DER SPIEGEL 44/2005 - 31. Oktober 2005
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Deutschland
 
Bizarres Privileg

Von Alexander Neubacher

Alle sollen sparen - aber deutsche Top-Manager sind sogar von den Rentenbeiträgen befreit.

Als Leonhard Fischer, 42, als neuer Chef der Schweizer Winterthur-Versicherung zum ersten Mal auf seinen Gehaltszettel sah, entdeckte er dort einen Abzug, den er sich nicht erklären konnte: 8,4 Prozent seiner Bezüge waren an die staatliche schweizerische Rentenversicherung abgeführt worden. Einfach so. Bei Fischers Salär ein durchaus erklecklicher Betrag.

Der junge Banker war erst seit kurzem in der Schweiz. Bis zu seinem Jobwechsel hatte der gebürtige Emsländer jahrelang als Investmentexperte im Vorstand der Dresdner Bank gesessen. Die monatliche Zahlung von Beiträgen an die Rentenkasse kannte Fischer deshalb gar nicht mehr.

Wie alle seine ehemaligen Vorstandskollegen hatte der Banker von einer Spezialregel profitiert, die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft in Deutschland von jeder Beitragspflicht freistellt. Das bizarre Privileg findet sich in Paragraf 1 des Sechsten Sozialgesetzbuches. Und es zählt mit Sicherheit zu den größten Absonderlichkeiten des deutschen Sozialsystems, um dessen Zukunft die Unterhändler in den Koalitionsgesprächen derzeit ringen. Während Union und SPD-Politiker wie Sozialministerin Ulla Schmidt darüber nachdenken, die Riester-Rente zur Pflicht zu erklären oder die Rente erst ab 67 auszuzahlen, ist es ausgerechnet den Arbeitnehmern mit den höchsten Einkommen gestattet, sich aus der Solidargemeinschaft weitgehend zu verabschieden.

Die Begründung für die Ausnahmeregel ist so eigenartig wie das mehr als 35 Jahre alte Privileg selbst. Weil Vorstände von Großkonzernen aller Erfahrung nach nicht von Altersarmut bedroht seien und damit auch keine Gefahr bestehe, dass sie später der staatlichen Fürsorge anheim fallen, bedürfe es keiner Versicherungspflicht, entschied das Bundessozialgericht.

Der von abhängig Beschäftigten und deren Arbeitgebern normalerweise abverlangte Zwangsbeitrag von bis zu 1000 Euro im Monat könne ihnen mithin erspart bleiben.

Jahrzehntelang wurde die Vorzugsbehandlung stillschweigend genutzt. Dabei hätte die Ausnahme bisweilen auffallen können, etwa im vergangenen Jahr: Damals geriet die Commerzbank unter ihrem Chef Klaus-Peter Müller in die Schlagzeilen, weil sie den Mitarbeitern die Betriebsrenten kündigte, die Pension des Spitzen-Managements aber schonte. Damals wurde noch lamentiert, die Top-Kräfte seien schließlich durch den Staat nicht abgesichert.

Nun gibt es auch außerhalb der Aktiengesellschaften viele gutverdienende Angestellte, die ebenfalls gern in Eigenregie für ihr Alter vorsorgen würden. Selbst bei konservativer Geldanlage dürfte eine monatliche Sparrate von 1000 Euro eine höhere Rendite abwerfen als die marode staatliche Rentenversicherung.

Ein Grund dafür ist das Solidarprinzip, das hohe Rentenbeiträge zumindest teilweise auf kleinere Renten umverteilt. Der andere Grund ist die demografische Entwicklung. Weil seit Jahrzehnten die Geburtenrate sinkt, müssen in der Rentenversicherung immer weniger Arbeitnehmer für immer mehr Rentner aufkommen.

Erst kürzlich hatte der Bonner Wissenschaftler Meinhard Miegel im Auftrag des Deutschen Instituts für Altersvorsorge ausgerechnet, welch schlechtes Geschäft die Rente eigentlich ist. Ein 1940 geborener Mann kann demnach mit einer Verzinsung von 1,4 Prozent rechnen.

Die Männer des Jahrgangs 1990 würden bei plus/minus null landen. Für alle Jüngeren sieht es nach Miegels Berechnung ganz finster aus. Sie werden auf jeden Fall weniger ausbezahlt bekommen, als sie eingezahlt haben. Miegel spricht von einer "Negativrendite".

Doch wer es nicht bis in den Vorstand einer Aktiengesellschaft schafft, hat kaum eine Chance, der Versicherungspflicht zu entrinnen. Leitende Angestellte einer GmbH oder des Öffentlichen Dienstes müssen zähneknirschend Zwangsbeiträge abführen.

Ein letztes Schlupfloch hat die rotgrüne Bundesregierung vor zwei Jahren geschlossen. Findige Vermögensberater hatten bis dahin auf die Möglichkeit hingewiesen, sich dem Zugriff der Rentenanstalt durch Gründung einer Schein-AG zu entziehen. Das Privileg der Vorstände von Aktiengesellschaften hat die Politik bei der Gelegenheit indes nicht angetastet - ein echter Standortvorteil. Weltläufige Top-Manager wissen nur zu gut, dass sie anderswo nicht so gut davonkämen.

Trotz üppiger Beiträge kann der Winterthur-Manager Fischer in seiner neuen Heimat Schweiz später nur mit bescheidener Unterstützung rechnen. Die staatliche Höchstrente liegt dort bei monatlich 1390 Euro.
 


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