SPIEGEL ONLINE - 12. Oktober 2005, 05:57
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Duell um Scherf-Nachfolge
 
Parteisoldat punktet gegen Werder-Willi

Von Alwin Schröder, Bremen

Die Bremer SPD-Mitglieder sollen sich zwischen Senator Willi Lemke und Fraktionschef Jens Böhrnsen als Nachfolger des beliebten Bürgermeisters Henning Scherf entscheiden. Beim ersten Zweikampf vor der Basis hatte es der frühere Werder-Manager gegen den strammen Parteisoldaten schwer.

Bremen - Damals, als er noch Manager von Werder Bremen war, fiel es Willi Lemke leicht, die Menschen für sich zu gewinnen. Da reichte es, Feind seines Kollegen Uli Hoeneß von Bayern München zu sein. "In München die Bayern zu schlagen und die Meisterschale zu holen, ist das Allergrößte", jubelte Lemke sogar noch nach dem letzten Titelgewinn der Grün-Weißen im Mai 2004, als er schon längst Bildungssenator an der Weser war.

Doch gestern hatte es der bei den sportbegeisterten Hansestädtern so beliebte SPD-Mann schwerer, die Leute auf seine Seite zu ziehen. Um Nachfolger von Bürgermeister Henning Scherf zu werden, der kürzlich überraschend seinen Rücktritt ankündigte, musste er sich der ersten von insgesamt fünf Mitgliederbefragungen der Sozialdemokraten stellen. Und statt Feindbild Hoeneß ist nun mit SPD-Fraktionschef Jens Böhrnsen ein sozialdemokratischer Parteisoldat im bis auf den letzten Platz besetzten Foyer des AWD-Domes sein Kontrahent.

Ein bisschen erinnert dieses erste Duell um die Scherf-Nachfolge an die Anfänge des jüngsten Bundestagswahlkampfes. Wie zunächst Angela Merkel mit ihrer Ankündigung von Steuererhöhungen bereitet Lemke, 59, die Bremer darauf vor, dass die Bürger des notorisch verschuldeten kleinsten Bundeslandes sich auf einen Sparkurs einstellen müssen, wenn sie ihn zum neuen Bürgermeister wählen. Einen "sozialen Kahlschlag" werde es mit ihm als Bürgermeister aber nicht geben, beteuert er. Aber angesichts der dramatischen Haushaltslage Bremens mache er sich "große Sorgen um die Eigenständigkeit" des Stadtstaates. Die Genossen danken ihm für seine Bestandsaufnahme nur mit verhaltenem Beifall.

Böhrnsen, 56, dagegen gibt den traditionellen Sozialdemokraten. Obwohl er als Fraktionschef ein wichtiger Bestandteil der Großen Koalition an der Weser ist, attackiert der ehemalige Richter die "Schwarzen" so massiv, als stünde schon demnächst die Auflösung des von Scherf so intensiv gepflegten Bündnisses mit den Christdemokraten und eine Zuwendung zu den Grünen bevor. "Neoliberale Verirrungen" und ein "einfältiges Konzept" in der Sozialpolitik wirft er den Bremer Unions-Politikern vor. Während der Etat des CDU-Wirtschaftssenators offenbar "heilig" sei, forderten sie von ihrer SPD-Kollegin im Sozialbereich massive Einsparungen, wettert Böhrnsen. Das dürfe "so nicht weitergehen". Zwar müsse man sparsam sein, aber Böhrnsen verspricht den Genossen eine Politik mit "sozialdemokratischen Inhalten". Denn "schwache Schultern brauchen Entlastung". Dafür gab's dann längeren Beifall.

Der Freund Willy Brandts

Auf fünf Veranstaltungen haben die rund 5800 Bremer SPD-Mitglieder Gelegenheit, sich ein Bild von den beiden Kandidaten zu machen, die die Nachfolge des Originals Scherf werden möchten. Die Genossen können ihrem Favoriten dabei entweder direkt oder per Briefwahl ihre Stimme geben. Das Ergebnis der Befragung soll dann am kommenden Samstag nach der letzten Vorstellungsrunde bekannt gegeben werden. Der Gewinner muss anschließend noch auf einem Parteitag nominiert werden. Das Ergebnis der Befragung ist aber bindend. Schon Anfang November könnte dann der neue Regierungschef in der Bremer Bürgerschaft gewählt werden.

In einem Brief an seine Parteifreunde hatte der Ex-Werder-Manager Lemke sich zwar seiner bundesweit guten Kontakte gerühmt und als Freund Willy Brandts gepriesen: "Willi Lemke ist der lebende Beweis dafür, dass Sozialdemokraten auch mit Geld umgehen können", zitiert er darin die SPD-Legende. Doch ob dies für im Zweikampf mit dem bundesweit eher unbekannten Böhrnsen reicht, ist spätestens seit diesem ersten Duell fraglich. In Lemkes Umfeld wurde in den vergangenen Tagen denn auch mit Argwohn beobachtet, wie die Gegenseite von Ortsverein zu Ortsverein zog, um Stimmung für sich zu machen. Und im AWD-Dome verteilte die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) der Genossen eine "Erklärung", mit der sie sich schon jetzt für Böhrnsen aussprach. Für Lemke macht sich dagegen nur ein Lehrer mit einer Lobesrede stark.

Scherf hält sich raus

Bei der Befragung der beiden Kandidaten meldeten sich gestern Abend umgehend der Betriebratschef der Stahlwerke und eine Vertreterin des Personalrates des öffentlichen Dienstes zu Wort, um von Lemke und Böhrnsen zu hören, ob man sich auf sie verlassen könne - der öffentliche Dienst führt mit dem rot-schwarzen Senat zurzeit einen Streit über die Tarifpolitik. Das ist der Zeitpunkt, wo Lemke und Böhrnsen ihre höfliche Zurückhaltung aufgeben und tatsächlich ein Streitgespräch führen. Böhrnsen beschwert sich, dass ein Beschluss des SPD-Parteitages, der die Bediensteten unterstützt, vom Senat nicht genügend beachtet worden sei. Senator Lemke wiederum erinnert daran, dass in einer Koalition die komplette Übernahme eines solchen Beschlusses nicht möglich sei.

Auf Henning Scherf kam im AWD-Dome nur selten die Rede. Der noch amtierende Bürgermeister war in der ehemaligen Stadthalle auch gar nicht anwesend. Er wartet mit Freuden darauf, wer sein Nachfolger wird. Weder für Böhrnsen noch für Lemke macht er sich stark - beide seien "enge Freunde". Scherf hat für sich längst andere Aufgaben ausgemacht, als sich in die Politik seiner Bremer SPD einzumischen: Er wolle "mit dem Fahrrad ums Mittelmeer fahren", gab er als eines seiner neuen Ziele preis.
 


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SPIEGEL ONLINE - 15. Oktober 2005, 17:52
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Bremen
 
Böhrnsen soll Scherf nachfolgen

Die Bremer Sozialdemokraten haben sich entschieden: Der Fraktionsvorsitzende Jens Böhrnsen wird neuer Regierungschef an der Weser. Der Nachfolger des scheidenden Senatspräsidenten Henning Scherf bekam bei einer Mitgliederbefragung die meisten Stimmen.

Danach hat sich Böhrnsen bei einer SPD-internen Abstimmung gegen Bildungssenator Willi Lemke durchgesetzt. Zur Wahl waren 5700 SPD- Mitglieder aufgerufen. Der 56-jährige frühere Verwaltungsrichter Böhrnsen sitzt seit 1995 in der Bürgerschaft und ist seit 1999 Vorsitzender der Bürgerschaftsfraktion.

Amtsinhaber Henning Scherf hatte Ende September nach zehnjähriger Amtszeit als Regierungschef im kleinsten Bundesland seinen Rücktritt angekündigt. Um seine Nachfolge hatten Böhrnsen und Lemke (59) in den vergangenen Tagen bei mehreren Vorstellungsrunden gekämpft.

Nach SPD-Schätzungen haben sich daran etwa 50 Prozent per Briefwahl oder persönlichem Votum beteiligt. Das Ergebnis ist nach SPD-Beschluss politisch bindend. Ein Landesparteitag soll Böhrnsen am kommenden Mittwoch als Nachfolger Scherfs nominieren. Wann er sich der Bürgerschaft zur offiziellen Wahl stellt, steht noch nicht fest. Die SPD strebt einen Termin Ende Oktober oder Anfang November an.

In der letzten öffentlichen Diskussionsveranstaltung nannten beide Bewerber die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Haushaltskonsolidierung als vorrangige politische Aufgaben. Lemke wie Böhrnsen kündigten an, der Politik in der Bremer großen Koalition ein stärker sozialdemokratisches Profil zu geben.

