SPIEGEL ONLINE - 20. Oktober 2005, 17:20
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,380805,00.html

Koalitionsverhandlungen
 
SPD lehnt allgemeine Wehrpflicht ab

Der designierte Verteidigungsminister Jung muss heftige Kritik einstecken: Die SPD nannte seinen Vorstoß, die Dienstpflicht auf alle jungen Männer und Frauen auszudehnen, "völlig daneben". Auch Grüne und FDP lehnen die Idee strikt ab.

Berlin - Die SPD lehnte heute den Vorstoß des künftigen Verteidigungsministers Franz Josef Jung (CDU) für eine allgemeine Dienstpflicht energisch ab. "Völlig daneben", sagte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold. Internationale Konventionen verböten Zwangsdienste jenseits der Wehrpflicht.

Jung hatte sich dafür ausgesprochen, die Wehrpflicht möglicherweise zu einer allgemeinen Dienstpflicht für alle jungen Menschen auszudehnen. Er sei ein Befürworter der Wehrpflichtarmee, sagte Jung der "Frankfurter Rundschau". Aus Gründen der Wehrgerechtigkeit müsse die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht "erörtert werden". Eine allgemeine Dienstpflicht würde bedeuten, dass Frauen und Männer einen Dienst ableisten müssten, entweder bei der Bundeswehr oder in sozialen Pflichtdiensten.

Auch Grüne und FDP kritisierten Jungs Überlegungen. "Jetzt über eine allgemeine Dienstpflicht für Männer und Frauen zu philosophieren ist abwegig", erklärte Grünen-Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke in Berlin. Ein solcher "Zwangsdienst" widerspreche dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Wehrpflicht sei schon ein "Auslaufmodell". Nur noch ein Bruchteil der jungen Männer, die als wehrpflichtig gelten, würde zum Dienst eingezogen. Die Wehrgerechtigkeit sei nicht mehr gegeben. Für eine allgemeine Wehrpflicht fehle daher jegliche Legitimation.

Union will an Wehrpflicht festhalten

Für die FDP erklärte deren Zivildienstexpertin in der Fraktion, Ina Lenke, die Forderung von Jung sei absurd. Ein solcher Zwangsdienst greife massiv in die persönliche Freiheit des Einzelnen ein. Das Bundesverfassungsgericht habe eindeutig festgelegt, dass ein sozialer Pflichtdienst nicht zulässig sei. Die Folge wäre auch die Entlassung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitskräften.

Jung sagte der "Financial Times Deutschland", die Union werde an der Wehrpflicht festhalten. "Wenn sich etwas bewährt hat, dann soll man es nicht abgeben", sagte Jung. Ob die allgemeine Wehrpflicht heute Thema der ersten Gesprächsrunde der gemeinsamen Arbeitsgruppe Verteidigungspolitik von Union und SPD war, blieb unklar. Das Treffen in Berlin dauerte vier Stunden. "Wir kommen sehr gut voran", sagte Arnold. Es habe sich schnell gezeigt, dass in hohem Maße die Kontinuität vor allem beim Transformationsprozess der Bundeswehr gewahrt bleiben werde. Über konkrete Inhalte vereinbarten beiden Seiten Stillschweigen.

Gleiches galt für die Arbeitsgruppe Außenpolitik. An deren Treffen im Kanzleramt nahmen von der Union sieben und von der SPD sechs Vertreter teil. Dem Vernehmen nach wurden Themen wie etwa das transatlantische Verhältnis, die Uno-Reform und die Beziehungen zu Russland angerissen.

Atompolitik: Grüne warnen vor Ausstieg vom Ausstieg

Die Grünen und mehrere Umweltverbände wandten sich gegen angebliche Überlegungen in den Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und SPD zu längeren Laufzeiten für ältere Atomkraftwerke. "Wenn die SPD und ihr designierter Umweltminister Sigmar Gabriel sich auf diesen Vorschlag einlassen, wäre das ein umweltpolitischer Fehlstart erster Güte und der Beginn eines schleichenden Ausstiegs aus dem Atomausstieg", erklärte der Grünen-Umweltexperte Reinhard Loske.

Die "Financial Times Deutschland" hatte berichtet, dass der von der rot-grünen Bundesregierung mit der Industrie ausgehandelte Atomausstieg de facto bis zum Ende der Legislaturperiode 2009 ausgesetzt werden solle. Das Gesetz über den Atomausstieg solle dabei formal unangetastet bleiben, es solle aber eine Klausel genutzt werden, die eine Übertragung von Reststrommengen von einem AKW auf ein anderes erlaubt, hieß es.

Eigentlich sollte dies die Möglichkeit eröffnen, ältere Anlagen früher stillzulegen und neuere dafür länger laufen zu lassen. Bei dem von der Zeitung beschriebenen Verfahren wäre es allerdings genau umgekehrt. Das Ergebnis wäre, dass bis 2009 kein deutsches Atomkraftwerk abgeschaltet werden müsste.

SPD-Fraktionsvize Michael Müller nannte den Bericht "Blödsinn". Es gebe keinerlei Überlegungen, sich auf Forderungen der Union nach verlängerten Laufzeiten einzulassen.

Zündstoff in der Arbeitsmarktpolitik

Die Fachgruppe von Union und SPD, die sich mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt, wird zunächst die jüngsten Konflikte um das Arbeitslosengeld II (ALG II) lösen müssen. Umstritten ist etwa das Vorhaben der alten Bundesregierung, das ALG II in Ostdeutschland auf Westniveau anzuheben. Während die SPD an dieser Forderung festhält, hatte die Union im Wahlkampf eine Angleichung abgelehnt. Mittlerweile sprechen sich aber auch ostdeutsche CDU-Politiker dafür aus, statt 331 Euro in den neuen Länder den Westtarif von 345 Euro zu zahlen.

Für Konfliktstoff könnten auch die älteren Arbeitslosen sorgen. Bislang erhalten sie bis zu 32 Monate lang das Arbeitslosengeld I, ehe sie auf das wesentlich niedrigere ALG II zurückgestuft werden. Von Februar 2006 an bekommen sie das ALG I nur noch für 18 Monate - eine Verschärfung, die Rot-Grün eigentlich auf 2008 verschieben wollte, im Vermittlungsausschuss aber an der Union scheiterte. CDU und CSU wollen die Bezugsdauer stärker als bisher daran ausrichten, wie lange jemand in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat.

Im Kampf gegen Lohndumping will die SPD das Arbeitnehmerentsendegesetz, das bislang nur am Bau gilt, auf andere Branchen ausweiten. Die Union befürchtet hier jedoch einen "Mindestlohn durch die Hintertür". Dafür dürften CDU und CSU bei den Sozialdemokraten auf Widerstand stoßen, wenn sie - wie im Wahlprogramm angekündigt - den Kündigungsschutz lockern wollen. Auch die Unionsforderung, betriebliche Vereinbarungen über Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen ohne Zustimmung der Gewerkschaften zu ermöglichen, scheint in einer großen Koalition nur schwer durchsetzbar. Umstritten ist auch die Förderung der "Ich-AG".

Hauptaufgabe eines Arbeitsministers Franz Müntefering (SPD) ist in jedem Fall die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Auch für die designierte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist dies der Gradmesser für ein Bündnis mit der SPD. Die Union baut auf eine Belebung der Konjunktur und niedrigere Sozialabgaben. Zudem will Merkel in den Koalitionsgesprächen über Kombi-Löhne verhandeln, die im Niedriglohnsektor mit Lohnzuschüssen für mehr Beschäftigung sorgen sollen.
 


© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH