SPIEGEL ONLINE - 10. Oktober 2005, 11:13
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Essay
 
Zurück zur Bonner Republik

Große Koalitionen haben einen schlechten Ruf. Dabei sind sie die institutionalisierte Absage an das alte Lagerdenken der Republik. Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter sieht darin Chancen - wenn SPD und Union mehr Bezugspunkte finden als den Zwang zum Regieren.

Göttingen - Unter meinen politikwissenschaftlichen Kollegen der 68er Generation ist die große Koalition nicht wohlgelitten. Sie argwöhnen, dass hinter dem Wunsch nach einer Allianz der beiden Großparteien zählebige Reste nichtgebrochener wilhelminischer Obrigkeitskultur stecken. Auch im linksliberalen Journalismus findet man dergleichen Interpretationen. Dabei ist die Große Koalition keineswegs Bestandteil der politischen Kultur vom Kaiserreich bis zum Ende der alten Bundesrepublik. Die Große Koalition war historisch durchweg die Rarität, die von links bis rechts stets bekämpfte Ausnahme. Die politische Kultur der Deutschen ist nicht durch die Allianz, nicht durch die Kooperation, nicht durch die Konkordanz zwischen den Weltanschauungen gekennzeichnet.

Das fatale Charakteristikum der politischen Kultur in der deutschen Moderne ist vielmehr die Konfrontation, das Lagerdenken, die ideologische Verabsolutierung der eigenen Klasse und Grundüberzeugungen. In Deutschland waren die Parteien ganz im Unterschied zu anderen europäischen Ländern dezidierte Programm- und Weltanschauungsparteien, denen jeder Sprung über das eigene Milieu hinweg denkbar schwer fiel. Deutschland gehört zu den wenigen Ländern Mitteleuropas, in denen es nie einen langen Zeitraum römisch-roter Koalitionen, wie man die Zusammenarbeit von Christdemokraten und Sozialdemokraten in den fünfziger Jahren zu nennen pflegte, gab.

Eine Wahlschlacht nach der anderen

Daher fällt die Annäherung zwischen Union und Sozialdemokraten in diesen Tagen so mühselig aus. Die deutsche Politik ist durchformt von einem ungemein harten und - wegen der ungewöhnlichen Vielzahl von Regionalwahlen - nahezu chronischen Parteienwettbewerb in Wahlkämpfen. In kaum einem anderen Land dieser Welt werden die Parteien in derart viele Wahlschlachten hineingedrängt.

Die Permanenz dieser Wahlauseinandersetzungen hat die schon im 19. Jahrhundert entstandene Mentalität des antagonistischen Gegnerhasses konserviert. Der Abend des 18. September 2005 hat dafür ein schönes, besser: deprimierendes Beispiel geboten. Man sah die Anhängerschaften von Parteien, die im Grunde gerade bitter verloren hatten, in frenetischen Jubel ausbrechen und sich enthusiastisch in den Armen liegen: einzig und allein, weil der Gegner ebenfalls verloren hatte. Das ist übrig geblieben von den ideologischen Kämpfen der Vergangenheit: die Häme, die Schadenfreude, die Herabsetzung des Gegners. Demgegenüber ist die Sicherheit der eigenen, positiv formulierten politischen Ziele längst zerronnen und perdu.

Doch die Kultur der politischen Feindschaft im permanenten Parteienwettbewerb beißt sich mit der anderen harten Realität deutscher Politik, dem allgegenwärtigen Zwang zur Zusammenarbeit. Die deutsche Republik ist institutionell verflochtener als nahezu jede andere Regierung unter den Demokratien Europas. Insofern sind die großen gesellschaftlichen Kräfte, ob sie es nun wollen oder nicht, zur Zusammenarbeit verdammt. Politik gelingt in Deutschland nur durch Konzertierung, Koordinierung, Kooperation. Die Konfliktrhetorik, gar eine reale, entschlossene Konfrontationsstrategie erzeugen lediglich Obstruktion und Paralyse. Die klare Entscheidung, das konzise Durchregieren, die Politik aus einem Guss ist in diesem System gänzlich unmöglich.

Stolz auf die Bonner Republik

Eben darin liegt die unzweifelhafte Berechtigung der Bildung einer Großen Koalition. Sie exekutiert auch formell, was sonst lediglich verdeckt und unter tausend taktischen Umwegen informell vonstatten geht. Und doch wird es nicht einfach sein für dieses Bündnis mit dem merkwürdigen Wahlergebnis vom September. In der Regel sind für neue Regierungen die Anfangsmonate zwar schwierig, sind aber doch die vom Schwung und Output ergiebigste Zeit. Denn die neue Gouvernementalität hat ein eindeutiges Wählerplebiszit für eine explizite politische Agenda als Auftrag mitbekommen. Aus dieser Legitimationsquelle schöpfen sie ihre Dynamik und veränderungsorientierten Eifer. Doch was ist der Auftrag für die Große Koalition des Jahres 2005? In welche Richtung wollten die Wähler die Politik der Volksparteien dirigieren? Unmissverständliches Einvernehmen herrscht darüber offensichtlich nicht.

Und die beiden kleiner gewordenen Großparteien haben nun mittlerweile drei Wochen verstreichen lassen, ohne sich Klarheit darüber zu verschaffen, was das politische Ziel ihrer Koalition sein kann. Doch eben das brauchen Allianzen, wenn sie Handlungsfähigkeit und Bestand herstellen wollen: Einen spezifischen Ethos, einen politischen Fluchtpunkt, eine verbindende Norm. Denn was hält Bündnisse zusammen? Entweder ein starker gemeinsamer ideologischer Gegner oder eben eine affine Wertehaltung, auch der Mythos einer kollektiv geteilten großen Vergangenheit, natürlich: eine ähnliche soziale Interessenstruktur.

Die neue Koalition hat kaum etwas von alledem. Der gemeinsame Stolz auf die ganz ungewöhnlichen Leistungen der alten Bonner Republik, des katholisch-sozialdemokratischen Sozialstaats hätte ein solcher Bezugspunkt sein können. Doch haben sich die Politikereliten beider Parteien bizarrerweise in den letzten Jahren unisono von dieser keineswegs schmählichen Vergangenheit gelöst, ja sie nachgerade verächtlich gemacht. Leicht wird es daher nicht, aber unumgänglich ist es doch, dass die Große Koalition nicht nur eine Gegenwartsallianz zweier sich misstrauisch beäugender Partner ist, sondern Ziele vereinbart, die weiter in die Zukunft reichen und so etwas wie ein Sinnzentrum besitzen. Pure Realpolitiker pflegen sich darüber lustig zu machen, aber eben über diesen Mangel an Begründungsfähigkeit scheitern sie deshalb in schöner Regelmäßigkeit.

Auf den Kanzler kommt es nicht an

So war es schließlich auch bei Gerhard Schröder. Doch kommt es auf den Kanzler gar nicht an. Alle Welt in Deutschland ist auf ihn fixiert, alle schauen gebannt auf den Kampf ums Kanzleramt. Dabei ist der deutsche Regierungschef in Wirklichkeit eine ziemlich machtlose Gestalt. Seine Omnipotenzgebärden sind kaum mehr als Theater, Inszenierung, Show. Im Vergleich zu den meisten anderen Regierungschefs dieser Welt kann ein deutscher Bundeskanzler kaum etwas autoritativ bewegen. Schon gar nicht kann er Politik verordnen, etwas von oben nach unten mit harter Hand hierarchisch durchsetzen. Zu einer staatlichen Beschäftigungspolitik, in der Geld-, Steuer-, Verbände-, Bildungspolitik konzertiert werden, fehlen einem deutschen Kanzler mittlerweile politisch alle zentralen Befugnisse, fehlen ihm die entscheidenden Machtinstrumente. Auch die vielzitierte Richtlinienkompetenz ist allein ein papierenes Vorrecht.

Hat ein Bundesminister im Streit mit dem Kanzler die Mehrheit der Fraktion hinter sich, dann muss der Kanzler die Waffen strecken. Die Richtlinienkompetenz nutzt ihm gar nichts.

Insofern ist die starre Fixierung auf die Kanzlerfrage auch in diesen Tagen nahezu grotesk. In einer Großen Koalition wird der Kanzler noch schwächer sein als zuvor. Oder anders: Hier wird Schwäche zur Stärke. Denn ein Kanzler in einer Koalition mit nahezu gleichstarken Parteien muss sich zurücknehmen, muss behutsam moderieren, darf nicht Partei für seine eigenen Truppen ergreifen, kann keine Politik aus eigener Berufung betreiben. Denn dann würde diese fragile Allianz zerbrechen.

Kurzum: Die Große Koalition wird noch die Techniken, Konfliktregularien und Zielmaßstäbe finden müssen, um Konsolidität und Erfolg haben zu können. Sie muss vor allem eine neue Kultur der Konkordanz hervorbringen. Das wird dann der späte Abschied von der politischen Kultur der militant gegnerschaftlichen Lager aus dem 19. Jahrhundert sein. Wir werden in den nächsten Tagen sehen, ob die politischen Eliten in dieser Republik dazu in der Lage sind.
 

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SPIEGEL ONLINE - 11. Oktober 2005, 09:08
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Kanzlerschaft
 
CSU und SPD bestreiten Merkels Richtlinienkompetenz

Das geht ja gut los für Angela Merkel. Gerade erst ist geklärt, dass sie Regierungschefin einer Großen Koalition werden soll, und schon machen ihr die potentiellen Bündnispartner die Richtlinienkompetenz streitig. Neben SPD-Chef Müntefering an vorderster Front: der CSU-Vorsitzende Stoiber.

Berlin - In Union und SPD gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in einer künftigen Großen Koalition. SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering sagte gestern im ZDF, die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs sei bei einer solchen Zusammenarbeit "nicht lebenswirklich". Wenn die Richtlinie angewandt werde, sei die Koalition am Ende. Die im dritten Sondierungsgespräch von Union und SPD getroffenen schriftlichen Vereinbarungen zeigten, dass es nur eine faire Zusammenarbeit geben könne.

Er unterstrich, die Grundsatzeinigung zwischen SPD und Union auf Bildung einer Großen Koalition bedeute noch nicht die endgültige Entscheidung. Diese sei Sache des Parteitages, der die Ergebnisse der bevorstehenden Koalitionsverhandlungen billigen müsse.

CDU-Generalsekretär Volker Kauder hatte zuvor Richtlinienkompetenz für die designierte Kanzlerin Merkel verlangt. Zwar würden Union und SPD in einer Koalitionsvereinbarung gemeinsame Ziele festlegen. Darüber hinaus werde es aber immer wieder neue Aufgaben und Herausforderungen geben, die sich heute noch nicht absehen ließen. "Und da hat die Kanzlerin Angela Merkel durchaus eine Führungsfunktion, die sie auch ausüben wird", stellte Kauder klar.

Die Richtlinienkompetenz einer möglichen Kanzlerin Merkel wird aber selbst in der Union in Frage gestellt. In einem Bündnis von zwei fast gleich großen Partnern gebe es kein "klassisches Direktions- und Weisungsrecht", sagte CSU-Chef Edmund Stoiber, der Wirtschaftsminister im neuen Kabinett werden soll, gestern in München. Wichtige Entscheidungen würden im Koalitionsausschuss von den Partei- und Fraktionsvorsitzenden getroffen. "Natürlich trägt die Kanzlerin eine besondere Verantwortung, aber man muss das als gemeinsame Aufgabe sehen."
 


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SPIEGEL ONLINE - 11. Oktober 2005, 13:35
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Richtlinienkompetenz
 
Parteien stellen Merkels Macht in Frage

Einen kurzen Moment konnte sich Angela Merkel als Siegerin, als designierte Kanzlerin fühlen. Doch schon zeigen ihr CSU und SPD ihre Grenzen auf: Die künftigen Koalitionäre stellen Merkels Richtlinienkompetenz in Frage.

Berlin - Nach der Vorentscheidung für eine Große Koalition ist zwischen den künftigen Koalitionären eine Debatte über die Machtverteilung in dem Bündnis entbrannt. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos erklärte gestern ebenso wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, Angela Merkel werde als Bundeskanzlerin nur eine stark eingeschränkte Richtlinienkompetenz haben. Zwar stehe diese der Regierungschefin verfassungsrechtlich zu, sagte Glos dem Fernsehsender N24. Aber es gebe einen Unterschied zwischen "Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit", so Glos. "Und deswegen müssen wichtige Entscheidungen vorher mit den Koalitionspartnern abgesprochen werden."

Zuvor hatte Stoiber gesagt, in einem Bündnis von zwei fast gleich großen Partnern gebe es kein "klassisches Direktions- und Weisungsrecht". Wichtige Entscheidungen würden im Koalitionsausschuss von den Partei- und Fraktionsvorsitzenden getroffen. "Natürlich trägt die Kanzlerin eine besondere Verantwortung, aber man muss das als gemeinsame Aufgabe sehen", sagte Stoiber, der dem neuen Kabinett als Wirtschaftsminister angehören soll.

Warnung vor einsamen Entscheidungen

Auch SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter warnte Merkel vor unabgesprochenen Entscheidungen als Kanzlerin in einer Großen Koalition. "Wenn man auf gleicher Augenhöhe verhandeln will und dann auf gleicher Augenhöhe gleichberechtigt regieren will, dann kann es nicht sein, dass eben einer einsame Entscheidungen trifft", sagte Benneter. "Und wer diese Gemeinsamkeit verlässt, weil er einsame Entscheidungen meint treffen zu müssen, der kündigt natürlich eine solche Koalition auf", machte Benneter deutlich.

Benneter unterstrich, die Grundsatzeinigung zwischen SPD und Union auf Bildung einer Großen Koalition bedeute noch nicht die endgültige Entscheidung. Diese sei Sache des Parteitages, der die Ergebnisse der bevorstehenden Koalitionsverhandlungen billigen müsse.

Ähnlich hatte sich zuvor SPD-Chef Franz Müntefering geäußert. Die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs sei in einem Bündnis von Union und SPD "nicht lebenswirklich". Wenn die Richtlinie angewandt werde, sei die Koalition am Ende, sagte Müntefering gestern.

Dagegen verlangte CDU-Generalsekretär Volker Kauder eine Richtlinienkompetenz für die designierte Kanzlerin Merkel. Zwar würden Union und SPD in einer Koalitionsvereinbarung gemeinsame Ziele festlegen. Darüber hinaus werde es aber immer wieder neue Aufgaben und Herausforderungen geben, die sich heute noch nicht absehen ließen. "Und da hat die Kanzlerin Angela Merkel durchaus eine Führungsfunktion, die sie auch ausüben wird", stellte Kauder klar.

"Kein Gnadenrecht"

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) zeigte sich erstaunt über die Äußerungen aus CSU und SPD. "Die Richtlinienkompetenz ist kein Gnadenrecht einer Partei oder eines Koalitionspartners, sondern in der Verfassung festgeschrieben", sagte Böhmer dem Rundfunksender RBB.

Zwar ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers im Grundgesetz verankert, doch in jeder Koalitionsregierung ist sie eingeschränkt - in einer Großen Koalition mit einer starken SPD gilt dies umso mehr. Gemäß Artikel 65 des Grundgesetzes gibt der Regierungschef den Kabinettsmitgliedern die Richtlinien verbindlich vor. Doch zugleich ist darin festgelegt, dass jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbstständig und eigenverantwortlich leitet - wenn auch innerhalb der Richtlinien. Weiter heißt es in dem Verfassungsartikel, dass bei Meinungsverschiedenheiten unter den Ministern die Regierung entscheidet. Hier wird ein "Überstimmen" des jeweiligen Koalitionspartners nicht möglich sein, da Union und SPD je acht Regierungsmitglieder bekommen sollen.

Im alltäglichen Geschäft der schwarz-roten Regierung dürfte der Wortlaut der Verfassung an diesem Punkt jedoch kaum eine Rolle spielen. Denn die Grundzüge der Politik werden Union und SPD in ihrer Koalitionsvereinbarung festschreiben. Die Sozialdemokraten werden genau darauf achten, dass sich Merkel daran hält.
 


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