SPIEGEL ONLINE - 30. September 2005, 11:17
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Nachwahl in Dresden
 
Letzte Offensive

Aus Dresden berichtet Jens Todt

Lafontaine geht die Stimme durch, Westerwelle macht den Kanzler nieder, Schröder und Merkel ringen um die letzten Prozente: Vor der Nachwahl in Dresden fechten die Parteigrößen ihre letzte Wahl-Offensive. Den meisten Polit-Promis sind die Strapazen der letzten Wochen anzumerken.

Dresden - Oskar Lafontaine ist erkältet, seine Stimme droht zu versagen, er pfeift buchstäblich auf dem letzten Loch. Gut tausend Zuschauer haben sich auf dem Schlossplatz der sächsischen Landeshauptstadt versammelt, um den Saarländer und Gregor Gysi, die zwei frisch gewählten Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, zu sehen und zu hören.

An der Elbe ist das große Schaulaufen der Polit-Promis in vollem Gange. Zu wichtig ist das Signal, das am Sonntag aus Sachsen in den Rest der Republik gesendet wird, als dass man den Wahlkampf lokalen Parteigrößen überlassen würde. Zwar gilt der Wahlkreis 160 traditionell als CDU-freundlich, doch sind den Parteistrategen nach dem Desaster der Demoskopen jegliche Gewissheiten abhanden gekommen. In allen Lagern herrscht allerdings Einigkeit in einem Punkt: Das Dresdner Wahlergebnis wird große Symbolkraft haben - vor allem für den Berliner Koalitionspoker zwischen Union und SPD.

Sympathie für Schröder

Routiniert und in freier Rede spult Lafontaine sein Repertoire ab, geißelt Lohndumping und die Lockerung des Kündigungsschutzes, fordert einen gesetzlichen Mindestlohn und wendet sich gegen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Anschließend spielt er auf eine Kuriosität der Nachwahl an, die darin besteht, dass die CDU zwar die Erststimmen für ihren Dresdner Kandidaten Andreas Lämmel benötigt, jedoch bei einem zu guten Zweitstimmenergebnis Gefahr läuft, gleichzeitig ein Überhangmandat zu verlieren. Süffisant lächelnd bittet Lafontaine "eventuell anwesende CDU-Wähler" um deren Zweitstimmen, "die wären doch sonst verschenkt". Mehrfach stört ein Zwischenrufer Lafontaines Rede. "Oskar, du bist doch schon einmal vor der Verantwortung weggelaufen", schreit er in Richtung Bühne, doch die Organisatoren reagieren schnell. Flugs eilen zwei freundliche Ordner der Linkspartei herbei und versuchen den Mann zu beruhigen.

Gregor Gysi ist ebenfalls erkältet, was an der "Seelenverwandtschaft mit Oskar" liege, wie er den Zuschauern erklärt. In seiner Rede schließt er eine Unterstützung Gerhard Schröders aus. "Von uns gibt es keine einzige Stimme für Schröder", sagt Gysi, und nach einer kurzen Pause: "Und für Frau Merkel schon gar nicht, das ist ja noch finsterer."

Die Szenerie auf dem Schlossplatz bekommt einen Anflug von Gottesdienst, als pünktlich um 18 Uhr die Glocken der katholischen Hofkirche zu läuten beginnen - just in dem Moment als Gysi sagt, die Agenda 2010 sei "in ihrem Kern falsch". Minutenlang brüllt Gysi gegen lautes Glockengeläut an, aber niemand auf dem Platz lacht.

Die Linkspartei hat wohl auch deshalb geballte Prominenz in Dresden aufgefahren, weil sie fürchten muss, dass etliche ihrer Anhänger am Sonntag im Wettstreit der zwei großen Parteien das für sie kleinere Übel, die SPD, wählen könnten. Zudem hat Katja Kipping, die lokale Wahlkreiskandidatin, über die Landesliste bereits einen Platz im Bundestag sicher. Ein Rentner, der ganz hinten auf dem Platz steht, applaudiert laut und ausdauernd während Gysis Rede. "Genau, Gregor" ruft er, als dieser den "historischen Moment" beschwört, in dem sich mit der Linkspartei eine neue politische Kraft links von der Sozialdemokratie gebildet habe. Als Gysi seine Rede beendet, verabschiedet sich der alte Mann von seinen Freunden, dreht sich um und murmelt: "Dann lieber Schröder, bevor die Merkel kommt."

Gutgelaunte FDP

Das graue FDP-Festzelt auf der Prager Straße passt sich seiner Umgebung gut an. Zwischen sozialistischer Plattenbau-Architektur und dem kalten Chic westdeutscher Kaufhaus- und Billighotel-Ketten am Rande der Fußgängerzone versuchen junge Liberale kurz vor dem Auftritt der beiden Gäste aus Berlin bunte FDP-Plakate an der Außenwand anzubringen. Als der Fraktionschef im Bundestag, Wolfgang Gerhardt, und Parteivorsitzender Guido Westerwelle eintreffen, prangen gelb-blaue Planen an der Zeltwand, FDP-Fahnen flattern im Wind - und drinnen gibt es keinen freien Platz mehr. Vor dem Eingang hat sich sogar eine kleine Traube Schaulustiger gebildet.

Gerhardt sagt, er wünsche sich von den Dresdnern "ein deutliches Signal, welche Politik gewünscht wird" und spricht über den Vorschlag der SPD, die Wahl des neuen Bundestagspräsidenten zu verschieben. "Diese Personalie darf nicht zur Verhandlungsmasse in Koalitionsgesprächen gemacht werden", sagt er, "die Spielregeln in Deutschland müssen eingehalten werden."

Westerwelle, der nach Gerhardt am Pult steht, beweist jedoch in seiner Rede, dass die Spielregeln des politischen Betriebs augenscheinlich von denjenigen bestimmt werden, die sich im Aufwind befinden. Als er auf den Auftritt Schröders bei der sogenannten Elefantenrunde am Wahlabend zu sprechen kommt, sagt er den Satz: "Man fragt sich gelegentlich, ob es bald Haarproben nach Fernsehsendungen gibt." Die Anhänger im Festzelt lachen und jubeln, niemand stutzt, die sächsische FDP kann vor Kraft kaum laufen. Schröder kette sich in Verkennung der Realität geradezu an das Kanzleramt an, scherzt Westerwelle weiter, "Der denkt, das ist auf Lebenszeit."

Grüne Zurückhaltung

Wenige hundert Meter weiter herrscht ein weniger siegestrunkener Ton. Renate Künast, in einer Doppelspitze mit Fritz Kuhn neue Fraktionsvorsitzende der Grünen, spricht im Gewerkschaftshaus vor einem treuen Häuflein Anhänger. Etwa hundert Zuhörer haben den Saal im sechsten Stock gefunden, in dem Künast von den Sondierungsgesprächen mit der Union berichtet. Sie sei geradezu "peinlich berührt" gewesen, so Künast, "ob der guten Dinge, die vor den Gesprächen von der Union über uns Grüne gesagt wurden." Es habe sich allerdings schnell gezeigt, dass die CDU-Emissäre sich lediglich eine Option für die Verhandlungen mit der SPD offen halten wollten. "Die wollten nicht richtig", so Künast. Dennoch plädiert sie vor den Zuhörern dafür, "Türen zu öffnen, die vorher verschlossen waren" und skizziert die Schwierigkeiten künftiger Regierungsbündnisse.

Die letzten zehn Tage hätten eines gezeigt, so die Grüne, "in Zukunft wird es entweder große Koalitionen oder aber Dreierkonstellationen geben". Auch Künast, die vor wenigen Tagen ihren Rücktritt als Verbraucherschutzministerin erklärt hat, merkt man die Strapazen des Wahlkampfes an. Sie habe ihr "Reststromaggregat angeschmissen", so die neue Grünen-Chefin, und zwar deshalb, "weil ich Lust habe zu gewinnen".

Am Freitag erreicht der Dresdner Polit-Auftrieb seinen Höhepunkt. Fast zeitgleich werden der Schröder und Merkel in der sächsischen Landeshauptstadt erwartet. Der Kanzler wird am Nachmittag bei einem SPD-Fest an der Elbe sprechen, seine Konkurrentin von der Union am Altmarkt. Danach wird Dresden wieder den Dresdnern gehören, zumindest fast. Eine letzte Großveranstaltung steht noch aus am Altmarkt, dem Ort, den alle Parteien zwei Wochen lang als Hauptkampfplatz um Wählerstimmen genutzt haben - teilweise in Sichtweite der Konkurrenz. Was die Dresdner am Samstag dort erwartet, ist jedoch eine Heimsuchung der harmloseren Art. "Wetten dass" gastiert in der Stadt - und der Altmarkt wird Schauplatz der sogenannten Außenwette sein.
 


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SPIEGEL ONLINE - 30. September 2005, 19:51
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Nachwahl
 
Schaukampf in Dresden

Den Ausgang der Bundestagswahl wird die Abstimmung in Dresden nicht mehr wesentlich beeinflussen - aber die Symbolkraft ist erheblich. Deswegen demonstrieren Kanzler Schröder und Kanzlerkandidatin Merkel bei ihren Auftritten in der sächsischen Landeshauptstadt vor allem eines: Machtbewusstsein.

Dresden - Bei der Wahlkampfabschlussveranstaltung der SPD bekräftigte Gerhard Schröder seinen Führungsanspruch auch in einer künftigen Regierung. "Das was wir angefangen haben, möchte ich fortführen an der Spitze einer neuen Regierung." Schröder sagte, es dürfe keine Erneuerung nach dem Motto der Wirtschaftsverbände geben. Außerdem "machen wir eine Bildungspolitik, in deren Mittelpunkt wirklich Bildung für alle steht". Es gehe um Menschen, die etwas machen und dieses Land nach vorne bringen wollten. Da dürfe es soziale Barrieren nicht geben.

Deutschland müsse außerdem auch weiterhin das Land sein, das unveräußerlich und entschieden für die friedliche Lösung von Konflikten in der Welt eintrete, betonte Schröder: Dies seien "die Punkte, die jede deutsche Regierung beachten muss" und entlang derer die Tagespolitik gemacht werden müsse. "Das durchzusetzen, habe ich entschieden vor", sagte Schröder.

Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel betonte den Führungsanspruch von CDU und CSU in einer Großen Koalition. "Wenn die Wahllokale in Dresden geschlossen haben - ich bin ganz sicher, dann wird das langsam auch der Bundeskanzler einsehen", sagte Merkel heute. "Wir brauchen eine neue Politik, und das kann nur eine Politik sein, die die Union wesentlich mitgestaltet." Merkel sagte, die Union habe den Auftrag bekommen, für Deutschland etwas zu bewegen. "Von dem, was wir uns an Programm vorgenommen haben, wollen wir möglichst viel umsetzen", fügte die CDU-Chefin hinzu. Sie versprach, dafür zu sorgen, dass die Länder mehr Freiräume zur Entwicklung der Infrastruktur bekommen. Die dafür unter anderem notwendigen Mittel aus dem Solidarpakt II würden wie geplant fließen. Es müsse jedoch dafür gesorgt werden, dass sie gezielt für den Ausbau in den neuen Bundesländern eingesetzt würden.

Eine weitere Aufgabe der neuen Bundesregierung werde die Umsetzung eines neuen Steuerrechts sein. Für jedes Kind und jeden Erwachsenen solle es einen Freibetrag von 8000 Euro im Jahr geben.

Die Nachwahl im Dresdner Wahlkreis 160 (Dresden I) ist wegen des Todes der NPD-Direktkandidatin Kerstin Lorenz erforderlich geworden. Zur Stimmabgabe sind zwei Wochen nach dem eigentlichen Bundestagswahltermin rund 219.000 Wähler. Bei der letzten Bundestagswahl 2002 hatte die CDU den Wahlkreis mit 33,8 Prozent direkt gewonnen. Christa Reichard zog damals als Unionskandidatin in den Bundestag ein. Die SPD kam bei den Erststimmen auf 31,3 Prozent, die PDS auf 20,9, die Grünen auf 5,5 und die FDP ebenfalls auf 5,5 Prozent.


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