Koalitionen sollten immer nur eine Ausnahme sein. "Die Koalition ist auf vier Jahre angelegt. Es gibt keine Soll-Bruchstelle nach zwei Jahren. Aber vier Jahre sind dann genug", meinte de Maiziere. Die vorgesehenen Einsparungen und Steuererhöhungen seien "unausweichlich, weil wir unseren Kindern nicht die Schulden überlassen können". Die Mehrwertsteuererhöhung bezeichnete der designierte Kanzleramtschef als "unumgänglich".

Auch in der Wirtschaft, von Verbänden und Volkswirten gab es reichlich Kritik. Die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) beklagte, die Belastungen überwögen. ASU-Chef Patrick Adenauer sagte: "Gerade die in Deutschland tätigen Unternehmen werden hiervon betroffen". Es bleibe die Hoffnung auf eine handwerklich saubere Arbeit und mehr Verlässlichkeit der neuen Regierung.

Der Vorsitzende des Wirtschafts-Sachverständigenrats der Bundesregierung, Bert Rürup, monierte, es fehle ein zentrales Projekt. Rürup warnte davor, die Wirkung eines um zwei Prozentpunkte niedrigeren Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu überschätzen. "Es heißt immer, ein Prozentpunkt weniger bringe 150.000, ja 200.000 Arbeitsplätze. Dabei vergisst man aber, die negativen Effekte der Steuererhöhung gegen zu rechnen", sagte er. Deshalb werde ein um zwei Prozentpunkte niedrigerer Beitrag wohl weniger als 90.000 zusätzliche Beschäftigte bringen.

Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) erklärte, die geplante "Reichensteuer" werde den Haushalt kaum entlasten. IMK-Chef Gustav Horn sagte, die Abgabe diene den Koalitionspartnern wohl eher dazu, der Öffentlichkeit die übrigen Reformen schmackhaft zu machen. Die Lockerung des Kündigungsschutzes werde nicht mehr Beschäftigung bringen. Stattdessen könnte weniger Kündigungsschutz dazu führen, die Belegschaften erpressbarer zu machen. Das führe zu erhöhtem Druck auf den Lohn, was wiederum dem privaten Verbrauch und damit der Konjunktur schade.


© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH



SPIEGEL ONLINE - 11. November 2005, 23:25
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,384487,00.html

Presseschau zum Koalitionsvertrag
 
"Große Enttäuschung"

Begeisterung sieht anders aus. Enttäuschung und Unzufriedenheit - das ist der Grundtenor der Kommentare in den deutschen Zeitungen zum Koalitionsvertrag von Union und SPD. Nur hier und da hält man die Pläne von Schwarz-Rot für alternativlos.

Die Welt

"Die Verhandlungen über die große Koalition enden, wie es in den letzten Wochen zu befürchten war: mit einem Programm auch arger Widersprüche und der umverteilenden Mehreinnahmen, im Ton unspektakulär, in der Sache befremdlich, ohne Schwung zum Aufschwung. Wird die große Koalition die großen Probleme lösen, von denen das Land so viele hat? Eine Antwort darauf wird erst in einem Jahr zu geben sein, aber mit diesem Plan wird es denkbar schwer. Der Vertrag passt nicht zu den Problemen im Land: nicht zur Massenarbeitslosigkeit; nicht zur Überregulierung von Wirtschaft und Wissenschaft; nicht zur Überdehnung eines Staates, der die Aufgaben, die er wahrnimmt, nicht länger so finanzieren kann, dass er mehr nutzt als schadet."

tageszeitung

"Diese neoliberale Angebotspolitik ist nicht neu. Sie setzt nur anders fort, was schon in der letzten Legislatur üblich war. Die Stichworte sind: gesenkter Spitzensteuersatz für die gut Verdienenden, Sozialhilfe für alle Langzeitarbeitslosen. Nun wird die Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft. Diese Kontinuität ist nur logisch - schließlich ist die große Koalition keineswegs neu. Faktisch besteht sie schon seit zehn Jahren; mit einer kleinen Unterbrechung herrschen im Bundesrat seit elf Jahren immer andere Mehrheiten als im Bundestag."

