SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2005, 14:56
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Kampfabstimmung
 
Nahles wird SPD-Generalsekretärin

Mit deutlicher Mehrheit hat die Parteilinke Andrea Nahles die Kampfabstimmung um den Posten des SPD-Generalsekretärs für sich entschieden. Sie setzte sich klar gegen Franz Münteferings Favoriten Kajo Wasserhövel durch.

Berlin - Andrea Nahles setzte sich bei der Kampfabstimmung im SPD-Vorstand mit 23 zu 14 Stimmen überraschend gegen Münteferings Favoriten Wasserhövel durch. Der bisherige Bundesgeschäftsführer war von Parteichef Franz Müntefering für das Amt des Generalssekretärs vorgeschlagen worden.

Wasserhövel und Präsidiumsmitglied Nahles traten im 45 Mitglieder zählenden Vorstand der SPD in geheimer Wahl gegeneinander an. Zuvor war verabredet worden, dass derjenige, der bei der Kampfabstimmung die meisten Stimmen bekommt, als einziger Kandidat auf dem SPD-Parteitag in zwei Wochen in Karlsruhe für den Posten kandidiert.

Im SPD-Vorstand soll es eine heftige Debatte über die Neubesetzung des Generalsekretärsposten gegeben haben. Die für 14.30 Uhr geplante Pressekonferenz verzögerte sich deshalb. Zu diesem Zeitpunkt standen immer noch mindestens ein halbes Dutzend Redner auf der Liste. Aus Teilnehmerkreisen hieß es, auch Bundeskanzler Gerhard Schröder habe an der Aussprache teilgenommen.

Er habe an das Führungsgremium appelliert, alles zu tun, um die Autorität von Parteichef Franz Müntefering zu stärken. Schröder warnte vor einer Beschädigung Münteferings. Es müsse alles getan werden, um die Autorität Münteferings zu stärken, sagte er laut Regierungssprecher Béla Anda in der Vorstandssitzung. Er stellte sich damit klar hinter den Vorschlag Münteferings, seinen Vertrauten Wasserhövel zum neuen Generalsekretär zu wählen.
 


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SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2005, 15:22
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SPD-Krise
 
Müntefering legt Parteivorsitz nieder, Rolle im Kabinett unklar

Schwere Führungskrise in der SPD: Franz Müntefering gibt den Parteivorsitz ab. Sein Kandidat für den Generalsekretärs-Posten war duchgefallen. Auch seine Beteiligung an der neuen Regierung stellte Müntefering in Frage.

Berlin - SPD-Chef Franz Müntefering will nach eigenen Angaben nach seiner Niederlage bei der Abstimmung über den künftigen Generalsekretär beim Parteitag Mitte November nicht erneut für den Parteivorsitz kandidieren. Das erklärte Müntefering nach einer Krisensitzung des SPD-Präsidiums. "Unter den gegebenen Bedingungen" könne er nicht weiter Parteivorsitzender bleiben, sagte der SPD-Chef. Dafür sei das Ergebnis der Kampfabstimmung zu eindeutig gewesen.

Gleichzeitig stellte Müntefering auch seinen Eintritt in eine neue Regierung in Frage. "Ob das dazu führt, dass ich nach dem Parteitag noch in dem Kabinett sein werde oder kann, das habe ich ausdrücklich offen gelassen", sagte der SPD-Chef. Es komme darauf an, was im Koalitionsvertrag stehe. Die Koalitionsverhandlungen wolle er aber zunächst weiter bis zum Ende führen. Er sei daran interessiert, dass die Große Koalition zustande kommt. Er habe die designierte Kanzlerin Angela Merkel darüber informiert, sagte er. Müntefering sollte in einer schwarz-roten Koalition Vizekanzler und Arbeitsminister werden.

Zuvor war Münteferings Wunschkandidat für das Amt des Generalsekretärs, Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel, bei einer Abstimmung im Bundesvorstand der Parteilinken Andrea Nahles unterlegen. Von den 45 Mitgliedern des Vorstands hatten sich 23 für Nahles und 14 für Wasserhövel ausgesprochen.

Für Mittwoch berief Müntefering eine Präsidiums- und Vorstandssitzung ein, auf der entschieden werden soll, wer künftig den Parteivorsitz übernehmen soll. Beim Parteitag in Karlsruhe vom 14. bis 16. November steht die gesamte Parteispitze zur Wahl.

Bedauern über Münteferings Rücktritt

Bundeskanzler Gerhard Schröder äußerte sich enttäuscht über den vorzeitigen Abgang Münteferings. "Ich bedauere das sehr", sagte Schröder vor Beginn der Koalitionsverhandlungen in der Berliner CDU-Parteizentrale. Manchmal sei es so, dass der Ehrgeiz einzelner dem Gesamtinteresse der Partei zuwider laufe. Die Entscheidung dürfe jedoch keine Auswirkungen auf die Bildung der Koalition zwischen Union und SPD haben. Nach Lage der Dinge, sei die Bildung einer stabilen Regierung nur in einer großen Koalition möglich.

Schröder wandte sich dagegen, die Lage zu dramatisieren. Der Parteichef könne sicher sein, dass ein Großteil der SPD weiter hinter ihm stehe. Schröder äußerte die Erwartung, dass die Koalitionsverhandlungen planmäßig bis zum 12. November abgeschlossen sein werden, und "noch effektiver und zielgerichteter gestaltet werden". Mit Blick auf die Kampfkandidatur der Parteilinken Andrea Nahles sagte er, "jeder muss wissen: Verantwortung für das Land ist wichtiger als die Querelen einzelner".

Auch andere hochrangige SPD-Politiker bedauerten den Rückzug Münteferings. "Es ist ein Unfall passiert, weil Leute entschieden haben, ohne das Ende zu bedenken", sagte Fraktionsvize Ludwig Stiegler. "Wir müssen uns jetzt neu aufstellen." Über die Nachfolge solle die Partei jetzt "ein paar Tage die Klappe halten". In den Koalitionsverhandlungen mit der Union werde sich die SPD hinter Müntefering "scharen, damit kein Schaden entsteht". Stiegler warnte zugleich davor, Unmut nun auf Nahles abzuladen.

Fraktionsvize Joachim Poß sagte, er könne die Naivität mancher hochrangiger Sozialdemokraten "nicht nachvollziehen". Der SPD-Agrarminister von Mecklenburg-Vorpommern, Till Backhaus, sagte, er sei maßlos enttäuscht. "Ich hätte gedacht, dass die Partei etwas reifer ist."
 


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SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2005, 19:24
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Koalitions-Chaos
 
Müntefering fällt, Stoiber schwankt

Von Sebastian Fischer, München

Die Große Koalition erlebt ihre erste schwere Krise, bevor sie überhaupt im Amt ist. Der Sieg der SPD-Linken Nahles löste eine politische Kettenreaktion aus: Erst kündigte SPD-Chef Müntefering seinen Abschied an, jetzt will CSU-Chef Stoiber seinen Wechsel nach Berlin überdenken. Platzt Merkels Koalition?

München - Kettenreaktionen in der Politik ähneln denen der Physik: Ein Ereignis stößt weitere Ereignisse an, die immer schneller und unkontrollierter verlaufen. Nachdem sich Andrea Nahles im SPD-Vorstand als designierte Generalsekretärin gegen den Kandidaten Münteferings durchsetzte, kündigte letzterer an, unter diesen Bedingungen nicht mehr Parteivorsitzender sein zu wollen. Und ob er überhaupt ins Kabinett einer Großen Koalition eintreten wird, ließ Müntefering bewusst offen.

Die Ereignisse Nahles und Müntefering brachten das Ereignis Stoiber hervor: Der Noch-Ministerpräsident von Bayern ist zwar schon Fast-Wirtschaftsminister der Großen Koalition, doch Münteferings Rücktritt bedeute, so die Zeitung "Die Welt" in Berufung auf CSU-Kreise, "dass die Grundlage, auf der Stoiber seine Bereitschaft zum Eintritt in die Bundesregierung erklärt hat, so nicht mehr gegeben ist". Deshalb solle die für den 15. November geplante Wahl eines Nachfolgers in Bayern durch die CSU-Landtagsfraktion nicht mehr stattfinden.

Die Ereignisse Nahles und Müntefering brachten das Ereignis Stoiber hervor: Der Noch-Ministerpräsident von Bayern ist zwar schon Fast-Wirtschaftsminister der Großen Koalition, doch Münteferings Rücktritt bedeutet "für mich und uns eine veränderte Lage", wie Stoiber nach der vierten großen Koalitionsrunde am Abend in Berlin erklärte

Stoiber wollte sich zwar nicht klar dazu äußern, ob er womöglich doch nicht in ein künftiges Bundeskabinett wechseln könnte. Er sagte aber, er werde morgen mit dem CSU-Präsidium beraten. "Franz Müntefering ist als Parteivorsitzender natürlich eine Autorität und ein Eckpfeiler einer großen Koalition, die wir alle natürlich wollen und natürlich unterstützen." Er betonte: "Dieser Eckpfeiler ist verändert." Dies habe Auswirkungen, die einfach beraten werden müssten.

CDU in tiefer Sorge

Die große Unionsschwester hingegen ist in tiefer Sorge um ihr Regierungsprojekt. In der CDU fürchtet man eine Spaltung der SPD in eine Regierungs- und Oppositionsfraktion: "Wir wissen nicht, inwieweit unsere Partner in den Koalitionsverhandlungen noch Prokura haben", sagte ein Merkel-Vertrauter gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Wir wollten uns in der Großen Koalition auf Steinbrück, Steinmeier und vor allem Müntefering stützen."

Nun aber sei "Müntefering als tragende Säule von seiner eigenen Partei herausgeschossen" worden: "Die SPD ist jetzt unberechenbarer und irrationaler als zuvor", so der Merkel-Mann. Jetzt sei wieder offen, "was vereinbart werden kann und wer unsere Partner sind". Man könne in Zukunft nicht mehr wissen, ob zum Beispiel eine Äußerung des designierten SPD-Finanzministers Steinbrück "noch Deckung aus der Partei" habe.

Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach fragte sich, ob Müntefering "neben der Verhandlungsvollmacht seiner Partei nun überhaupt noch die Abschlussvollmacht für die Koalitionsgespräche" habe. Die SPD müsse nun sagen, "dass sie die Große Koalition noch will". Auch der stellvertretende CDU-Vorsitzende und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers äußerte sich sorgenvoll: Müntefering sei ein Anker gewesen, in der Union herrsche "tiefe Verunsicherung": "Eine neue handlungsfähige Regierung gibt es nur mit einer handlungsfähigen SPD."

"Die Union weiß nicht, wie sich die SPD entwickeln wird"

Der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte erkennt in Münteferings Rücktritt "große Nachteile für die CDU". Die Partei wisse nicht, "mit wem sie jetzt was verhandeln kann", sagte Korte gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Die Union weiß gar nicht, wie sich die SPD weiter entwickeln wird", denn die sozialdemokratische Kritik käme nicht nur vom linken Parteiflügel, auch die Reformer um Wolfgang Clement etwa seien nicht zufrieden mit der Lage.

Damit gebe es nach Münteferings Rückzug nicht nur macht- oder personalpolitische Problemkonstellationen, sondern vor allem auch inhaltliche Verwerfungen. Eine mögliche Rückzugsdrohung Stoibers hält Korte dagegen für einen Nebenschauplatz: "Herr Stoiber hat in den vergangenen Wochen so viele Winkelzüge gemacht, er wird ja machtpolitisch gar nicht mehr ernst genommen."

Auch in der Münchner CSU-Landtagsfraktion reagiert man eher verhalten auf Stoibers mögliche Wiederkehr als bayerischer Ministerpräsident: "Der CSU-Parteivorsitzende gehört nach Berlin", sagte der Landtagsabgeordnete Robert Kiesel SPIEGEL ONLINE. Für Stoiber habe "Münteferings Rücktritt nichts zu bedeuten". Es gebe überhaupt keine Frage, "Stoiber muss dahin" - nach Berlin. Derweil erklären Stoiber-Vertraute, eine Entscheidung des Ministerpräsidenten stehe noch nicht fest. Die Münchner Winkelzüge können weitergehen.
 


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SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2005, 19:26
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Parteikrise
 
SPD-Abgeordnete stellen Nahles-Wahl in Frage

Die SPD taumelt: Nach dem Müntefering-Rückzug wollen einige SPD-Abgeordnete die Nominierung von Andrea Nahles als Generalsekretärin am liebsten ungeschehen machen. Parteivize Thierse stellte die Wahl der Parteilinken offen in Frage.

Berlin - Wolfgang Thierse sagte dem RBB auf die Frage, ob Nahles' Wahl zur Generalsekretärin auch weiterhin klar sei: "Das wird man zu besprechen haben, denn wir sind in einer veränderten Situation, und da können ja auch die bisherigen Verabredungen und Entscheidungen so nicht mehr gelten."

Der konservative "Seeheimer Kreis" der SPD wandte sich ausdrücklich gegen die Wahl Nahles' beim SPD-Parteitag in zwei Wochen. "Nach dem sehr bedauerlichen Rückzug von Franz Müntefering sehen wir keine Möglichkeit, dass das Plenum des Parteitags Andrea Nahles zur Generalsekretärin wählt", sagte Seeheimer-Sprecher Klaas Hübner. Erst nach der Wahl eines neuen Vorsitzenden könne ein Generalsekretär bestimmt werden.

Der SPD-Vorstand hatte Nahles zuvor gegen Münteferings ausdrückliches Werben und gegen dessen Kandidaten Kajo Wasserhövel als neue Generalsekretärin nominiert. Als Reaktion auf seine Niederlage hatte Müntefering angekündigt, beim Parteitag nicht mehr als SPD-Vorsitzender zu kandidieren. Er hatte damit die SPD in eine Krise gestürzt. Beim Parteitag in Karlsruhe steht die ganze Parteispitze zur Wahl. Auch der Nachfolger des scheidenden Generalsekretärs Klaus Uwe Benneter wird vom Parteitag gewählt.

Der "Seeheimer Kreis" forderte die SPD-Linke zu harten Konsequenzen auf. Es gebe nun keinen Grund mehr für die dem linken Flügel zugerechnete Parteivize Heidemarie Wieczorek-Zeul, einer personellen Erneuerung im Wege zu stehen, erklärte der Seeheimer Kreis am Montag in Berlin. "Wir fordern sie daher auf, ihr Amt zur Verfügung zu stellen."

Auch der designierte Umweltminister Sigmar Gabriel hatte Wieczorek-Zeul sowie Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier in der Vorstandssitzung in massiver Form vorgeworfen, sie klebten an ihren Posten. Insbesondere Wieczorek-Zeul wird von führenden Sozialdemokraten vorgeworfen, durch Intrigen die Kandidatur der Parteilinken Andrea Nahles als SPD-Generalsekretärin unterstützt zu haben, um ihren eigenen Posten zu sichern.

Die Seeheimer übten scharfe Kritik an den Vorgängen um die Nominierung von Nahles als SPD-Generalsekretärin. In der Erklärung hieß es, der Parteichef brauche "einen Generalsekretär seines Vertrauens und nicht der Generalsekretär einen Parteivorsitzenden seines Vertrauens". Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hätten bisher "hervorragende Ergebnisse" bei den Koalitionsverhandlungen erzielt. Nun komme es darauf an, die Verhandlungen zu einem positiven Ende zu führen.

Auch der Ost-Sprecher der SPD-Bundestagsabgeordneten, Stephan Hilsberg, äußerte die Ansicht, dass Nahles nicht SPD-Generalsekretärin werden könne. "Eine Generalsekretärin, die für eine vernünftige Strategie der SPD stehen will, kann doch nicht als Einstand erst mal die Partei kopflos machen", sagte Hilsberg der "Sächsischen Zeitung". Er sei entsetzt über den ganzen Vorgang, sagte Hilsberg. Die Entscheidung von Müntefering, sein Amt zur Verfügung zu stellen, sei absolut folgerichtig und hoch respektabel.
 


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SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2005, 19:57
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Koalitions-Chaos
 
Westerwelle bringt Jamaika wieder ins Spiel

Nach dem durch den Müntefering-Rückzug ausgelösten Koalitions-Chaos zwischen Union und SPD hat FDP-Chef Westerwelle erneut die Möglichkeit einer Jamaika-Koalition ins Gespräch gebracht. Die Grünen winken ab.

Berlin - Über ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen solle nach den "Auflösungserscheinungen" in den Parteien der Großen Koalition noch einmal ernsthaft gesprochen werden, forderte Guido Westerwelle nach dem Rückzug von SPD-Chef Franz Müntefering und Meldungen über einen Verzicht des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber auf ein Ministeramt. Grünen-Parteichef Reinhard Bütikofer wies das Ansinnen jedoch umgehend zurück.

"Der Kindergarten und das Chaos der Volksparteien sind unwürdig", sagte Westerwelle laut Vorabmeldung am Abend in der ARD-Sendung "Beckmann". "Gerhard Schröder geht, Müntefering wird gegangen, Stoiber setzt Seehofer gegen Merkel durch, Stoiber kommt, Stoiber geht - das ist eine Erosion", sagte der FDP-Chef.

Die SPD-Entscheidung für Andrea Nahles als Generalsekretärin sei ein bewusstes Absetzen von Müntefering. "Das ist kein Betriebsunfall. In Wahrheit wurde er abgeräumt", wird Westerwelle zitiert. Die SPD sei "chaotisch aufgestellt" und nicht regierungsfähig.

Müntefering habe kein Verhandlungsmandat mehr für die Koalitionsgespräche mit der Union. "Es kann niemand für seine Partei verhandeln, der faktisch abgewählt worden ist", fuhr Westerwelle fort. Er forderte "ernsthafte Gespräche" von Union, FDP und Grünen. "Jamaika ist noch nicht vom Tisch. Alle müssen aufeinander zugehen", begründete der FDP-Vorsitzende seinen Vorstoß.

Westerwelle schloss aber auf Nachfrage aus, dass er in einer solchen Koalition selbst ein Regierungsamt übernehmen würde. Seine Entscheidung für das Amt des FDP-Partei- und Fraktionsvorsitzenden gelte für die komplette kommende Legislaturperiode.

Der Grünen-Vorsitzende Bütikofer sagte aber in der ZDF zur Jamaika-Koalition, davon halte er gar nichts. Er sei sich ziemlich sicher, dass es keine FDP-Politik geben werde und die FDP keinen Einfluss auf die Regierungspolitik bekomme. "Darum geht es jetzt überhaupt nicht", fügte Bütikofer hinzu. Der "Leipziger Volkszeitung" sagte der Grünen-Chef, für seine Partei gebe es keinen Anlass, sich an alternativen Koalitionsüberlegungen zu beteiligen. Das gelte sowohl für eine Linkskoalition als auch ein Jamaika-Bündnis.

Die andere Grünen-Vorsitzende Claudia Roth sagte der "Augsburger Allgemeinen" Zeitung, die "Selbstenthauptung" Münteferings schwäche die SPD massiv bei den Koalitionsverhandlungen. Der Vorgang zeige "gigantische Brüche innerhalb der SPD". Zu Stoibers möglichem Verzicht auf ein Ministeramt sagte Roth: "Das heißt doch, dass Angela Merkel für ihn nur eine Attrappe ist und er zusammen mit Müntefering regieren wollte."
 


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SPIEGEL ONLINE - 31. Oktober 2005, 20:50
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Münteferings Rückzug
 
Die SPD meuchelt aus Versehen ihren Chef

Von Carsten Volkery

Nach Gerhard Schröder verliert die Partei mit Franz Müntefering ihre zweite Integrationsfigur. Der eben noch allmächtig erscheinende Parteichef stolpert über eine 35-jährige Nachwuchskraft. Geschockt rufen die Genossen im Chor: Das haben wir nicht gewollt.

Berlin - Damit hatte niemand gerechnet. Dass Franz Müntefering seiner Partei in einem entscheidenden Moment den Rücken kehrt, hätte sich kein Sozialdemokrat träumen lassen. Auch die Mitglieder des SPD-Vorstandes fielen aus allen Wolken. Erst langsam dämmerte ihnen an diesem Montagnachmittag, was sie da angerichtet hatten.

Mit roten Augen verließen einige nach der Vorstandssitzung den Aufzug im Willy-Brandt-Haus. "Sehr gedrückt" sei die Stimmung, sagte der Parteiratsvorsitzende Rüdiger Fikentscher. "Niedergeschlagen", sagte der Parteilinke Ottmar Schreiner. Fraktionsvize Joachim Poß wütete, er könne "die Naivität hochrangiger Sozialdemokraten nicht nachvollziehen". Und der bayerische Landeschef Ludwig Stiegler analysierte kühl, da hätten wohl einige bei ihrem Abstimmverhalten das Ende nicht mit bedacht.

Eine Ohrfeige hatte man Müntefering verpassen wollen, einen Denkzettel für seinen autoritären Stil und seine zahlreichen Solonummern. Stattdessen beendeten die 38 anwesenden Vorstandsmitglieder ebenso ungewollt wie unvermittelt eine Ära. Nur wenige Wochen nach Schröders Abgang geht der SPD nun auch der zweite Übervater verloren - obendrein derjenige, der sie in die schwierige Übergangsperiode unter der Großen Koalition führen sollte.

Der Parteivorstand war am Mittag zusammengekommen, um dem SPD-Parteitag im November einen Kandidaten für den vakanten Generalsekretärsposten zu empfehlen. Zur Wahl standen der von Müntefering vorgeschlagene Kandidat, sein Vertrauter Kajo Wasserhövel, sowie die Sprecherin der Parteilinken, Andrea Nahles. Die 35-Jährige hatte es gewagt, das traditionelle Vorschlagsrecht des Parteivorsitzenden in Frage zu stellen.

Müntefering hatte bis zuletzt versucht, ihr die Kandidatur auszureden. Gestern abend hatte das SPD-Präsidium, dem Nahles angehört, drei Stunden über das Thema debattiert. Am Ende verkündete Müntefering, dass es im Parteivorstand zum Duell kommen würde und dass der Vorstand den Sieger unterstützen werde. Dass der allmächtig erscheinende Parteichef bei dieser Machtprobe Schaden davon tragen könnte, schwante den meisten. Stiegler warnte heute öffentlich vor einer Demontage des Parteichefs.

Niemand allerdings hatte eine solche Abrechnung vorhergesehen: Das Ergebnis der Kampfabstimmung fiel mit 23 zu 14 Stimmen überraschend eindeutig zugunsten von Nahles aus. Noch am Morgen war man in internen Auszählungen auf 21 sichere Stimmen für Wasserhövel gekommen. Dass es am Ende sieben weniger waren, führte zum Skandal.

Müntefering erkannte das Ergebnis als Misstrauensvotum gegen sich selbst und zog die Konsequenzen. Die Sitzung des Parteivorstands wurde unterbrochen, das Präsidium trat zur Krisensitzung zusammen. Er stehe als Parteivorsitzender nicht mehr zur Verfügung, erklärte Müntefering dem geschockten Kreis.

Etwas bleich, aber gefasst trat Müntefering anschließend vor die Presse und berichtete nüchtern von den Ergebnissen. "Unter den gegebenen Bedingungen kann ich nicht mehr Parteivorsitzender sein, dafür war das Votum denn doch zu eindeutig und zu klar", sagte er ruhig. Der Generationswechsel komme nun schneller als erwartet. "Ich hatte für mich die Planung, dass in den nächsten vier oder fünf Jahren die Erneuerung und Verjüngung der Partei an verschiedenen Stellen stattfinden würde und sollte. Das geht nun ein bisschen schneller". Und er fügte hinzu: "Das muss nicht schlecht sein".

Müntefering betonte, er wolle nicht "davonlaufen". Die Koalitionsgespräche werde er zu Ende führen. Ob er als Vizekanzler in das Kabinett Merkel eintreten werde, ließ er ausdrücklich offen. Schwäche konnte er sich heute nicht leisten: Gleich nach seiner großen Niederlage musste er wieder an den Verhandlungstisch, später dann noch in die entscheidenden Vier-plus-Zwei-Gespräche über den Haushalt mit der Unionsspitze.

In der Partei wurde Münteferings Rückzug mit Entsetzen aufgenommen. Der Große Vorsitzende, das Kraft- und Machtzentrum, hatte gerade den Mythos seiner Unangreifbarkeit beerdigt. Der konservative Seeheimer Kreis forderte Nahles zum Verzicht auf und appellierte an Müntefering, es sich noch einmal zu überlegen. "Müntefering darf nicht dem Ego-Trip von Nahles geopfert werden", sagte der Sprecher der Gruppierung, Johannes Kahrs.

Auch auf dem linken Flügel, der Nahles massiv unterstützt hatte, war das Wehklagen groß. Müntefering mache mit seinem Rückzug einen Fehler, hieß es und: "Es geht jetzt um die Partei und nicht darum, beleidigte Leberwurst zu spielen".

Besonders der Parteivorstand ist in Erklärungsnot. "Wir wollten Franz Müntefering nicht stürzen", beteuert einer der Nahles-Unterstützer. Müntefering habe zuletzt "Entspannungssignale" gesandt, etwa mit dem Hinweis gestern abend, dass der Nominierte vom gesamten Parteivorstand unterstützt würde. Hätte er seinen Rücktritt auch nur angedeutet, wäre Nahles nicht einmal angetreten, behaupten jetzt verschämt linke Parteikreise. "Ich kann nur hoffen, dass in den nächsten Tagen noch was zu reparieren ist", sagte Nahles-Unterstützer Schreiner. Dies jedoch wird in Münteferings Umfeld ausgeschlossen - der Mann steht zu seinem Wort.

Müntefering hatte vor der Abstimmung nicht offen mit seinem Rücktritt gedroht. Aber in seinen Redebeiträgen sei implizit doch deutlich geworden, dass er sein Schicksal mit der Abstimmung verknüpfe, berichteten Teilnehmer. Eindringlich habe er noch einmal für Wasserhövel geworben. Gerade in Zeiten der Großen Koalition brauche er, der künftige Vizekanzler, jemanden an der Spitze des Willy-Brandt-Hauses, dem er vertrauen könne. Nach Münteferings Eingangsworten stellten sich die beiden Kandidaten Nahles und Wasserhövel vor. Nahles machte deutlich, sie wolle dafür arbeiten, dass die SPD im Wahlkampf 2009 eine eigene Perspektive habe. Wasserhövel erzählte von seinen Wahlkampferlebnissen und betonte die "Kampagnenfähigkeit" der Partei.

Danach sprach als einer der ersten von etwa 15 Rednern Gerhard Schröder. Er erklärte, was eine Stimme gegen Wasserhövel bedeuten würde. "Das war nicht hilfreich", sagte ein Zuhörer hinterher. Es habe den Vorstand daran erinnert, wie die Partei durch Schröders Führungsstil "ausgeblutet" sei. Die Abstimmung sei daher auch ein "Zeichen der Selbstbehauptung gegen sieben Jahre Schröder gewesen". Dass Müntefering, der Parteiversteher, diese Stimmung nicht erkannt hat und aufzunehmen wusste, ist vielleicht sein größter Fehler. Dass wiederum der Parteivorstand Münteferings Signale nicht richtig zu deuten wusste, ist kein geringerer Fehler.

Nach der Sitzung dauerte es nur Minuten, bis sich die Meldung von Münteferings Rückzug unter den im Willy-Brandt-Haus versammelten Journalisten verbreitete. Niemand hatte diesen Zug kommen sehen, am Morgen noch hatte die "Tageszeitung" Müntefering als "mächtigsten Parteivorsitzenden, den die SPD je hatte" bezeichnet. Sofort machte sich das Gefühl der historischen Zäsur breit - so wie nach der Neuwahlankündigung oder dem Abend nach der Bundestagswahl, als Schröder erklärte, er wolle Kanzler bleiben. Wohin steuert die SPD nun?

Es ist nicht ohne Ironie, dass Müntefering, der das Amt verkörperte wie kaum ein anderer, mit 20 Monaten an der Spitze der Partei nun der kurzlebigste Vorsitzende der Nachkriegszeit ist. Selbst Schröder, der Anfang 2004 ausschied, ertrug die Partei länger.

Die Spekulationen über Münteferings Nachfolger begannen umgehend. Die größten Chancen werden den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, und von Brandenburg, Matthias Platzeck, eingeräumt. Die Entscheidung soll am Mittwoch in einer Präsidiumssitzung fallen. Platzeck, der in Brandenburg eine Große Koalition führt, brachte sich bereits in Stellung: "Ich habe mich noch nie vor Verantwortung gedrückt".
 


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SPIEGEL ONLINE - 01. November 2005, 00:12
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Presseschau zum Münte-Abgang
 
"Die SPD steht kopflos da"

Krise für die SPD, Unsicherheit für eine Große Koalition - die Kommentatoren der deutschen Tageszeitungen sind sich einig: Der Verzicht von SPD-Chef Müntefering auf den Parteivorsitz hat die politische Lage völlig ins Wanken gebracht. Einige sprechen über Neuwahlen.

"die tageszeitung"

"Münteferings Abgang ist für die von Schröders Egotouren ohnehin zerzauste SPD ein Unglück. Er verkörpert wie kein Zweiter sozialdemokratische Tugenden: zuverlässig, uneitel. Wer soll der SPD die schmerzhafte Sparpolitik nun glaubwürdig präsentieren - ein Technokrat wie Peer Steinbrück? Kaum. Ohne Müntefering kann sogar die gesamte Statik der großen Koalition zusammenbrechen. Das wäre ein Sieg des Irrationalen über das Vernünftige. Die SPD scheint sich derzeit selbst nicht zu verstehen."

"Süddeutsche Zeitung"

"Die Ereignisse in der SPD sind ein politischer Paukenschlag, nach dem sich noch gar nicht genau sagen lässt, welchen Schaden die freigesetzten Schallwellen noch anrichten werden. (...) In dem Moment, da die Personalaufstellung abgeschlossen zu sein schien, steht die SPD plötzlich kopflos da. Allein schon für die Partei sind die Folgen kaum übersehbar: Mit Franz Müntefering geht ein Vorsitzender, der von der Sympathie und dem Vertrauen der Parteimitglieder getragen wurde, wie lange kein anderer mehr vor ihm. Doch er hat übersehen, dass die Zeiten dieser Art von widerwilliger Gefolgschaft in der SPD vorbei sind. Die Partei will nicht mehr nach dem Basta-Prinzip geführt werden. Die Koalitionsverhandlungen der SPD mit der Union stehen nun unter völlig neuen Vorzeichen."

"BILD"

"In die SPD ist der Blitz gefahren. Münteferings Rücktritt bedeutet Chaos. Der Sauerländer hat alles zusammengehalten: die abgeschlagene Partei, die geplante Große Koalition. Was nun? Kommt alles wieder ins Wanken? Mit der Entscheidung für Andrea Nahles hat die Parteiführung Müntefering ein Bein gestellt. Er schlug lang hin. Statt sich aufzurappeln, wirft er das Handtuch. Ein Nervenkollaps oder mehr? In Wirklichkeit sind die großen Parteien mit dem Wahlergebnis nicht fertiggeworden. Sie wanken, sie haben Alpträume. Statt Probleme zu lösen, dividieren sie sich auseinander. (...) Die Bürger werden unruhig. Sie erwarten von ihren Politikern eine stabile Regierung. Und was sehen sie? Einen Tanz der Kopflosen."

"Thüringische Landeszeitung"

"Die SPD ist in der Wirklichkeit angekommen. Die Euphorie der vergangenen Wochen, die verbale Kraftmeierei eines Gerhard Schröder, der erfolgreiche Verhandlungspoker eines Franz Müntefering - alles ist wie weggeblasen. Am Verhandlungstisch sitzen jetzt nicht zwei große Volksparteien, sondern Parteien, die deutlich schwächeln. Angela Merkel muss schon jetzt beweisen, dass sie auseinander fliehende Kräfte zusammenhalten kann. Schafft sie das nicht, ist die Große Koalition schon Geschichte, bevor sie begonnen hat."

"Sächsische Zeitung"

"Franz Müntefering hatte am Ende keine Wahl. Er ist vom SPD-Vorsitz weggeputscht worden. Aus Versehen, wie es aussieht. Das letztlich einzig übrig gebliebene Kraftfeld in der SPD, ihr Vorsitzender Müntefering, wurde zerstört. Jetzt hat die SPD keines mehr. Noch sind alle, auch die, die den Putsch herbeigeführt haben, nur erschrocken. Die Folgen sind noch unabsehbar: für die SPD, die große Koalition, die Stabilität des Landes."

"Darmstädter Echo"

"In der entscheidenden Phase der Koalitionsgespräche enthauptet sich die SPD selbst: Rational lässt sich das kaum noch nachvollziehen. Der Abgang Franz Münteferings stürzt die Sozialdemokraten in eine tiefe Krise, und das ohne jede Not. Der bizarre Show-down um den künftigen Generalsekretär ist allerdings nicht nur ein schwerer, vermutlich auf Jahre nachwirkender Schaden für die Partei. Schlimmer für das Land ist es zunächst, dass auch das Zustandekommen der geplanten Großen Koalition nach der schwierigen, wochenlangen Annäherungsphase der beiden Partner wieder in Frage steht."

"Westfälische Nachrichten"

"Die Frage nach dem Aufbegehren der Linken war längst keine mehr des Ob, sondern nurmehr eine des Wann. Mag sein, dass Franz Müntefering, der die Seele der Partei so gut kennt wie kaum ein anderer, die Entscheidung mit der Personalie Wasserhövel herbeiführen und den programmatischen Klärungsprozess auslösen wollte. Den Tagessieg haben zunächst einmal die Linken errungen. Das Ganze könnte sich allerdings noch als ein Pyrrhussieg erweisen. Denn wenn die SPD nach links rutscht, gerät sie in den Dunstkreis von Gysi und Lafontaine. Und spätestens dann muss Frau Merkel die Notbremse ziehen."

"Westdeutsche Zeitung"

"Selbst wenn wir bei dem Gedanken erschrecken. Vielleicht sollen wir jetzt wirklich über Neuwahlen nachdenken? Klar, den Idealen der Demokratie entspräche dies nicht. Schließlich darf die Politik nicht die Bürger so lange zur Urne schicken, bis sie mit dem Ergebnis klar kommt. Andererseits scheint der Weg zu einer handlungsfähigen Regierung jetzt chaotischer und länger denn je. Wir brauchen rasch klare Verhältnisse. So gesehen könnte das Gespenst Neuwahl sogar Charme versprühen."

"Neue Presse"

"Das Ergebnis dieser eindrucksvollen Demonstration sozialdemokratischer Lust am Untergang ist das totale Chaos. In der nun führungslosen SPD. Und, was viel schlimmer ist, in Berlin. Denn alle zaghaft keimenden Hoffnungen auf eine gedeihliche Regierungszusammenarbeit der beiden großen Parteien stehen wieder in Frage. Die große Koalition sie steckt in der Krise, bevor sie überhaupt begonnen hat. Der vermeintliche Vizekanzler Müntefering steht auf der Kippe. Stoiber, eben noch ein Möchtegern-Minister, droht sich aus dem Staube zu machen. Und Angela Merkel muss sich noch einmal ernsthaft Sorgen um ihre Kanzlerwahl machen. Denn wenn die Koalitionsverhandlungen jetzt an den Genossen scheitern, wären Neuwahlen die wahrscheinlichste Folge. Langsam wird es gespenstisch in Deutschland."


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SPIEGEL ONLINE - 01. November 2005, 06:40
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SPD-Krise
 
Katzenjammer nach Münteferings Rücktritt

In der SPD herrschen Wut und Entsetzen. Kopflos streiten die Sozialdemokraten nach dem angekündigten Rückzug ihres Parteichefs Müntefering über Gründe und Konsequenzen. Erste Forderungen nach der Abdankung des gesamten SPD-Vorstands werden laut.

Berlin/Düsseldorf - Mit dem angekündigten Rückzug von Parteichef Franz Müntefering habe sich die gesamte engere Parteiführung in Frage gestellt, sagte SPD-Fraktionsvize Joachim Poß in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. "Eine völlige Neuaufstellung ist sofort überfällig", betonte Poß, der selbst dem Parteivorstand angehört. Empört zeigte er sich über führende Parteifreunde, die nach Münteferings Bloßstellung durch die Nominierung der Parteilinken Andrea Nahles zur Generalsekretärin jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen wollten.

Unter Hinweis auf die stellvertretende SPD-Chefin Ute Vogt und den thüringischen SPD-Chef Christoph Matschie, die schon öffentlich über Nachfolger von Müntefering spekulierten, sagte Poß: "Solche Schönredner brauchen wir nicht." Der gesamte Vorgang müsse sorgfältig aufgearbeitet werden. Bei der SPD-Basis herrsche wegen des Umgangs mit Müntefering "blanke Wut und pures Entsetzen".

Vogt beteuerte dagegen, niemand im Vorstand habe Müntefering bei der Abstimmung über den Generalsekretär Schaden zufügen wollen. Sie räumte allerdings ein, das Votum für Nahles sei riskant gewesen. Wenn sie allerdings gewusst hätte, dass Müntefering bei einem Scheitern Wasserhövels sein Parteiamt zur Verfügung stellen werde, hätte sie selbst wohl nicht für Nahles gestimmt. Nahles hätte in diesem Fall womöglich gar nicht für das Amt der Generalsekretärin kandidiert.

Nahles wird der Rückzug nahegelegt

Der Sprecher der ostdeutschen SPD-Bundestagsabgeordneten, Stephan Hilsberg, sagte allerdings, jedem im Vorstand hätten die Folgen einer Niederlage für Münteferings Wunschkandidaten Kajo Wasserhövel klar sein müssen. Nahles habe mit ihrem Machtspiel den Rücktritt Münteferings in Kauf genommen, die SPD "kopflos" gemacht und damit gezeigt, dass sie für das Amt der Generalsekretärin in keiner Hinsicht geeignet sei. Mit der Nominierung von Nahles sei die SPD aus einer komfortablen Situation in eine möglicherweise über Wochen dauernde Krise hineingeschlittert. Nahles solle sich ihre Kandidatur noch einmal überlegen.

Der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, Johannes Kahrs, sagte, Nahles Behauptung, man habe ja nicht wissen können, dass Müntefering bei einer Abstimmungsniederlage im Vorstand sein Amt zur Verfügung stellen werde, zeige lediglich, dass sie nicht einmal zur Führung einer Juso-Gruppe qualifiziert sei. Auch SPD-Vize Heidemarie Wieczorek-Zeul, der frühere Juso-Chef Niels Annen und die amtierenden Familienministerin Renate Schmidt hätten Eitelkeit vor politischen Sachverstand gesetzt. Er könne nur hoffen, dass Müntefering als Arbeitsminister und Vizekanzler antrete und die Partei einen Vorsitzenden finde, der für eine starke SPD in der großen Koalition sorge.

Auch die anderen Partei machen sich mittlerweile Gedanken über die SPD: Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, sagte, sie sei in Sorge um den Zustand der SPD. Die Partei habe so viel mit sich zu tun, dass man sich fragen müsse, ob sie überhaupt verhandlungsfähig sei.

CDU-Präsidiumsmitglied Hildegard Müller sagte, sie hoffe, dass die instabilen Verhältnisse in der SPD jetzt nicht zu Lasten des Landes gingen. "Wir haben eine große Aufgabe vor uns und können keine SPD gebrauchen, die sich mit sich selbst befasst", betonte sie.

Der Chef der Jungen Union, Philipp Mißfelder, sagte, die SPD habe ein gewaltiges Stück Arbeit vor sich, um ihr innerparteiliches Gleichgewicht zu wahren.
 


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