SPIEGEL ONLINE - 20. Oktober 2005, 15:10
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Herbstgutachten
Top-Institute fordern Schrumpflöhne
In ihrem Herbstgutachten schlagen die führenden Wirtschaftsinstitute Moll-Töne an: Einen echten Aufschwung sehen sie 2006 ebenso wenig wie eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt. Darum sollten aus ihrer Sicht die Löhne langsamer steigen als die Preise.
Berlin - Die Tariflöhne sollten nur um etwa ein Prozent steigen, "und
zwar auch dann, wenn die Konjunktur weiter anziehen und sich die
Arbeitsmarktlage etwas entspannen sollte", heißt es im gemeinsamen Herbstgutachten der Institute, das am Vormittag in Berlin vorgestellt wurde. Dies liefe auf reale Lohneinbußen hinaus - denn gleichzeitig prognostizieren die Volkswirte, dass die Verbraucherpreise 2006 im
Jahresschnitt um 2,0 Prozent steigen werden.
Nur durch eine "moderate Lohnpolitik" sei es möglich, die Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen
und mehr Arbeitsplätze zu schaffen, so das Gutachten weiter. Die Marktkräfte müssten bei der Bestimmung von Lohnhöhe und -struktur wieder mehr Spielraum erhalten, der notwendige
Strukturwandel dürfe nicht behindert werden. "Für den Erfolg einer
moderaten Lohnpolitik ist es entscheidend, dass die Unternehmen
darauf vertrauen können, dass diese auch in Zeiten eines
Aufschwungs weitergeführt wird."
Wichtig sei außerdem, "dass die
Gewerkschaften glaubwürdig signalisieren, nicht bei der ersten
Gelegenheit vermeintliche Verteilungsverluste durch hohe
Lohnabschlüsse wieder ausgleichen zu wollen", schrieben die
Wirtschaftsforscher, und: "Generell sollte sich die Lohn- und Arbeitsmarktpolitik
weniger als bisher an der Sicherung bestehender, sondern
vielmehr an der Schaffung neuer Arbeitsplätze orientieren."
Das GutachtenDie sechs führenden
Wirtschaftsforschungsinstitute legen jeweils im Frühjahr und im
Herbst ein Gutachten zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland vor.
Die Expertisen zählen neben dem Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen
zu den wichtigsten Einschätzungen zur Entwicklung der deutschen
Wirtschaft und beeinflussen wesentlich die offiziellen Erwartungen
der Bundesregierung.
Ifw Das größte der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in
Deutschland ist mit rund 270 Mitarbeitern ist das Institut für
Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Es befasst sich unter anderem mit den
wirtschaftlichen Aspekten der internationalen Arbeitsteilung, der
europäischen Integration und der geplanten EU-Osterweiterung.DIW Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin
sind rund 200 Mitarbeiter beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehört die
Untersuchung der kurz- und langfristigen Konjunkturentwicklung. Ein
Schwerpunkt ist der Wandel der Wirtschaft im vereinigten Deutschland
und in Osteuropa.ifo Wissenschaftliche Politikberatung zählt das Münchner Ifo-Institut
mit seinen 165 Mitarbeitern zu seinen Hauptaufgaben. Als Grundlage
dient die Forschung in den Feldern Sozialpolitik, Arbeitsmärkte,
Konjunktur, Strukturwandel und Branchen sowie Umwelt, Regionen und
Verkehr.HWWA Das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) hat rund 150
Mitarbeiter. Es befasst sich mit der weltwirtschaftlichen
Entwicklung, deren Auswirkung auf Deutschland sowie mit der
europäischen Integration.RWI Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI)
in Essen beschäftigt rund 70 Mitarbeiter. Schwerpunkte sind die
Energie- und Stahlbranche sowie die Entwicklung in Handwerk und
Einzelhandel.IWH Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) mit rund 60
Mitarbeitern befasst sich insbesondere mit dem Wandel in
Ostdeutschland sowie in Mittel- und Osteuropa.
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Im Bereich Lohnpolitik plädierten die Volkswirte für eine stärkere Lohndifferenzierung
nach Branchen, Regionen und Berufsqualifikationen. "Dem muss die
Tarifpolitik, beispielsweise durch geeignete Tariföffnungsklauseln, stärker als bisher Rechnung tragen." Bündnisse für Arbeit auf Betriebsebene müssten rechtlich
abgesichert werden.
Clement: Wir haben es richtig gemacht
Ihre Wachstumsprognose für 2006 haben die Institute spürbar gesenkt. Nach einem
Anstieg um 0,8 Prozent in diesem Jahr werde das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) 2006 voraussichtlich nur um 1,2 Prozent zunehmen. Im Frühjahr waren die Experten noch von einem Zuwachs um 1,5 Prozent ausgegangen. Eine durchgreifende Wirkung des Wachstums auf den Arbeitsmarkt erwarten sie auch 2006 nicht.
Noch-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) sah durch das vorgelegte
Herbstgutachten den Reformkurs der Bundesregierung bestätigt. Die
Wirtschaft mahnte die künftige Bundesregierung, rasch eine
Unternehmensteuerreform umzusetzen. "Wir benötigen jetzt eine
wirtschaftspolitische Kursänderung", forderte Arbeitgeberpräsident
Dieter Hundt. Die FDP sprach von einer mageren Bilanz der
rot-grünen Bundesregierung, die durch das Herbstgutachten bestätigt
werde.
Weitere Aussagen des Gutachtens: Aus Sicht der Institute hängt die Konjunktur nach wie vor überwiegend von
außenwirtschaftlichen Einflüssen ab. Deshalb könnten "schon kleine Störungen von außen die
deutsche Wirtschaft in die Nähe der Stagnation zurückwerfen". Zu den
Gefahren zählten ein weiterer Anstieg der Energiepreise, der bereits
in diesem Jahr nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Stimmung
der Konsumenten belastet habe.
Arbeitsmarkt-Prognose: 4,76 Millionen ohne Job
Die Zahl der Arbeitslosen wird nach Einschätzung der
Wirtschaftswissenschaftler von durchschnittlich 4,88 Millionen in
diesem Jahr auf 4,76 Millionen sinken. Grund seien vor allem mehr
"Ein-Euro-Jobs" für Empfänger von Arbeitslosengeld II. Gleichzeitig
rechnen die Experten damit, dass in der zweiten Hälfte des Jahres
2006 die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erstmals
seit Ende 2000 wieder geringfügig steigen wird.
Der Export dürfte weiterhin von einer kräftigen Weltkonjunktur
profitieren. Allerdings warnen die Forscher vor einer "ruhigeren
Gangart" im Welthandel, so dass die deutschen Ausfuhren
voraussichtlich etwas an Schwung verlieren würden. Konkret erwarten die
Forscher einen Exportanstieg im kommenden Jahr um 6,5 Prozent
nach plus 5,9 Prozent in diesem Jahr. Da auch die realen Importe
zulegen, steigt der Exportüberschuss nur leicht.
"Konsumschwäche nicht überwunden"
Wachstumsimpulse erwarten die Experten im kommenden Jahr auch von
einer leicht verbesserten Binnenachfrage. "Nicht zuletzt dürften die
Ausrüstungsinvestitionen rascher zunehmen, da die Absatzerwartungen
auf den Auslandsmärkten und die Finanzierungsbedingungen weiterhin
günstig sind und die Ertragslage sich bei vielen Firmen verbessert",
heißt es im Herbstgutachten. Bei den Ausrüstungsinvestitionen wird
2006 ein Plus von 4,5 Prozent nach 4,1 Prozent in diesem Jahr
vorhergesagt.
Sorgenkind bleibt dagegen der private Konsum. "Die seit 2002
anhaltende Konsumschwäche ist noch nicht überwunden", so die
Konjunkturforscher. Eine nachhaltige Belebung sei auch 2006 wegen des
schwachen Arbeitsmarktes und der gedämpftem Einkommensperspektiven
nicht zu erwarten. Belastend wirkten zudem die geringere Kaufkraft
durch hohe Energiekosten und zusätzliche Beiträge zur gesetzlichen
Krankenversicherung. Der reale Konsum werde deshalb 2006 um 0,2
Prozent zurückgehen und in diesem Jahr um 0,5 Prozent sinken.
Zinserhöhungen angeregt
Nach Einschätzung der Volkswirte wird Deutschland 2006
das fünfte Mal in Folge die Defizitgrenze des europäischen Wachstums-
und Stabilitätspaktes überschreiten. Das Haushaltsdefizit werde 2006
zwar auf 70 Milliarden Euro sinken, aber mit 3,1 Prozent des
BIP erneut über der vom Maastrichter Vertrag
festgelegten Obergrenze von 3,0 Prozent liegen, so das Gutachten. Für das laufenden Jahr erwarten die Institute einen Rückgang des
Haushaltsdefizits von 81 Milliarden Euro auf 78 Milliarden Euro.
Damit werde das deutsche Haushaltsdefizit von 3,7 Prozent auf 3,5
Prozent sinken. Beim Steueraufkommen erwarten die Forscher für 2005
einen Zuwachs von 0,5 Prozent.
Für den Anstieg der Steuereinnahmen seien vor allem die Zuwächse
bei den Körperschaft- und Gewerbesteuern aufgrund höherer Gewinne
der Unternehmen verantwortlich. Dagegen habe sich die Umsatzsteuer
"schwach entwickelt". Einbußen habe es auch bei der Mineralölsteuer
gegeben, weil die Verbraucher vor dem Hintergrund der hohen
Energiepreise in diesem Jahr weniger Energie verbraucht haben.
Insgesamt dürften die Staatseinnahmen im laufenden Jahr um 0,6
Prozent steigen, wobei sich auch die Einführung der Lkw-Maut
einahmesteigernd ausgewirkt habe.
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