Süddeutsche Zeitung

"Auf den ersten Blick ist es ein Lehrstück des politischen Zynismus. Die Verhandlungsführer der beiden Volksparteien, die sich noch bis vor zwei Monaten mit Gift und Galle bespuckten und für nicht-regierungsfähig erklärten, haben sich auf ein Regierungsprogramm geeinigt. Sie steuern in die große Koalition. (...) Und darin liegt das Paradox der Politik in einer zentrifugalen Gesellschaft: Je konsequenter die Regierung das heterogene und fließende Gesamttableau der Probleme ernst nimmt, desto subtiler und kleinteiliger, aber auch widersprüchlicher und flüchtiger müssen die politischen Lösungsansätze sein. So gesehen ist eine Patchwork-Politik, die stets um ihren provisorischen und experimentellen Charakter weiß, die angemessene Antwort auf die Entwicklungsbedürfnisse der Gesamtgesellschaft."

Bild-Zeitung

"Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition ist eine Bankrotterklärung. Die beiden großen Parteien, die das Land in jahrzehntelangem Nichtstun an den Rand der Pleite geführt haben, bedienen sich bei Gläubigern, die sich nicht wehren können: uns Bürgern. (...) Wäre unser Staat rechtzeitig saniert worden, würden wir jetzt nicht so brutal abkassiert. Wenigstens hat das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl diesen Offenbarungseid der großen Parteien erzwungen. Wir zahlen, CDU/CSU und SPD stehen tief in unserer Schuld. Wir verlangen, dass diese Regierung sich Mühe gibt wie noch keine zuvor."

Hamburger Abendblatt

"Nun müssen sie die Notbremse ziehen. Das ist bitter, aber alternativlos. Immerhin ehrt die Neu-Koalitionäre der Mut, die Bremse auch ziehen zu wollen. Das unterscheidet sie von rot-grünen wie schwarz-gelben Regierungen vorher, die das Desaster hinterlassen haben. An der Last wird Deutschland noch Jahre tragen. Aber es beginnt, noch zaghaft, das Umsteuern. Das läßt hoffen."

Berliner Zeitung

"Alles in allem ist die große Koalition eine große Enttäuschung. Sie leistet nur dort viel, wo es darum geht, konsequenzlos Tabus zu brechen. Eine Regierung, die von sich selbst sagt, sie werde einen - da die Schulden die Investitionen übersteigen werden - verfassungswidrigen Haushalt vorlegen, ist einmalig. Jede Regierung mit starker Opposition hätte sich damit eine Rücktrittsforderung für ihren Finanzminister eingehandelt. Jetzt scheint es fast, als würden sich die beiden großen Parteien das noch als besondere Mutprobe ans Revers heften. So bleibt nur eine Hoffnung: Dass nämlich dieser Koalitionsvertrag ein vorläufiger ist und die Regierung beim Regieren merkt, dass er nicht lange trägt."

Neue Rhein Zeitung

"Dieses Zweckbündnis ist der puren Not eines Wahlergebnisses geschuldet, das die beiden Volksparteien auf gleiche Augenhöhe brachte. Herausgekommen ist eine Zwangsgemeinschaft in Zeiten echter Not: vornehmlich leerer Staatskassen, überdehnter sozialer Netze, millionenfacher Arbeitslosigkeit und eines scharfwindigen globalen Wettbewerbs. Denkverbote und Tabus dürfte es für die Regierung Merkel/Müntefering deshalb nicht geben. An Leistungskürzungen, höheren Steuern und gekappten staatlichen Zuwendungen führt kein Weg vorbei. Doch der große, sinnstiftende Entwurf mit hoffnungsvollen Perspektiven ist das jetzt präsentierte Ergebnis wochenlanger Verhandlungen eben auch nicht."
 


© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH



DER SPIEGEL 46/2005 - 14. November 2005
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,384571,00.html

SPIEGEL-Gespräch
 
"Mit der Axt im Walde"

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger über die Gefahren großer Sparpakete, sinnvolle Steuererhöhungen und den Teufelskreis aus schwacher Binnennachfrage und hoher Arbeitslosigkeit

DER SACHVERSTÄNDIGENRAT zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berät die Bundesregierung in ökonomischen Fragen.
Am vergangenen Mittwoch stellten die fünf renommierten Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Wiegard, Peter Bofinger, Beatrice Weder di Mauro, Wolfgang Franz und Bert Rürup (Vorsitzender) ihr gut 650 Seiten starkes Jahresgutachten mit dem Titel "Die Chance nutzen - Reformen mutig voranbringen" vor. Hinter den Kulissen gab es auch in diesem Jahr heftige Diskussionen über die wirtschaftspolitischen Empfehlungen der sogenannten Fünf Weisen.

Auf 21 Seiten kritisiert Bofinger, 51, der über die Gewerkschaften in den Rat gekommen ist, unter der Überschrift "Eine andere Meinung" viele Empfehlungen seiner Kollegen. So tritt der streitbare Ökonom für eine Stärkung der Nachfrage ein, eine weitere Lockerung des Kündigungsschutzes hält er dagegen für unangebracht.

SPIEGEL: Herr Professor Bofinger, im vergangenen Jahr sorgten Sie für heftigen Zoff im Sachverständigenrat, weil Sie nicht alle Empfehlungen Ihrer Kollegen mittragen wollten. Haben Sie sich dieses Mal etwas zurückgehalten?

Bofinger: Ich will mit meinem Minderheitsvotum keinen Zoff erzeugen, mir geht es vielmehr darum, eine Grundsatzdiskussion über die Grundlinien der Wirtschaftspolitik in Gang zu bringen. Mein Eindruck ist, dass in den letzten Jahren die Balance zuungunsten der Nachfrageseite verloren gegangen ist. Das Ergebnis kann man mit Händen greifen: Wir haben eine stagnierende Binnennachfrage, wie es sie in der ganzen Welt nicht gibt.

SPIEGEL: Und deshalb sind Sie dagegen, dass der Staat weniger Geld ausgibt. Dass der Staat sparen müsse, haben Sie einmal gesagt, gehöre zu den Talkshow-Weisheiten. Wie kam denn diese Ansicht bei Ihren Kollegen an?

Bofinger: Es gibt wohl kein Wort in der Volkswirtschaftslehre, das so viele Bedeutungen hat wie das Wort "sparen".

SPIEGEL: Sie weichen aus. Muss der Staat nun sparen, oder muss er das nicht?

Bofinger: Wenn Sie "sparen" definieren als den haushälterischen Umgang des Staates mit den Mitteln, die er den Privaten abnimmt, bin ich selbstverständlich für sparen.

SPIEGEL: Der Staat gibt allerdings auch aus, was er nicht hat. Sonst wäre er nicht so stark verschuldet.

Bofinger: Richtig. Deshalb steht derzeit ja das Ziel im Mittelpunkt, die Neuverschuldung des Bundes und der öffentlichen Haushalte insgesamt zurückzuführen. Die Frage ist nur: Wie macht man das?

SPIEGEL: Ihre Antwort?

Bofinger: Die Ursache dafür, dass wir seit vier Jahren eine gesamtstaatliche Defizitquote von mehr als drei Prozent haben, liegt nicht darin, dass die öffentliche Hand das Geld zum Fenster hinausgeworfen hat. Im Gegenteil: Deutschland ist eines der wenigen Länder, die in den letzten Jahren die Staatsquote, also die Staatsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, deutlich zurückgeführt haben. Die Personalausgaben sind gesunken, die öffentlichen Investitionsausgaben wurden drastisch zurückgeführt. Das zeigt, dass Sparanstrengungen unternommen worden sind. Das Problem beim Sparen in den öffentlichen Haushalten ist, dass man aufpassen muss, dass man nicht negative Rückkopplungseffekte auf die gesamte Nachfrage bekommt.

SPIEGEL: Lässt die steigende Neuverschuldung nicht eher darauf schließen, dass der Staat nicht genug gespart hat?

Bofinger: Nicht unbedingt. Ich halte es nicht für zwingend, US-amerikanische Verhältnisse anzustreben und die Staatsquote auf weit unter 40 Prozent zu drücken. Eine ganze Reihe von Ländern hat eine deutlich höhere Staatsquote als wir, beispielsweise die skandinavischen Länder mit einem Staatsanteil von über 50 Prozent.

SPIEGEL: Warum sollte sich Deutschland an Ländern orientieren, die noch höhere Abgaben und Steuern verlangen?

Bofinger: Ich halte es für wichtig, dass man sich grundsätzlich die Frage stellt: Wollen wir einen Magerstaat mit einer noch geringeren Abgabenquote als heute haben? Oder ist nicht über das skandinavische Modell nachzudenken? In allen Studien zur globalen Wettbewerbsfähigkeit gehören die skandinavischen Länder zu den führenden Nationen in Europa. Wenn der Staat mit den Geldern vernünftig umgeht und sie in Bildung und Infrastruktur investiert ...

SPIEGEL: ... was er in Deutschland aber gerade nicht tut. Der größte Batzen des Haushalts sind doch Sozialleistungen und Zinsen für Altschulden - und deren Anteil steigt von Jahr zu Jahr.

Bofinger: Nein, der Anteil der Zinsausgaben ist in den letzten Jahren sogar leicht zurückgegangen.

SPIEGEL: Weil die Zinsen so niedrig sind. Was aber ist, wenn die wieder steigen?

Bofinger: Die einfache Antwort wäre, irgendwas zusammenzustreichen. Aber man kann fast nichts mehr streichen. Die hohen Sozialausgaben sind - auch das muss man einmal klar sagen - zum wesentlichen Teil Resultat der deutschen Einheit. Das führt zu den enormen Zahlungen des Staates an die Rentenkasse. Ich wüsste nicht, was man daran ändern könnte.

SPIEGEL: Der Druck zum Sparen kommt unter anderem aus Brüssel. Deutschland wird die Schuldengrenze des Stabilitätspaktes in diesem Jahr zum vierten Mal verletzen. Soll die Regierung die Vorgaben der EU etwa weiter ignorieren?

Bofinger: Man kann auf zwei Arten versuchen, aus der augenblicklichen Malaise herauszukommen. Die eine ist sparen und Steuern erhöhen - so wie es die Spitzen von Union und SPD planen. Aber man kann auch versuchen, die Dynamik in Deutschland wieder in Gang zu bringen, den Abbau von regulären Jobs zu stoppen und aus der stagnierenden Binnennachfrage herauszukommen.

SPIEGEL: Also mehr Geld ausgeben statt weniger.

Bofinger: Nein, das nicht. Aber man muss sich doch fragen, warum sind wir in dieser konjunkturell miesen Situation. Ich bin überzeugt, dass dafür auch der Sparkurs der vergangenen Jahre verantwortlich ist. Die Regierung hat die Konjunktur in den Jahren 2003 und 2004 fiskalpolitisch gebremst, obwohl eher das Gegenteil erforderlich gewesen wäre.

SPIEGEL: Die Regierung hat genau das gemacht, was der Sachverständigenrat Jahr für Jahr empfohlen hat.

Bofinger: Es geht darum, die richtige Balance zu finden. Und die hat in den vergangenen Jahren nicht gestimmt. Sehen kann man das an der letzten Stufe der Gesundheitsreform. Beschlossen wurde, Krankengeld und Zahnersatz umzufinanzieren. 0,45 Beitragspunkte, die bislang von den Arbeitgebern bezahlt worden waren, müssen nun von den Arbeitnehmern getragen werden. Das Geld fehlt heute für den Konsum. Wenn jetzt durch eine Mehrwertsteuererhöhung eine kurzfristige Konsolidierung erzielt werden soll, ist das Risiko enorm hoch, dass die labile Konjunktur weiter geschwächt wird. Natürlich ist die Reduzierung der Neuverschuldung ein wichtiges Ziel. Aber muss man deswegen die Notbremse ziehen?

SPIEGEL: Sie würden also lieber die Nachfrage stärken und höhere Schulden in Kauf nehmen?

Bofinger: Wenn Deutschland 2006 und 2007 nochmals das Maastricht-Kriterium verfehlen würde, dafür aber 2008 und in den folgenden Jahren das Haushaltsproblem dauerhaft in den Griff bekommt, ist das doch eine bessere Lösung, als krampfhaft zu versuchen, möglichst schnell den Europäischen Stabilitätspakt einzuhalten.

SPIEGEL: Wenn Sie das garantieren könnten, würden Ihnen wahrscheinlich alle folgen. Der Sachverständigenrat rechnet mit einem Einsparungsbedarf von bescheidenen sechs Milliarden Euro. Ist das Ihre Handschrift?

Bofinger: Ich finde es erfreulich, dass wir uns geeinigt haben, nicht die Notbremse zu ziehen.

SPIEGEL: Die künftige Regierung sieht aber einen Einsparungsbedarf von 35 Milliarden. Wer hat sich da verrechnet?

Bofinger: Wir sehen diesen Bedarf nicht. Nach unseren Berechnungen reichen aus heutiger Sicht gut sechs Milliarden Euro, um die Drei-Prozent-Grenze des Stabilitätspakts im nächsten Jahr zu erfüllen. Man muss klar unterscheiden zwischen der Grenze des Stabilitätspakts, die sich auf den Staat insgesamt bezieht, und die engere Begrenzung durch die Verfassung. Um die einzuhalten, muss im Bundeshaushalt ein deutlich höherer Betrag eingespart werden. Hier hat die amtierende Regierung umfangreiche Vermögensveräußerungen geplant, mit denen diese Lücke im nächsten Jahr geschlossen werden kann.

SPIEGEL: Und was passiert 2007 und danach?

Bofinger: Beim Stabilitätspakt gibt es nach unserer Schätzung keine größeren Probleme. Für einen verfassungskonformen Haushalt muss der Bund dagegen jährlich etwa 25 Milliarden streichen ...

SPIEGEL: ... weil dann das Tafelsilber fast vollständig verkauft ist. Wie soll die Lücke geschlossen werden?

Bofinger: Das Geld ist durch den weiteren Abbau von Subventionen hereinzuholen.

SPIEGEL: Warum sollte die Regierung nicht früher mit der Konsolidierung beginnen?

Bofinger: Weil man nicht wie mit der Axt im Walde vorgehen sollte. Die Gefahr ist riesengroß, dass die Konjunktur dann völlig einbricht. Wenn wir im nächsten Jahr nicht mehr ein Wachstum von einem Prozent, sondern nur noch eines von 0,5 Prozent haben, dann hat das ganze Sparmanöver nichts gebracht, weil die Defizite noch größer sind und die Arbeitslosigkeit weiter steigt.

SPIEGEL: Wo soll denn der Bund sparen?

Bofinger: Beispielsweise bei den Mini-Jobs, die der Staat mit mehreren Milliarden subventioniert.

SPIEGEL: Wollen Sie die abschaffen?

Bofinger: Ja. Ich finde es erstaunlich, dass nie über die Subventionierung der Mini-Jobs diskutiert wird. Warum ist das Einkommen, das eine verheiratete Frau, die schon vom Ehegatten-Splitting profitiert, mit einem Mini-Job hinzuverdient, steuerfrei? Und warum werden Überstunden voll der Abgabenbelastung unterworfen, während ein zusätzlicher 400-Euro-Job nur mit 25 Prozent belastet wird? Sparpotentiale bestehen auch bei der gesamten Subventionierung von privater Geldersparnis im Rahmen der privaten und betrieblichen Altersvorsorge, zumindest bei Beziehern höherer Einkommen. Warum muss jemand wie Sie oder ich vom Staat subventioniert werden, damit er fürs Alter spart?

SPIEGEL: Was würde passieren, wenn die Regierung das 35-Milliarden-Sparpaket umsetzen würde?

Bofinger: Wir müssen erst einmal sehen, wie das Paket insgesamt aussieht. Aber eine Mehrwertsteuererhöhung, die nur zur Haushaltskonsolidierung stattfindet, halte ich für ein völlig falsches Zeichen. Wenn man schon Steuern erhöhen will, um Haushaltslöcher zu stopfen, sollte man das zur Hälfte über die Einkommensteuer und zur Hälfte über Mehrwertsteuer machen.

SPIEGEL: Sie wollen also den Spitzensteuersatz, der gerade erst gesenkt wurde, wieder erhöhen?

Bofinger: Warum denn nicht? Wenn man wirklich Steuern erhöhen will, muss man sich doch fragen: Was zieht den größeren konjunkturellen Ausfall nach sich? Wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird, trifft das in erster Linie Leute mit einem sehr niedrigen Einkommen, einer sehr geringen Sparneigung und einer sehr hohen Konsumneigung.

SPIEGEL: Der Sachverständigenrat lehnt eine Mehrwertsteuererhöhung zur Haushaltskonsolidierung ab, befürwortet sie aber zur Senkung der Lohnnebenkosten. Sehen Sie das auch so?

Bofinger: Ja, klar. Aber ich würde noch einen Schritt weiter gehen und die Lohnnebenkosten gezielt im Niedriglohnbereich senken.

SPIEGEL: Wie soll das genau aussehen?

Bofinger: Wer monatlich bis 1000 Euro verdient, sollte fünf Prozentpunkte weniger bei der Arbeitslosenversicherung bezahlen.

SPIEGEL: Das wäre eine Subventionierung der Niedriglohnjobs.

Bofinger: Genau. Das würde den Geringqualifizierten helfen, die von der Globalisierung besonders betroffen sind. Eine andere Möglichkeit wäre die negative Einkommensteuer, wie sie beispielsweise in den USA existiert. Dort stockt der Staat niedrige Einkommen, die unter dem Sozialhilfeniveau liegen, entsprechend auf.

SPIEGEL: Müssten die Lohnnebenkosten aber nicht insgesamt sinken - und nicht nur für niedrige Einkommen?

Bofinger: Natürlich. Der Sachverständigenrat hat ja gerade aufgelistet, dass die sozialen Sicherungssysteme mit versicherungsfremden Leistungen im Umfang von 65 Milliarden Euro überfrachtet sind, die eigentlich aus Steuermitteln finanziert werden müssten.

SPIEGEL: Wie weit könnten die Sozialversicherungsbeiträge dann reduziert werden?

Bofinger: Um rund 7 Punkte, von 42 auf 35.

SPIEGEL: Und dafür sollte die Mehrwertsteuer noch stärker erhöht werden?

Bofinger: Man könnte das über einen Mix machen, der auch einen Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuer vorsieht, wie das in der Rürup-Kommission diskutiert worden ist.

SPIEGEL: Die Deutschen müssen sich also auf eine Steuererhöhungswelle einstellen?

Bofinger: Wenn ich jetzt einfach sage, ich will die Steuern erhöhen, dann fragen die Leute: Spinnt der? Deswegen ist es wichtig zu sagen: Man muss diese Steuererhöhungsdiskussion im Kontext sehen. Wir haben in Deutschland eine extrem hohe Sozialabgabenbelastung und eine sehr geringe Steuerbelastung. Wenn die Steuern steigen und die Sozialabgaben Zug um Zug sinken, dann bedeutet das für den normalen Arbeitnehmer tendenziell sogar eine Entlastung.

SPIEGEL: Müssten die Arbeitnehmer noch weiter entlastet werden?

Bofinger: In der Tat haben wir in Deutschland eine Art Teufelskreis aus schwacher Binnennachfrage, einem eher steigenden Beschäftigungsproblem und extrem geringen Lohnzuwächsen. Nur in Japan steigen die Löhne noch langsamer.

SPIEGEL: Und wie kommen wir aus dem Teufelskreis heraus?

Bofinger: Das ist schwierig. Das hat sich festgefressen.

SPIEGEL: Sind höhere Löhne das richtige Signal?

Bofinger: Wir müssen wieder hin zu einer gesunden Lohnentwicklung kommen, die Tariflöhne müssen wieder um 2,5 bis 3 Prozent steigen.

SPIEGEL: Lohnzurückhaltung war aber auch eine Forderung des Sachverständigenrates.

Bofinger: Richtig, aber das wurde mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie übertrieben. Es ist falsch zu glauben, eine noch konsequentere Lohnzurückhaltung bringt die Wirtschaft wieder in Schwung. Das Gegenteil ist richtig.

SPIEGEL: Empfehlen Sie wirklich kräftige Lohnerhöhungen, die nach Meinung Ihrer Kollegen die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen schwächen und damit die Arbeitslosigkeit erhöhen?

Bofinger: Nein! Es kommt auf die richtige Dosis an. Was wir brauchen, ist eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik, bei der die Kaufkraft steigt, während die Lohnstückkosten und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit unverändert bleiben. Wie soll Wachstum ohne eine höhere Kaufkraft möglich sein? Unternehmen, die Produktivitätsfortschritte erzielen, weil sie mit ihren Beschäftigten mehr Güter herstellen können, sind darauf angewiesen, dass es Konsumenten gibt, die sich auch mehr leisten können. Es gibt von Ludwig Erhard ein schönes Zitat. In seinem Buch "Wohlstand für alle" sagte er, der Widerstand der Arbeitgeber gegenüber Lohnerhöhungen passe nicht in das System der Marktwirtschaft, er missachte die Zielsetzung der Marktwirtschaft, wie er sie verstehe, sogar gröblich.

SPIEGEL: Herr Professor Bofinger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Sven Afhüppe und Armin Mahler.
 


© DER SPIEGEL 46/2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH