Essay
Zurück zur Bonner
Republik
Große Koalitionen haben einen schlechten Ruf. Dabei
sind sie die institutionalisierte Absage an das alte Lagerdenken der Republik.
Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter sieht darin Chancen - wenn
SPD und Union mehr Bezugspunkte finden als den Zwang zum Regieren.
Göttingen - Unter meinen politikwissenschaftlichen Kollegen der 68er
Generation ist die große Koalition nicht wohlgelitten. Sie argwöhnen, dass
hinter dem Wunsch nach einer Allianz der beiden Großparteien zählebige Reste
nichtgebrochener wilhelminischer Obrigkeitskultur stecken. Auch im
linksliberalen Journalismus findet man dergleichen Interpretationen. Dabei ist
die Große Koalition keineswegs Bestandteil der politischen Kultur vom
Kaiserreich bis zum Ende der alten Bundesrepublik. Die Große Koalition war
historisch durchweg die Rarität, die von links bis rechts stets bekämpfte
Ausnahme. Die politische Kultur der Deutschen ist nicht durch die Allianz, nicht
durch die Kooperation, nicht durch die Konkordanz zwischen den Weltanschauungen
gekennzeichnet.
Das fatale Charakteristikum der politischen Kultur in
der deutschen Moderne ist vielmehr die Konfrontation, das Lagerdenken, die
ideologische Verabsolutierung der eigenen Klasse und Grundüberzeugungen. In
Deutschland waren die Parteien ganz im Unterschied zu anderen europäischen
Ländern dezidierte Programm- und Weltanschauungsparteien, denen jeder Sprung
über das eigene Milieu hinweg denkbar schwer fiel. Deutschland gehört zu den
wenigen Ländern Mitteleuropas, in denen es nie einen langen Zeitraum
römisch-roter Koalitionen, wie man die Zusammenarbeit von Christdemokraten und
Sozialdemokraten in den fünfziger Jahren zu nennen pflegte, gab.
Eine
Wahlschlacht nach der anderen
Daher fällt die Annäherung zwischen
Union und Sozialdemokraten in diesen Tagen so mühselig aus. Die deutsche Politik
ist durchformt von einem ungemein harten und - wegen der ungewöhnlichen Vielzahl
von Regionalwahlen - nahezu chronischen Parteienwettbewerb in Wahlkämpfen. In
kaum einem anderen Land dieser Welt werden die Parteien in derart viele
Wahlschlachten hineingedrängt.
Kanzlerschaft
CSU und SPD bestreiten Merkels Richtlinienkompetenz
Das geht ja gut los für Angela Merkel. Gerade erst ist geklärt, dass sie Regierungschefin einer Großen Koalition werden soll, und schon machen ihr die potentiellen Bündnispartner die Richtlinienkompetenz streitig. Neben SPD-Chef Müntefering an vorderster Front: der CSU-Vorsitzende Stoiber.
Berlin - In Union und SPD gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in einer künftigen Großen Koalition. SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering sagte gestern im ZDF, die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs sei bei einer solchen Zusammenarbeit "nicht lebenswirklich". Wenn die Richtlinie angewandt werde, sei die Koalition am Ende. Die im dritten Sondierungsgespräch von Union und SPD getroffenen schriftlichen Vereinbarungen zeigten, dass es nur eine faire Zusammenarbeit geben könne.
Richtlinienkompetenz Berlin - Nach der Vorentscheidung für eine Große Koalition ist zwischen den künftigen Koalitionären eine Debatte über die Machtverteilung in dem Bündnis entbrannt. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos erklärte gestern ebenso wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, Angela Merkel werde als Bundeskanzlerin nur eine stark eingeschränkte Richtlinienkompetenz haben. Zwar stehe diese der Regierungschefin verfassungsrechtlich zu, sagte Glos dem Fernsehsender N24. Aber es gebe einen Unterschied zwischen "Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit", so Glos. "Und deswegen müssen wichtige Entscheidungen vorher mit den Koalitionspartnern abgesprochen werden."
Er unterstrich, die Grundsatzeinigung zwischen SPD und Union auf Bildung einer Großen Koalition bedeute noch nicht die endgültige Entscheidung. Diese sei Sache des Parteitages, der die Ergebnisse der bevorstehenden Koalitionsverhandlungen billigen müsse.
CDU-Generalsekretär Volker Kauder hatte zuvor Richtlinienkompetenz für die designierte Kanzlerin Merkel verlangt. Zwar würden Union und SPD in einer Koalitionsvereinbarung gemeinsame Ziele festlegen. Darüber hinaus werde es aber immer wieder neue Aufgaben und Herausforderungen geben, die sich heute noch nicht absehen ließen. "Und da hat die Kanzlerin Angela Merkel durchaus eine Führungsfunktion, die sie auch ausüben wird", stellte Kauder klar.
