SPIEGEL ONLINE - 30. September 2005, 10:52
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,377399,00.html

Union
 
Heftige Kritik an Merkels Wahlkampf

Die Mahnungen der CDU-Chefin zur Geschlossenheit waren vergebens, immer lauter werden die Attacken aus den eigenen Reihen: Führende Unionspolitiker machen den Wahlkampfstil der Kanzlerkandidatin für das schlechte Abschneiden am 18. September verantwortlich.

Hamburg - "Wir haben einen zu nüchternen, kühlen Wahlkampf geführt", sagte der bayerische Innenminister Günther Beckstein dem SPIEGEL. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Karl-Josef Laumann: "Wir haben die Herzen der Menschen nicht erreicht." Die CDU sei im Wahlkampf zu stark auf die Interessen des Wirtschaftsflügels der Partei eingegangen. "Diejenigen, die über die Entsozialdemokratisierung der CDU gejubelt haben, finden sich jetzt in einer Großen Koalition wieder", sagte Laumann.

Bei einer Sitzung des CDA-Vorstandes am vorvergangenen Freitag beklagte Laumann nach Informationen des SPIEGEL, dass die CDU-Führung zentrale CDA-Forderungen wie eine Erhöhung des Kindergeldes und eine abschlagsfreie Rente mit 63 für Arbeitnehmer mit langen Beitragszeiten abgelehnt habe.

Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach sagte, die Union habe im Wahlkampf die Bürger mit zu vielen Belastungen konfrontiert: "Mit Mehrwertsteuererhöhung, Kürzung der Pendlerpauschale und Lockerung des Kündigungsschutzes haben wir den Wählern einfach zu viel zugemutet." Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers warnte seine Partei davor, Geringverdiener zu vernachlässigen. "Die CDU muss aufpassen, dass bei ihrer Politik wirtschaftliche Kompetenz und soziale Gerechtigkeit beieinander bleiben."

Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger forderte Merkel unterdessen zu Härte in den Sondierungsgesprächen mit der SPD auf. Er wolle Merkel in den kommenden Tagen einen Vier-Punkte-Plan zukommen lassen, den die Sozialdemokraten aus seiner Sicht akzeptieren müssten, sagte Oettinger der "Financial Times Deutschland". "Nur wenn über diese Punkte Klarheit herrscht, darf es Koalitionsverhandlungen geben", sagte Oettinger.

Union und SPD müssten sich darüber einig werden, dass eine große Koalition eine Föderalismusreform auf den Weg bringe, die Entbürokratisierung vorantreibe und die Gesetzgebung bei Arbeitsrecht, Erbschaftsteuer und Einkommensteuer den Bedürfnissen des Mittelstands anpasse, sagte Oettinger. Darüber hinaus müsse eine schwarz-rote Regierung mehr Mittel für die Verkehrsinfrastruktur bereitstellen.

Eine Föderalismusreform hätte unter einer Großen Koalition in Berlin bessere Chancen als bisher, sagte Oettinger. Allerdings müssten die Länder rechtzeitig einen neuen Vertreter für die Verhandlungen mit dem Bund bestellen. Wenn der CSU-Vorsitzende und bisherige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber Minister in einem Kabinett Merkel werde, stehe er auf der Seite der Bundesregierung. Oettinger sagte, er selbst stehe wegen der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 26. März 2006 nicht zur Verfügung.

Die Verhandlungen über eine Föderalismusreform waren im Dezember 2004 am Streit über die Bildungspolitik gescheitert.


 


© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH



DER SPIEGEL 40/2005 - 01. Oktober 2005
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,377453,00.html

Union
 
Anleitung zum Unglücklichsein

Von René Pfister

Geschockt vom miserablen Wahlergebnis, drängen immer mehr Parteifreunde Angela Merkel zu einem Kurswechsel. Steht die CDU vor einem Linksruck?

Horst Seehofer ist wahrscheinlich der einzige Politiker Deutschlands, der sich auch über Wahlniederlagen freuen kann. Vergangenen Mittwoch um kurz nach elf, die Unionsfraktion trifft sich gerade zu einer Sondersitzung im Reichstag, hockt Seehofer in seinem Berliner Abgeordnetenbüro. Das Jackett liegt neben ihm auf einem Stuhl, auf dem Tisch steht eine Kanne Kaffee, er hat sich Zeit genommen. Der CSU-Vize will noch einmal reden über den Tag seines persönlichen Triumphs - den 18. September 2005.

