SPIEGEL ONLINE - 19. Oktober 2005, 14:48
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Missbrauchsvorwürfe
 
Erwerbslosen Forum spricht von Hetze gegen Hartz-IV-Empfänger

Die Debatte über Missbrauch beim Bezug von Arbeitslosengeld II spitzt sich zu. Die Bundesagentur für Arbeit hatte erklärt, mehr als zehn Prozent der Leistungsempfänger seien Betrüger. Das Erwerbslosen Forum Deutschland warf der BA daraufhin eine Diskriminierung der Hartz-IV-Empfänger vor.

Frankfurt am Main - Der stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende der BA, Peter Clever, geht nach eigenen Angaben von einer Missbrauchsquote "von sicherlich über zehn Prozent" aus. Der Arbeitgebervertreter im Aufsichtsgremium der Bundesagentur sagte der "Passauer Neuen Presse", er halte die genannte Missbrauchsquote für den "unteren Rand seriöser Schätzung".

Clever bezog sich auf das "niederschmetternde Ergebnis" einer Telefonaktion bei 390.000 Arbeitslosengeld-II-Empfängern. 170.000 seien kein einziges Mal erreichbar gewesen, obwohl jeweils zehn Anrufe an unterschiedlichen Tagen und zu unterschiedlichen Zeiten gemacht worden seien. 43.000 Befragte, die erreicht wurden, hätten die Teilnahme an der freiwilligen Befragung abgelehnt. Und bei sieben Prozent der Verbliebenen habe sich herausgestellt, dass sie gar nicht arbeitslos seien.

Diese seien zum Teil in "betrügerischer Absicht" gemeldet gewesen, zum Teil hätten sie vergessen, eine Änderung wie etwa den Erhalt einer Lehrstelle zu melden. "Aber bei zirka 32.000 Personen spricht man von einer Grauzone", fügte Clever hinzu. Hier müsse noch weiter geforscht werden, erst recht bei den 170.000, die gar nicht erreicht worden seien.

"Ungeheuerliche Behauptung"

Das Erwerbslosen Forum Deutschland reagierte empört auf die Aussagen Clevers und erklärte, es erwarte sofort eindeutige Beweise für seine "ungeheuerlichen Behauptungen". Mit den Beschuldigungen suche die Bundesagentur nur Sündenböcke für ihre hausgemachten Probleme, nachdem zuvor schon das Bundeswirtschaftsministerium Arbeitslose pauschal stigmatisiert und als Parasiten bezeichnet habe.

"Das sind schon wirklich abenteuerliche Konstruktionen, welche die Bundesagentur aus ihrer eher zweifelhaften Telefonaktion zieht. Sie muss sich fragen lassen, wie sie es denn mit seriöser Datenerhebung hält", sagte Pressesprecher Martin Behrsing in Bonn. Es müsse sich auch aber niemand von den Anrufaktionen der von der Bundesagentur beauftragten Callcenter belästigen lassen. Selbst der Bundesdatenschutzbeauftragte habe diese Aktion als sehr bedenklich bezeichnet.

Unangekündigte Hausbesuche seien nicht erlaubt, weil die Wohnung durch das Grundgesetz geschützt sei. "Wir stellen immer wieder fest, dass die Sozialgerichte den angeblichen Leistungsmissbrauch sofort kippen, wenn auf die eher zweifelhaften Erkenntnisse der Sozialdetektive zurückgegriffen wird", kritisierte Behrsing.

Landkreise wollen Geld zurück

Auch der Streit um die Unterkunftskosten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger geht weiter. Statt diese Zuschüsse des Bundes für die Kommunen zu streichen, müsse der Bundesanteil im Gegenteil noch 29,1 auf 35 Prozent erhöht werden, forderte der Deutsche Landkreistag. "Nur so wäre sichergestellt, dass die Kommunen durch Hartz IV wie geplant um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden", sagte der Sprecher des Landkreistages, Markus Mempel, der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post".

Dies ergebe sich aus einer Erhebung der kommunalen Spitzenverbände. Die so genannten Revisionsgespräche zwischen Bundesregierung und den Spitzenverbänden darüber sollen dem Bericht zufolge am 27. Oktober beginnen.
 


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SPIEGEL ONLINE - 22. Oktober 2005, 12:29
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Hartz IV
 
Merkel und Müntefering wollen Missbrauch erschweren

Die Arbeitsmarktreform Hartz IV hat wenig erreicht - und steht jetzt wohl vor einer Revision. Doch zuerst wollen die Spitzen von Union und SPD verstärkt gegen den Missbrauch beim Arbeitslosengeld II vorgehen.

Hamburg/Berlin - "Es wird nicht reichen, nur den Missbrauch in den Mittelpunkt zu stellen", sagte die designierte Bundeskanzlerin Angela Merkel der "Bild am Sonntag". "Wir müssen uns vielmehr mit den prinzipiellen Konstruktionsschwächen beschäftigen, die den Missbrauch ermöglichen." Die CDU-Chefin sagte weiter: "Gespart wird, wenn wir die Entscheidungen möglichst nah an die Menschen bringen. Und da setze ich auf die kommunale Ebene." Merkel verwies darauf, dass heute zehn Milliarden Euro mehr für die gleichen Probleme ausgegeben würden wie im vorigen Jahr.

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) sprach sich dafür aus, die Hartz-IV-Reformen noch einmal zu überarbeiten. "Dass die Zahl der Bedarfsgemeinschaften in einem Jahr um mindestens 40 Prozent zugenommen hat, ist einem falschen Gesetz geschuldet und nicht der sozialen Situation in Deutschland", sagte er dem SPIEGEL. Es herrsche mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass Hartz IV das Gegenteil von dem erreicht habe, was geplant gewesen sei.

Clement: Das nenne ich parasitäres Verhalten

Der scheidende Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement sagte, er gehe davon aus, dass der künftige Arbeitsminister Franz Müntefering (beide SPD) den konsequenten Kurs gegen Hartz-IV-Missbrauch fortsetze. Dazu übergebe er ihm ein Maßnahmenpaket mit Vorschlägen zur Unterbindung von Fehlentwicklungen, sagte Clement der Chemnitzer "Freien Presse". Der SPD-Politiker hatte Anfang Oktober ein schärferes Vorgehen gegen Hartz-IV-Betrüger angekündigt. Das Maßnahmenpaket sieht Presseberichten zufolge unter anderem verstärkte Hausbesuche, Datenabgleiche mit den Finanzämtern und Kontrollen der Arbeitsbereitschaft durch Trainingsprogramme mit Anwesenheitspflicht vor.

Clement sagte, er könne nicht zulassen, dass Menschen auf Kosten anderer lebten und Unterstützung von der Allgemeinheit erhielten, wenn sie nicht dazu berechtigt seien. "Das nenne ich parasitäres Verhalten", unterstrich er. Es gebe ernst zu nehmende Erhebungen, nach denen mindestens zehn Prozent der Langzeitarbeitslosen nicht berechtigt seien, Arbeitslosengeld II zu erhalten. Hinzu kämen noch rund 20 Prozent, die sich weigerten, über ihre Lebensverhältnisse Auskunft zu geben, sagte Clement weiter. Außerdem gebe es "sehr viele" ALG-II-Empfänger, die sich trotz hartnäckiger Bemühungen telefonisch nicht erreichen ließen.

Müntefering sagte dem SPIEGEL, für die Arbeitsmarktreform "Hartz IV" werde deutlich mehr Geld ausgegeben als vorgesehen. Die Ausgaben lägen fast doppelt so hoch wie veranschlagt. Konsequenzen seien unausweichlich. Die Höhe der Leistungen stehe nicht zur Debatte, aber "dass Leute rumtricksen, kann man nicht akzeptieren", sagte Müntefering. "Wir können nicht einfach zuschauen, dass über das Notwendige hinaus, unter Dehnung des Gesetzes, Geld einkassiert wird", betonte er.

Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) plädierte für einen grundlegenden Wandel in der Sozialpolitik. Sozialleistungen sollten mehr nach Bedürftigkeit unterschieden werden, sagte Wulff dem Magazin "Focus". Wer Ansprüche an den Staat stelle müsse auch zur Gegenleistung bereit sein.

Der SPD-Sozialpolitiker Ottmar Schreiner fordert eine "Generalrevision" der "Hartz-IV"-Arbeitsmarktreform. Die Gesetzgebung sei "im Ergebnis völlig verunglückt", sagte der Parteilinke dem Gewerkschaftsmagazin "Transnet-Themen". Schreiner verlangte darin, alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und sich anschließend nur auf die effektivsten zu konzentrieren. Die dadurch eingesparten Mittel sollten für berufliche Qualifizierung eingesetzt werden.

Nach Ansicht des Bundestagsabgeordneten können mehr als die Hälfte der derzeit 80 arbeitsmarktpolitischen Instrumente ersatzlos gestrichen werden. Mit dem Geld könne man die Weiterbildung wieder stärken, die vor allem gering Qualifizierten zugute käme. Diese Gruppe hätte immer noch die schlechtesten Berufschancen, sagte er.

Ausdrücklich lehnte Schreiner eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Senkung der Lohnnebenkosten ab. Die Reduzierung um zwei Beitragspunkte werde zu keinem einzigen zusätzlichen Beschäftigungsverhältnis führen, betonte er. Das Geld sei besser in der beruflichen Bildung und Weiterbildung aufgehoben.
 


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