Die Richtlinienkompetenz einer möglichen Kanzlerin Merkel wird aber selbst in der Union in Frage gestellt. In einem Bündnis von zwei fast gleich großen Partnern gebe es kein "klassisches Direktions- und Weisungsrecht", sagte CSU-Chef Edmund Stoiber, der Wirtschaftsminister im neuen Kabinett werden soll, gestern in München. Wichtige Entscheidungen würden im Koalitionsausschuss von den Partei- und Fraktionsvorsitzenden getroffen. "Natürlich trägt die Kanzlerin eine besondere Verantwortung, aber man muss das als gemeinsame Aufgabe sehen."
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SPIEGEL ONLINE - 11. Oktober 2005, 13:35
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,379181,00.html
Parteien stellen Merkels Macht in Frage
Einen kurzen Moment konnte sich Angela Merkel als Siegerin, als designierte Kanzlerin fühlen. Doch schon zeigen ihr CSU und SPD ihre Grenzen auf: Die künftigen Koalitionäre stellen Merkels Richtlinienkompetenz in Frage.
Zuvor hatte Stoiber gesagt, in einem Bündnis von zwei fast gleich großen Partnern gebe es kein "klassisches Direktions- und Weisungsrecht". Wichtige Entscheidungen würden im Koalitionsausschuss von den Partei- und Fraktionsvorsitzenden getroffen. "Natürlich trägt die Kanzlerin eine besondere Verantwortung, aber man muss das als gemeinsame Aufgabe sehen", sagte Stoiber, der dem neuen Kabinett als Wirtschaftsminister angehören soll.
Warnung vor einsamen Entscheidungen
Auch SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter warnte Merkel vor unabgesprochenen Entscheidungen als Kanzlerin in einer Großen Koalition. "Wenn man auf gleicher Augenhöhe verhandeln will und dann auf gleicher Augenhöhe gleichberechtigt regieren will, dann kann es nicht sein, dass eben einer einsame Entscheidungen trifft", sagte Benneter. "Und wer diese Gemeinsamkeit verlässt, weil er einsame Entscheidungen meint treffen zu müssen, der kündigt natürlich eine solche Koalition auf", machte Benneter deutlich.
Benneter unterstrich, die Grundsatzeinigung zwischen SPD und Union auf Bildung einer Großen Koalition bedeute noch nicht die endgültige Entscheidung. Diese sei Sache des Parteitages, der die Ergebnisse der bevorstehenden Koalitionsverhandlungen billigen müsse.
Ähnlich hatte sich zuvor SPD-Chef Franz Müntefering geäußert. Die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs sei in einem Bündnis von Union und SPD "nicht lebenswirklich". Wenn die Richtlinie angewandt werde, sei die Koalition am Ende, sagte Müntefering gestern.
Dagegen verlangte CDU-Generalsekretär Volker Kauder eine Richtlinienkompetenz für die designierte Kanzlerin Merkel. Zwar würden Union und SPD in einer Koalitionsvereinbarung gemeinsame Ziele festlegen. Darüber hinaus werde es aber immer wieder neue Aufgaben und Herausforderungen geben, die sich heute noch nicht absehen ließen. "Und da hat die Kanzlerin Angela Merkel durchaus eine Führungsfunktion, die sie auch ausüben wird", stellte Kauder klar.
"Kein Gnadenrecht"
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) zeigte sich erstaunt über die Äußerungen aus CSU und SPD. "Die Richtlinienkompetenz ist kein Gnadenrecht einer Partei oder eines Koalitionspartners, sondern in der Verfassung festgeschrieben", sagte Böhmer dem Rundfunksender RBB.
Zwar ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers im Grundgesetz verankert, doch in jeder Koalitionsregierung ist sie eingeschränkt - in einer Großen Koalition mit einer starken SPD gilt dies umso mehr. Gemäß Artikel 65 des Grundgesetzes gibt der Regierungschef den Kabinettsmitgliedern die Richtlinien verbindlich vor. Doch zugleich ist darin festgelegt, dass jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbstständig und eigenverantwortlich leitet - wenn auch innerhalb der Richtlinien. Weiter heißt es in dem Verfassungsartikel, dass bei Meinungsverschiedenheiten unter den Ministern die Regierung entscheidet. Hier wird ein "Überstimmen" des jeweiligen Koalitionspartners nicht möglich sein, da Union und SPD je acht Regierungsmitglieder bekommen sollen.
Im alltäglichen Geschäft der schwarz-roten Regierung dürfte der Wortlaut der Verfassung an diesem Punkt jedoch kaum eine Rolle spielen. Denn die Grundzüge der Politik werden Union und SPD in ihrer Koalitionsvereinbarung festschreiben. Die Sozialdemokraten werden genau darauf achten, dass sich Merkel daran hält.
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