SPIEGEL ONLINE - 28. September 2005, 19:47
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Bremen
 
Bürgermeister Scherf kündigt Rücktritt an

Bremens Regierungschef Henning Scherf hat seinen Rücktritt angekündigt. Der SPD-Politiker führt seit 10 Jahren eine Große Koalition in der Hansestadt. Als Begründung nannte der 66-Jährige sein Alter.

Hamburg - "Ich denke, dass ist jetzt der richtige Zeitpunkt", sagte Scherf heute. Einen genauen Termin nannte er nicht. Er werde in vier Wochen 67 Jahre alt und sei länger in der Gewerkschaft als in der Partei. Dort habe er sich immer für Arbeitszeitverkürzung eingesetzt und wolle dies jetzt auch für sich in Anspruch nehmen.

Er wolle nicht "mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus getragen werden", sagte Scherf. Er habe lange nach dem geeigneten Zeitpunkt für den Rückzug gesucht. Im vergangenen Jahr sei er noch einmal umgestimmt worden. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl habe die SPD nun aber wieder ein erstaunlich gutes Ergebnis erzielt. Scherf wählte für seinen Rücktritt etwa die Mitte der Legislaturperiode. Die nächste Wahl im kleinsten deutschen Bundesland soll 2007 stattfinden. Seit 1978 ist Scherf in verschiedenen Funktionen in der Bremer Regierung. Seit Juli 1995 ist er Chef einer Großen Koalition aus SPD und CDU. Das Bündnis werde auch nach dem Ausscheiden Scherfs fortgesetzt, kündigte der SPD-Landesvorsitzende Carsten Sieling an: "Wir werden den Koalitionsvertrag einhalten." Die Bremer SPD-Spitze werde von sofort an nach einem Nachfolger suchen.

In der vergangenen Woche hatte sich Scherf im Interview mit SPIEGEL ONLINE massiv für eine Große Koalition im Bund ausgesprochen. Er nannte ein Bündnis zwischen SPD und Union "nach Lage der Dinge die einzige plausible Chance für ein trag- und handlungsfähiges Regierungsbündnis". In Bremen sei die rot-schwarze Koalition seit zehn Jahren "eine große Hilfe". "Ich könnte mir gut vorstellen, dass das auch auf Bundesebene funktioniert."
 


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SPIEGEL ONLINE - 29. September 2005, 09:43
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Bremen
 
Henning Scherf strebt keine Ämter mehr an

Bremens Bürgermeister Henning Scherf ist Spekulationen um einen Wechsel nach Berlin entgegengetreten. Nach seinem gestern Abend angekündigten Rücktritt als Regierungschef des kleinsten Bundeslandes will er keine politischen Ämter mehr übernehmen.

Berlin - Im ZDF-Morgenmagazin sagte der SPD-Politiker heute, er sei und bleibe in Bremen zwar eine öffentliche Person, doch habe er nach 27 Jahren in der Landesregierung "das Recht auf ein Leben nach der Politik". Er werde zwar gezielt helfen, wenn er Hilfe leisten könne, doch komme eine neue politische Aufgabe nicht mehr in Frage.

Scherf, der in Bremen eine rot-schwarze Koalition führt und jetzt einem Jüngeren Platz machen will, glaubt, den Zeitpunkt für seinen Rücktritt richtig gewählt zu haben. So sei die Bundestagswahl vorbei, und die sich in Berlin abzeichnende große Koalition von CDU/CSU und SPD werde den Übergang erleichtern. Der SPD-Politiker sagte, dies werde er auch in Zukunft und außerhalb der Politik tun. Als verantwortlicher Politiker und als bekannte Persönlichkeit müsse man zuversichtlich vorleben, dass es Zukunftsoptionen gibt, dass man Zutrauen habe.

Der 67-Jährige versprach, sich nicht abmelden zu wollen. Wie sein Vorvorgänger, der frühere Bremer Bürgermeister Hans Koschnick, werde er zufrieden sein, wenn er weiterhin viele andere Menschen sehe und selbst gern gesehen werde.
 


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SPIEGEL ONLINE - 29. September 2005, 18:42
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Scherfs Rückzug
 
Dem Oma-Knutscher fehlt der politische Enkel

Von Alwin Schröder, Bremen

Die Rückzugsankündigung von Bürgermeister Scherf hat Bremen einen Schock versetzt. Die SPD stellt sich auf einen wochenlangen Nachfolgekampf ein, bei dem Bildungssenator Lemke die besten Chancen hätte. Die CDU bangt um die Fortsetzung der Großen Koalition an der Weser.

Bremen - Den Fehler von Kurt Biedenkopf wollte Henning Scherf nicht machen. Der CDU-Politiker hatte seinen Rückzug als Ministerpräsident Sachsens lange hinausgezögert und war schließlich aus dem Amt gejagt worden. "Davor hatte ich Angst", sagt Scherf. Der Bremer Bürgermeister ist deshalb "erleichtert", dass er am gestrigen Mittwochabend eine "schrille Nummer" hinter sich brachte: Auf dem SPD-Landesparteitag im Stadtteil Vegesack teilte der bald 67-Jährige den verdutzten Delegierten mit, dass er so schnell wie möglich einem Jüngeren Platz machen wolle. Aus der Suche nach einem Nachfolger werde er sich heraushalten.

Scherfs plötzliche Rückzugsankündigung kommt zu einem überraschenden Zeitpunkt. Denn seit dem vertrackten Ausgang der Bundestagswahl wurde auch der beliebte Regierungschef für eine wichtige bundespolitische Aufgabe in Berlin ins Spiel gebracht. Denn mit einer Großen Koalition kennt Scherf sich aus: Seit zehn Jahren führt er in dem Stadtstaat ein Bündnis aus SPD und CDU.

Doch mit Berlin habe er nichts im Sinn, versichert Scherf, von Genossen und Mitbürgern oft nur liebevoll "Henning" genannt, glaubhaft. "Ich möchte nicht mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus getragen werden", sagt er. "Ich habe ein Menschenrecht auf ein Leben nach der Arbeit."

Tag eins nach Henning

Am Tag eins nach Henning weint der Himmel in Bremen. "Dass Henning aufhört, ist für uns genauso schlimm wie damals, als Werder-Trainer Otto Rehhagel zu Bayern München wechselte", sagt eine Taxifahrerin. Denn obwohl Bremen mit Hans Koschnick oder Wilhelm Kaisen nach dem Krieg bereits mehrere bedeutende und beliebte Bürgermeister hatte, scheint der 2,04 Meter lange Scherf doch alle zu übertreffen: Ohne Leibwächter lässt er sich immer wieder auf Wochenmärkten oder Festen sehen und drückt und knuddelt dabei seine manchmal verdutzten Mitbürger.

So viel demonstrative und herzliche Volksnähe brachte ihm von Leuten, die es nicht so gut mit Scherf meinen, den Titel "Oma-Knutscher" oder "Umarmer" ein. "Politiker sollten so sein wie Henning Scherf", überschrieb jedoch der damalige SPD-Generalsekretär Olaf Scholz einen Artikel in der "Welt" über den "weichen Riesen", der seit 27 Jahren in einer Bremer Regierung mitwirkt.

Immer wieder wurde seit dieser Zeit über den "König von Bremen" und seine schräge Vita geschrieben: Dass er früher ein Vorzeige-Linker war, der in Nicaragua einmal zehn Tage lang Kaffeebohnen pflückte. Dass er mit seiner Frau Luise und "gleichgesinnten" Freunden in der Rembertistraße in einer Art "WG für Alte" wohnt und sich meistens statt mit dem Dienstwagen auf dem Fahrrad durch die Hansestadt bewegt.

Liebenswerte Eigenarten, die jedoch Parteifreunden in letzter Zeit zunehmend auf den Nerv gingen. Denn auch nach zehn Jahren Großer Koalition hat Bremen noch immer ein schlechtes Image: Die Schulden des kleinsten Bundeslandes stiegen von acht auf zwölf Milliarden Euro, die Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch, und bei der Pisa-Studie liegen Bremens Schüler auf dem letzten Platz. Wenn man Scherf hingegen über sein "schönes Bremen" reden hört, meint man, er berichtet über eine andere Stadt. Von der Jury sei man zum Beispiel nur deshalb nicht zur Kulturhauptstadt ernannt worden, weil Bremen so gut dastehe und eine solche Werbung gar nicht nötig habe.

Auch gilt Scherfs Hang zum Aktenstudium als begrenzt. Und als sein Prestige-Objekt "Space Park" endgültig floppte, hielt sich der Bürgermeister auf einem Segelboot in der Arktis auf, als die schlechte Nachricht publik gemacht wurde.

Scherf gab seinen Rückzug inmitten der Legislaturperiode bekannt. "Von mir aus kann das sehr schnell gehen", gab er seinen Genossen für die Suche nach einem Nachfolger mit auf den Weg. Ganz oben auf der Liste stehen dafür drei Namen: der SPD-Fraktionschef Jens Böhrnsen, die Sozialsenatorin Karin Röpke sowie Bildungssenator Willi Lemke, der als jahrelanger Manager des Fußballklubs Werder Bremen als einziger auch bundesweit bekannt ist. Noch hat keiner von ihnen offiziell den Hut in den Ring geworfen. Morgen werde es erste Beratungen über die Nachfolge geben, sagte SPD-Landeschef Carsten Sieling SPIEGEL ONLINE.

Die Grünen stehen schon in den Startlöchern

Je länger die Suche nach einem Scherf-Nachfolger dauert, desto besser dürften die Chancen jedoch für Lemke werden. Denn der als seriös geltende ehemalige Richter Böhrnsen gilt zwar als Favorit der Fraktion. Doch bei mehreren Bewerbern ist eine Mitgliederbefragung in den Ortsverein geplant. Möglicherweise wird dann in einer Urwahl über den neuen Bremer Bürgermeister entschieden. Und dabei dürfte der wegen seiner Werder-Vergangenheit bei vielen Bremern populäre Lemke die besseren Karten haben.

Die Christdemokraten machten sich am Tag eins nach Henning bereits Sorgen über den Fortbestand der Großen Koalition. Bis 2007 gilt der Vertrag zwischen Roten und Schwarzen an der Weser. Auch vom Nachfolger Scherfs werde mit einem klaren Bekenntnis zur Großen Koalition gerechnet, sagte Landeschef Bernd Neumann. "Wir erwarten eine schnelle Nachfolgeentscheidung möglichst bis zur nächsten Bürgerschaftssitzung, um angesichts der dramatischen finanziellen Lage die unverzichtbaren Entscheidungen zum Haushalt unter Mitverantwortung des neuen Regierungschefs zu treffen."

Zwar sicherte Sieling der Union heute zu, der Koalitionsvertrag werde eingehalten. Doch so massiv wie Scherf kämpfte niemand in der SPD für das Bündnis der beiden großen Parteien. Sowohl von Böhrnsen als auch von Röpke versprechen sich manche Genossen nun bessere Aussichten auf eine rot-grüne Koalition. Ein Ende von Rot-Schwarz würde sie angesichts der katastrophalen Haushaltssituation begrüßen, sagte Grünen-Fraktionschefin Karoline Linnert SPIEGEL ONLINE. Denn die letzten Jahre habe Bremen nur in "Agonie" verbracht. "Wir würden gerne mitregieren und sind vorbereitet", stellte Linnert klar. In der Bürgerschaft hätte Rot-Grün schon jetzt eine Mehrheit.
 


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