Am Abend der Bundestagswahl hatte in der ganzen Union ein Wehklagen über die miserablen Zahlen angehoben. Seehofer indes war zufrieden: Bei einem furiosen Wahlsieg Angela Merkels hätte er sich als schärfster Kritiker der CDU-Vorsitzenden wohl aufs politische Altenteil zurückziehen müssen. Nun war er zurück im Spiel.

Sogar CSU-Chef Edmund Stoiber meldet sich inzwischen wieder auf seinem Handy. "Ich stelle mit tiefer Befriedigung fest, dass die Wähler allen Scharfmachern ein Stoppschild gesetzt haben", sagt Seehofer.

Seine Widersacherin Dr. rer. nat. Angela Merkel hatte im Wahlkampf einen einmaligen Versuch gewagt: Nicht höhere Renten und steigendes Kindergeld versprach sie den Bürgern, sondern sie predigte weniger Kündigungsschutz und sinkende Sozialleistungen.

Ein "Programm der Ehrlichkeit" nannte sie ihr Wahlmanifest, und die ganze Union beglückwünschte sich zu ihrem Mut - von einem "Gegenmodell zum Märchenprogramm der SPD" sprach Bayerns Ministerpräsident Stoiber.

Zwei Monate und eine Bundestagswahl später sieht sich nicht nur Sozialexperte Seehofer in seiner kritischen Haltung bestätigt - inzwischen lesen auch viele andere Unionspolitiker das Regierungsprogramm vor allem als Anleitung zum Unglücklichsein.

Quer durch die Partei zieht sich der Unmut: "Mit Mehrwertsteuererhöhung, Kürzung der Pendlerpauschale und Lockerung des Kündigungsschutzes haben wir den Wählern einfach zu viel zugemutet", sagt Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach: "Die von uns geplanten Entlastungen kamen im Wahlkampf kaum vor." Und Gerald Weiß, Chef der Unions-Arbeitnehmergruppe im Bundestag, beklagt mangelnde Sensibilität: "Dem Programm hat die Wärme gefehlt."

Zu emotionslos, zu hart, zu ehrlich, heißt es aus allen Ecken der Schwesterparteien, wenn die Rede auf das 39-seitige Papier kommt - es habe auf die flatterhaften Wähler gewirkt wie eine Vogelscheuche auf einen Schwarm Spatzen. Vor allem die CSU-Oberen und die CDU-Sozialpolitiker verlangen, dass Merkel ihren Reformkurs aufweicht. Wenn sie in den Wahlanalysen der Forschungsinstitute blättern, dann fürchten sie um den Charakter der Union als Volkspartei.

Kaum eine Gruppe hat sich so stark von der Union abgewendet wie die Arbeiter, 7 Prozentpunkte verlor die Partei im Vergleich zur Wahl 2002 bei dieser Klientel. Und die CSU ist in Aufruhr, weil sie in Bayern lediglich 49,3 Prozent geholt hat. Nun fürchtet sie um ihre absolute Mehrheit im Land. Denn ohne Alleinherrschaft im Münchner Parlament - und das ist jedem Christsozialen völlig klar - sinkt die Bedeutung der Partei auf Provinzniveau ab.

Immer lauter werden nun Konsequenzen gefordert. Am vorvergangenen Freitag traf sich der Bundesvorstand der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) in Hannover zur Wahlanalyse. CDA-Chef Karl-Josef Laumann war gereizt. Der gelernte Maschinenschlosser liebt kurze klare Sätze und kam gleich zur Sache.

Merkel habe beim Verfassen des Wahlprogramms Kernforderungen der CDA in den Wind geschlagen, das sei ein entscheidender Fehler gewesen, sagte er.

Wenige Tage vor der Veröffentlichung des Wahlprogramms habe er der Parteichefin noch eigens einen Brief mit der Bitte geschrieben, ältere Arbeitnehmer mit vielen Beitragsjahren schon 63-jährig in Rente gehen zu lassen - vergebens. Auch ein höheres Kindergeld habe die CDU-Spitze abgelehnt, klagte Laumann.

Am Ende der vierstündigen Debatte ist sich die 50-köpfige Runde einig, dass es Merkel mit ihrem Reformehrgeiz übertrieben habe. Die Partei, so die einhellige Meinung, müsse wieder sozialer werden. "Wir haben durchaus noch Potential nach unten", sagt der stellvertretende CDA-Chef Christian Bäumler düster. Die Pläne der Parteispitze zum Abbau des Kündigungsschutzes wollen die CDA-Politiker nicht mehr mittragen.

"Wir haben die Herzen der Menschen nicht erreicht", bilanziert Laumann ernüchtert den Wahlkampf. Er will nun die Interessen der CDA wieder stärker unionsintern vertreten - notfalls auch gegen die Parteiführung: "Diejenigen, die über die Entsozialdemokratisierung der CDU gejubelt haben, wachen jetzt in einer Großen Koalition auf."

Merkels Plan, eine schonungslose Wahlanalyse erst nach den Koalitionsverhandlungen durchzuführen, ist nicht aufgegangen. Es sei jetzt "Kampfauftrag" der Union, Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt zu jagen, gab sie unlängst die Parole aus, alle müssten sich diesem Ziel unterordnen. Doch es rumort in der Partei. Viele wollen sich der Order nicht fügen.

"Die CDU muss aufpassen, dass bei ihrer Politik wirtschaftliche Kompetenz und soziale Gerechtigkeit beieinander bleiben", sagt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der Merkels Reformkurs von Anfang an mit Skepsis verfolgt hat. "Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in Nordrhein-Westfalen bin ich", hatte Rüttgers noch im Mai verkündet, als er gerade die Landtagswahl gewonnen hatte. Sein Wahlkampf war das Gegenteil zur Ehrlichkeitsoffensive Merkels gewesen. Mit einem wolkigen Programm und scharfen Attacken auf die SPD-Regierung hatte er bei der Landtagswahl 44,8 Prozent geholt, jetzt ist die NRW-CDU auf 34,4 Prozent abgerutscht - das zweitschlechteste Ergebnis seit 1949.

Auch in der CSU wird die Diskussion über die Gründe der Wahlniederlage immer lauter. Die Führung der Christsozialen ist sich einig, dass Merkels zahlenlastige Kampagne ein Fehler war: "Wir haben einen zu nüchternen, kühlen Wahlkampf geführt", sagt der bayerische Innenminister Günther Beckstein, und Landtagspräsident Alois Glück assistiert: "Die Balance zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Kompetenz hat gefehlt."

Parteiintern wird vor allem Generalsekretär Markus Söder und Staatskanzleichef Erwin Huber die Schuld angelastet. Beide haben auf CSU-Seite das Wahlprogramm ausgearbeitet, Huber lobte sein Werk überschwänglich: "Das Programm wird spannend wie ein Krimi, realistisch wie ein Dokumentarfilm, erhellend und aufbauend zugleich." Das Zitat hängt ihm nun wie ein Mühlstein am Hals. Beim Gerangel um die Nachfolge von Stoiber als bayerischer Ministerpräsident gilt inzwischen Beckstein als Favorit, auch wenn Huber seinem Kabinettskollegen den Posten nicht kampflos überlassen will.

Auch den sonst so selbstbewussten Stoiber hat die Wahlschlappe ins Grübeln gebracht. Er müsse einräumen, dass das Unionsprogramm die Bürger eher verschreckt habe, gestand er unlängst vor Vertrauten: "Ich muss ehrlich sagen, dass ich das nicht erwartet hätte."


© DER SPIEGEL 40/2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH



SPIEGEL ONLINE - 01. Oktober 2005, 16:22
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,377672,00.html

Wahlkampfkritik
 
Weißblaue Giftpfeile gegen Angela Merkel

Harsche Kritik aus Bayern an CDU-Chefin Merkel: Die CSU beurteilt das Profil der Union als zu wirtschaftsfreundlich. CSU-Vorstandsmitglied Beckstein fordert einen sozialeren Kurs, der Sozialpolitiker Strebl spricht von Merkel als einer "Kandidatin, die viele von uns nicht wollten".

Berlin - CDU und CSU sollten programmatisch mehr über die Grenzen der Privatisierung, der Deregulierung und des Wettbewerbs reden, um bei Wählern berechenbarer zu wirken, sagte Günther Beckstein der "Welt am Sonntag". Auch bei der Krankenbetreuung sei nicht primär darauf zu achten, ob sie sich wirtschaftlich rechne. Sie müsse "vor allem effektiv helfen auch wenn das viel kostet", so Beckstein. Die Union müsse Distanz halten zu einer "Begriffsumwertung", nach der Gemeinsinn plötzlich als schlecht gelte, Egoismus als gut und der Staat nur als Übel wahrgenommen werde. Dies sei ein "Ausfluss angloamerikanischen Denkens".

Um den christlich-sozialen Gedanken zu vertreten müsse "ein prominenter Sozialpolitiker der Union" in das nächste Bundeskabinett, sagte der bayerische Innenminister. Er bezeichnete den CSU-Politiker Horst Seehofer als "sicher gut geeignet".

Seehofer selbst bekräftigte seine Ambitionen. "Ich bin bereit, wenn ich gerufen werde", sagte er laut "Bild am Sonntag". Eine Präferenz für ein Ressort ließ der frühere Gesundheitsminister nicht erkennen: "Ich bin dazu erzogen, zu essen, was auf den Tisch kommt." Seehofer plädierte auch dafür, den CDU-Finanzexperten Friedrich Merz in ein schwarz-rotes Kabinett zu berufen. "Wir brauchen in einer großen Koalition die besten Leute. Niemand wird bestreiten, dass Friedrich Merz auf dem Feld der Finanz- und Wirtschaftspolitik unser stärkstes Pferd ist."

Bei der Ressortverteilung müsse die Union darauf achten, dass sie nicht allein für Wirtschaftsinteressen zuständig sei und "die SPD die Schutzmacht der kleinen Leute ist", betonte Seehofer. "Sie muss eines der Sozialministerien bekommen, also entweder das Arbeits-, das Familien oder das Gesundheitsministerium. Das gehört zur inneren Balance." Sowohl Seehofer als auch Merz hatten sich in der Auseinandersetzung über Reformprojekte mit CDU-Chefin Angela Merkel zerstritten und sich vom stellvertretenden Vorsitz der Unionsfraktion zurückgezogen.

CSU-Sozialpolitiker Matthäus Strebl übte massive Kritik an Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Er machte sie persönlich für das schlechte Abschneiden von CDU und CSU bei der Bundestagswahl verantwortlich. Strebl sagte der "Leipziger Volkszeitung", Merkel habe im Wahlkampf die christlich organisierten Arbeitnehmer ignoriert. "Die Union hat sich ohne soziale Seele, mit vielen handwerklichen Fehlern und mit einer Kandidatin gezeigt, die viele von uns nicht wollten", sagte der Chef des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands, der den Wiedereinzug in den Bundestag verpasste. Merkel müsse sich fragen, ob sie überhaupt noch eine Kanzlerkandidatin von Gewicht sei, wenn sie im eigenen Stammland Mecklenburg-Vorpommern die CDU nicht einmal auf 30 Prozent gebracht habe.

Es sei entweder naiv oder ein Beleg für schwere handwerkliche Fehler, wenn die Union glaube, mit "Anti-Arbeitnehmer-Themen" wie Eingriffen beim Kündigungsschutz oder dem Wegfall der Kilometerpauschale und mit Steuersenkungen für Bessergestellte eine Mehrheit überzeugen zu können. Als katastrophal für die Stimmung habe sich schließlich die Berufung des Steuerexperten Paul Kirchhof in das Wahlkampfteam der Union erwiesen. Auch CSU-Chef Edmund Stoiber trage eine große Mitverantwortung für das schlechte Abschneiden der Union. Die CSU-Spitze habe es versäumt, das soziale Profil der Schwesterparteien herauszustellen.
 


© SPIEGEL ONLINE 2005
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH