SPIEGEL ONLINE - 07. November 2005, 13:15
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Angst vor französischen Verhältnissen
 
Brennende Autos - auch in Berlin und Bremen

In Berlin und Bremen brannten in der Nacht die ersten Autos. Politiker warnen vor einer Eskalation der Unruhen wie in Frankreich. Die Bundesregierung beschwichtigt: Es sei voreilig, die gewalttätigen Auseinandersetzungen in französischen Städten auf die Situation in Deutschland zu übertragen.

Berlin - Im Berliner Ortsteil Moabit brannten in der vergangenen Nacht fünf Autos. Die Polizei geht von vorsätzlicher Brandstiftung aus, wie ein Polizeisprecher sagte. Da nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich um Nachahmungstaten der Krawalle in Frankreich handelt, werde "in alle Richtungen" ermittelt.

Auch in Bremen kam es in der Nacht zu Brandstiftungen. Nach Angaben der Polizei wurden bei einem Autohändler drei Fahrzeuge angezündet. Es sei ein Schaden von mindestens mehreren zehntausend Euro entstanden. Danach habe es ein Feuer in einer ehemaligen Schule gegeben. Nach dem Brand in einem Gebäudeteil, der abgerissen werden soll, seien zehn Personen überprüft worden, sagte eine Polizeisprecherin. Es sei aber unklar, ob sie an der Tat beteiligt gewesen seien. Außerdem zündeten Unbekannte nach Polizeiangaben einen Müllcontainer und einen Laubhaufen an.

Die Sprecherin sagte, in dem betroffenen Stadtteil habe es in jüngster Vergangenheit generell Probleme mit Jugendlichen gegeben. Ein Zusammenhang mit den seit einer Woche anhaltenden Jugendkrawallen in Frankreich sei aber nicht zu erkennen. Die mutmaßlichen Täter hätten nicht wie in Frankreich die Konfrontation mit Polizei oder Feuerwehr gesucht.

Angesichts der anhaltenden Ausschreitungen Jugendlicher in Frankreich warnen Politiker vor Gewalt auch in deutschen Städten. Der designierte Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte heute, zwar seien die Verhältnisse in Frankreich anders als hier, aber auch in Deutschland entwickelten sich "Viertel mit hohem Ausländeranteil, die sich immer mehr von der übrigen Gesellschaft abschotten", sagte der CDU-Politiker der "Bild"-Zeitung. Schäuble hält es für notwendig, dass Jugendliche ausländischer Herkunft "die deutsche Sprache beherrschen". Zudem brauche man auch "eine gute Schulbildung und mehr Chancen auf Lehrstellen und Arbeitsplätze". Er forderte eine bessere Integration ausländischer Jugendlicher in Deutschland.

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) sagte, man müsse aufpassen, "dass wir nicht Ansammlungen von Jugendlichen haben, die keine Chance im Leben sehen. Die dann auch durch die Durchmischung unterschiedlicher Herkunft und durch diese Chancenlosigkeit in eine ähnliche Situation kommen könnten".

Vor Parallelgesellschaften von Deutschen und Ausländern warnte auch Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU). Die Politik habe "die Integration bei weitem nicht so gut geschafft wie erträumt". Deutschland sei vor Krawallen wie in Frankreich "nicht gefeit", sagte er im SWR. Der CSU-Politiker verwies auf die hohe Arbeitslosigkeit unter türkischen Jugendlichen und fehlende Schulabschlüsse von ausländischen Kindern.

Kritik an "Hobbysoziologen"

Die Bundesregierung warnte dagegen vor voreiligen Schlussfolgerungen. Der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg sagte, die Situationen in Frankreich und Deutschland seien "nicht vergleichbar". Steg mahnte daher zur Zurückhaltung und wandte sich gegen "Hobbysoziologen", die zum Ausdruck brächten, dass ähnliche Vorfälle wie in Frankreich auch hierzulande bevorstünden. Steg betonte, dass eine "gelungene Integration" ohne Beherrschen der deutschen Sprache "nicht wirklich erfolgreich sein" könne. Die Bilder aus Paris seien für alle Demokratien eine Mahnung, dass die Integrationsbemühungen nicht für beendet erklärt werden dürften, sondern mit neuem Elan fortgesetzt werden müssten.

Deutlich skeptischer urteilte die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Seit Jahren werde eine Zunahme der Jugendgewalt, die Bildung von Jugendbanden und die Ausdehnung des Drogenhandels beobachtet, betonte der GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg. Von französischen Verhältnissen sei man in Deutschland zwar noch weit entfernt, aber "einige Ursachen für diese explosive Mischung sind auch bei uns vorhanden".

Auch die evangelische Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, beklagte eine Vernachlässigung der hier lebenden Ausländer, aus denen sich Parallelgesellschaften heraus überhaupt erst bilden könnten. Wenn die PISA-Bildungsstudie zeige, dass Kinder aus Zuwandererfamilien keine guten Chancen auf einen Bildungsabschluss hätten, müsste dies die deutsche Gesellschaft zum Nachdenken bewegen, sagte sie im NDR.
 


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SPIEGEL ONLINE - 07. November 2005, 17:53
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Krawalle in Berlin und Bremen
 
Staatsschutz ermittelt wegen Brandanschlägen

Waren es Trittbrettfahrer? Braut sich in Deutschland Gewalt in den Städten zusammen, vergleichbar mit den Krawallen in Frankreich? Nach den Brandanschlägen in Berlin und Bremen verstärkt die Polizei ihre Präsenz. Der Staatsschutz ermittelt, Politiker beschwichtigen.

Berlin - Die Sicherheitsbehörden in Berlin gehen davon aus, dass Nachahmungstäter hinter den Brandstiftungen steckten. "Wir vermuten, dass es Trittbrettfahrer sind, die die französischen Ereignisse zum Anlass nehmen, derartiges zu tun", sagte der Berliner Innensenator Ehrhart Körting.

Ein Szenario wie in Frankreich mit flächendeckenden Jugend-Unruhen könne er sich in Deutschland aber nicht vorstellen. "Ich glaube, wir haben hier auch für Migranten ein ausreichendes soziales Sicherungsnetz, das die Leute nicht in Verzweiflung stürzen lässt. Und dementsprechend glaube ich auch, dass der Stoff für explosive Entwicklungen unter den Migranten nicht da ist", betonte der SPD-Politiker. "Das schließt nicht aus, dass wir hier nicht auch Probleme haben, übrigens nicht nur bei den Migranten, sondern bei der Arbeitslosigkeit generell".

Warnung vor "falschen Ausgrenzungen"

Der Staatsschutz hat inzwischen Ermittlungen wegen der Brandstiftungen im Stadtteil Tiergarten aufgenommen, die Polizei verstärkte ihre Präsenz. Hinweise auf die Täter gab es nach den Worten Körtings bisher nicht. Er warnte davor, über die Täter zu spekulieren. "Es wäre fahrlässig, jetzt zu sagen, das waren Türken oder Araber oder Deutsche. Das führt nur zu falschen Ausgrenzungen", betonte er. Hinweise, dass Islamisten den Konflikt nutzen könnten, gebe es derzeit nicht.

In Bremen, wo bereits am Wochenende Brandanschläge auf drei Autos verübt worden waren, ging in der vergangenen Nacht ein Wohnmobil in Flammen auf. Zudem wurden mehrere Müllcontainer angezündet. Die Polizei erklärte, in dem betroffenen Viertel habe es in der letzten Zeit häufiger Probleme mit Jugendlichen gegeben. Verletzt wurde bei den Brandanschlägen in beiden Städten niemand.

Mit Ausnahme des Wohnmobil-Brandes ereigneten sich alle Brandstiftungen im problembeladenen Bremer Stadtteil Huchting. Im Zuge der Fahndung überprüfte die Polizei 14 Jugendliche. Die Ermittler haben aber keinen Anhaltspunkt für einen Zusammenhang mit den Krawallen in Frankreich. Auch gebe es keine Hinweise dafür, dass alle Brände von derselben Gruppe gelegt wurden, sagte Polizeisprecher Heiner Melloh. Die Häufigkeit der Brände sei aber eine Rarität.

Die rot-grüne Bundesregierung warnte vor voreiligen Schlüssen. Die Situation in Deutschland sei nicht mit der in Frankreich vergleichbar, sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg.

Kein Potential für vergleichbaren Gewaltausbruch

Dagegen würde es Christian Pfeiffer, den Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, nicht überraschen, wenn die Krawalle in Frankreichs Vororten diesseits des Rheins Nachahmer fänden. Zu faszinierend seien die Bilder brennender Autos für einige junge Leute, zu verlockend die Aussicht, auf der ersten Seite der Zeitung und in den Nachrichtensendungen zu landen. "Es gibt sicher viele Jugendliche, die es schick finden, mal so richtig Rabatz zu schlagen", sagte Pfeiffer.

Zugleich warnt der Kriminologe jedoch vor Panikmache. "Ich sehe derzeit nicht das Potential für einen großen Gewaltausbruch wie in Frankreich", sagt er. Trotz massiver Benachteiligung junger Migranten in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt seien die Integration in Deutschland besser gelungen und der Nährboden für Gewalt nicht so groß.

Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, betonte, die Situation in Deutschland sei nicht vergleichbar mit der Lage in Frankreich oder auch England, wo es bereits in der Vergangenheit immer wieder zu Krawallen gekommen war. In Deutschland verliefen die Trennlinien nicht zwischen Migranten und Einheimischen, sondern zwischen sozial Benachteiligten und Nicht-Benachteiligten. Politiker der Union forderten ein Umsteuern in der Integrationspolitik.
 


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