SPIEGEL ONLINE - 24. Oktober 2005, 16:11
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Arbeitslosengeld II
 
Bundesagentur will Telefonkontrollen ausweiten

Die Bundesagentur für Arbeit will die Telefonkontrollen bei Beziehern des Arbeitslosengelds II ausweiten. Gewerkschafter warnten davor, erwerbslose Menschen unter Generalverdacht zu stellen. Das Wirtschaftsministerium brandmarkte mutmaßliche Sozialbetrüger sogar als "Parasiten".

Berlin - Die seit Juli laufenden, stichprobenartigen Telefonate zur Erreichbarkeit der Leistungsempfänger sollten verstärkt werden, sagte eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums heute in Berlin. Bislang sei eine große Zahl der Hartz-IV-Empfänger nicht erreichbar gewesen. Allein dadurch könne zwar nicht direkt auf Missbrauch geschlossen werden, es sei aber jeder "zur Mitwirkung verpflichtet" und müsse für Rücksprache zur Verfügung stehen, sagte die Sprecherin.

Der stellvertretende Verwaltungsratschef der Agentur, Peter Clever, hatte zuvor im Deutschlandfunk gesagt, bei telefonischen Kontrollen von 390.000 Hartz-IV-Empfängern seien 170.000 nicht erreicht worden, obwohl jeweils zehn Versuche zu unterschiedlichen Tageszeiten an unterschiedlichen Wochentagen unternommen worden seien. "Da muss also wirklich nur ein sehr Naiver glauben, dass alle diese 170.000 gerade in Vorstellungsgesprächen waren." Clever sitzt für die Arbeitgeberseite im BA-Verwaltungsrat. Vergangene Woche hatte er erklärt, zehn Prozent aller Arbeitslosengeld-II-Empfänger erhielten vermutlich zu Unrecht Leistungen.

Schmarotzer und Parasiten

Stimmung gegen Sozialhilfeempfänger macht zurzeit Noch-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD). Auf der Webseite seines Ministeriums findet sich ein 33-seitiges Dokument mit dem Titel "Vorrang für die Anständigen". Der holprig formulierte "Report vom Arbeitsmarkt" listet Fälle von Sozialmissbrauch auf. In dem Papier ist unter anderem von Schmarotzern und Abzockern die Rede.

Zudem vergleicht das Papier Hartz-IV-Empfänger indirekt mit Ungeziefer: "Biologen verwenden für 'Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben', übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten." Auch ansonsten strotzt das Pamphlet vor Ressentiments. Während deutsche Sozialhilfeempfänger von den Autoren mit vollem Namen genannt werden, bekommen Ausländer nur einen Vornamen zugestanden ("beim Kontrollbesuch jammert Ibrahim").

Roth moniert "großkoalitionäre Sündenbock-Debatte"

Clement, der das Vorwort zu dem umstrittenen Papier verfasst hat, weist bislang jede Kritik an Stil und Inhalt zurück. Die Grünen übten heute scharfe Kritik an dem Dokument. Es sei "unerträglich", wenn Menschen als "Schmarotzer" oder "Parasiten" bezeichnet und alle ALG-II-Empfänger unter Generalverdacht gestellt werden, sagte Parteichefin Claudia Roth nach Beratungen des Grünen-Vorstandes in Berlin. Dies sei ein "uraltes Mittel", um von eigenen Fehlern abzulenken.

Selbstverständlich sähen auch die Grünen, dass man die Kostensteigerungen bei der Arbeitsmarktreform Hartz IV in den Griff bekommen müsse, betonte Roth. Dies gehe aber nicht mit einer "großkoalitionären Sündenbock-Debatte". Notwendig sei vielmehr eine klare Ursachenanalyse der Kostensteigerung. Dazu gehöre etwa, dass sich bei der Anrechnung von Vermögen und Partnereinkommen "das Ministerium wohl gehörig verschätzt hat".

Auch DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer warnte davor, "Arbeitslose unter Generalverdacht zu stellen, um so weitere Leistungsverschlechterungen vorzubereiten". Dass Missbrauch bekämpft werden müsse, sei selbstverständlich. Die BA verfüge dazu über genügend Mittel und könne etwa Sperrzeiten verhängen. "Wenn es einen begründeten Verdacht gibt, sind die BA-Mitarbeiter gehalten, dem nachzugehen", sagte sie.

"Ungeheuerliche Behauptung"

Das Erwerbslosen Forum Deutschland hatte bereits vergangene Woche mit Empörung auf die Missbrauchsvorwürfe reagiert. Man erwarte eindeutige Beweise für Clevers "ungeheuerliche Behauptungen". Mit den Beschuldigungen suche die Bundesagentur nur Sündenböcke für ihre hausgemachten Probleme, nachdem zuvor schon das Bundeswirtschaftsministerium Arbeitslose pauschal stigmatisiert und als Parasiten bezeichnet habe.

"Das sind schon wirklich abenteuerliche Konstruktionen, welche die Bundesagentur aus ihrer eher zweifelhaften Telefonaktion zieht. Sie muss sich fragen lassen, wie sie es denn mit seriöser Datenerhebung hält", sagte Pressesprecher Martin Behrsing in Bonn. Es müsse auch aber niemand von den Anrufaktionen der von der Bundesagentur beauftragten Callcenter belästigen lassen. Selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte habe diese Aktion als sehr bedenklich bezeichnet.

Unangekündigte Hausbesuche seien nicht erlaubt, weil die Wohnung durch das Grundgesetz geschützt sei. "Wir stellen immer wieder fest, dass die Sozialgerichte den angeblichen Leistungsmissbrauch sofort kippen, wenn auf die eher zweifelhaften Erkenntnisse der Sozialdetektive zurückgegriffen wird", kritisierte Behrsing.
 


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