Fraktionschef Böhrnsen erklärte unter anderem, er habe seine Aufgabe nie darin gesehen, "einen Einheitsbrei anzurühren", und wolle sich darin nicht ändern.
 


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SPIEGEL ONLINE - 15. Oktober 2005, 18:23
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Böhrnsen-Porträt
 
Der Liebling der Partei

Bremens designierter Regierungschef zog bislang im Hintergrund die Fäden. Das Wohlwollen der SPD-Genossen gewann Böhrnsen durch seine kritische Haltung zur Großen Koalition - diese will er sozialdemokratischer machen.

Jens Böhrnsen konnte bislang ganz gemütlich und fast unerkannt durch die Bremer Innenstadt schlendern. Außerhalb von Politikkreisen konnten bislang nur wenige etwas mit dem Gesicht des Bremer SPD-Politikers anfangen. Fast unauffällig hatte er in den vergangenen sechs Jahren die Fraktion in der Bürgerschaft geführt.

Schon bald aber könnte Böhrnsen aber um Autogramme gebeten werden, denn nach dem Willen der SPD-Basis soll der 56-Jährige Nachfolger von Bürgermeister Henning Scherf werden. Bei einer Mitgliederbefragung im Stadtstaat machte er vor seinem Konkurrenten, Bildungssenator Willi Lemke, das Rennen.

Auch wenn viele Bremer ihren aller Wahrscheinlichkeit nach neuen Bürgermeister erst einmal kennenlernen müssen - in Parteikreisen genießt der ehemalige Verwaltungsrichter längst einen hervorragenden Ruf. Besonnenheit, ein unprätentiöser Führungsstil und Kompetenz werden dem geborenen Bremer nachgesagt.

Enger Draht zur Basis

Dass die Basis der SPD ihm den Vorzug gegeben hat, zeigt, wie eng der Draht zwischen Böhrnsen und seiner Partei ist. Kein Wunder, ist er doch Sozialdemokrat durch und durch. Schon seine Eltern waren aktive Gewerkschafter und Genossen, und im Jurastudium in Kiel setzte er sich als einer der wenigen Studenten aus einem Arbeiterhaushalt durch.

Die Genossen rechnen es dem 56-Jährigen zudem hoch an, dass er in en vergangenen sechs Jahren die Eigenständigkeit der Fraktion gegenüber dem Senat festigte und dabei Konflikte nicht scheute. Und noch etwas kam bei den Sozialdemokraten gut an: Böhrnsen hatte in der Vergangenheit mit seinem Unmut über die Große Koalition nicht hinter dem Berg gehalten. So veröffentlichte er ein Papier, in dem er dem Elefantenbündnis Lethargie bescheinigte. Damit zog er sich den Ärger von Bürgermeister Scherf zu, sprach aber manchem Parteifreund aus der Seele.

Auch in seinem "Bewerbungsschreiben" an die Parteibasis hatte Böhrnsen unverhohlen gegen Rot-Schwarz gestichelt. "In der Vergangenheit hatte man manchmal den Eindruck, es sei leichter, etliche Millionen für ein Großprojekt zu bekommen als wenige Tausend für eine soziale Maßnahme", schrieb er. Auch wenn Böhrnsen den Koalitionsvertrag mit der CDU bis zur Bürgerschaftswahl 2007 nicht in Frage stellt - er will dem Bündnis wieder stärker einen sozialdemokratischen Stempel aufdrücken.

Rot-Grün wird wahrscheinlicher

Eine Privatisierung der Wohnungsbaugesellschaft Gewoba, so lässt er schon mal wissen, sei mit ihm nicht zu machen. Stattdessen müssten die Investitionen im kleinsten Bundesland auf den Prüfstand. Langfristig wähnen viele Genossen mit Böhrnsen ein rot-grünes Bündnis in greifbarer Nähe.

Trotz großer Rückendeckung seiner Partei wird es Böhrnsen auf dem Bremer Chefsessel nicht bequem haben. Um das kriselnde SPD/CDU-Bündnis bis zur Bürgerschaftswahl zusammenzuhalten, braucht es Fingerspitzengefühl. Zu Gute kommen dürften dem Sozialdemokraten dabei seine diplomatischen Fähigkeiten. Böhrnsen gilt als geschickter Verhandler, der den parlamentarischen Betrieb in- und auswendig kennt.

Von Julia Deppe, afp
 


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