SPIEGEL ONLINE - 27. September 2005, 06:16
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Israel
 
Scharon gewinnt Machtkampf gegen Netanjahu

Israels Regierungschef Scharon hat den parteiinternen Machtkampf gegen Ex-Minister Netanjahu um die Likud-Führung für sich entschieden. Die Partei lehnte vorgezogene Neuwahlen um das Amt des Vorsitzenden ab. Israel setzte in der Nacht seine Luftangriffe auf den Gaza-Streifen fort.

Tel Aviv - Von den 2789 anwesenden Mitgliedern des Zentralkomitees stimmten 1433 gegen eine vorgezogene Neuwahl, 1329 votierten dafür. Das Gremium und stellte sich damit hinter Regierungschef Ariel Scharon. "Das Ergebnis steht endgültig fest. Scharon hat gewonnen", sagte Likud-Sprecher Schmulik Sisso. Benjamin Netanjahu räumte seine Niederlage ein.

"Der Antrag auf vorgezogene Neuwahlen im November ist abgelehnt", verkündete der Vorsitzende des Zentralkomitees, Tsahi Hanegbi, am späten Abend das Ergebnis. Die Beteiligung an der Abstimmung lag bei über 91 Prozent. Dem Komitee gehören insgesamt 3050 Mitglieder an.

Netanjahu wollte die Likud-Partei bereits im November abstimmen lassen, Scharon dagegen erst im April. Mit dem Schachzug wollte sich Netanjahu den Unmut vieler Likud-Mitglieder über den Abzug aus dem Gaza-Streifen und die darauf folgende Gewalt zunutze machen, der im nächsten Jahr wieder verflogen sein könnte.

Natanjahu sagte, er akzeptiere die "demokratische Entscheidung". Betont kämpferisch fügt er hinzu, dass er von einem Erfolg seiner Unterstützer im Likud bei den nun für April geplanten Wahlen um das Amt des Parteichefs ausgehe. Dann bestimmen mehr als 100.000 Likud-Mitglieder den neuen Parteivorsitzenden, der auch der Kandidat für das Amt des Regierungschefs sein wird. Im November kommenden Jahres wird in Israel ein neues Parlament gewählt.

Mit dem Votum für Scharon wendete der Likud auch eine Verschärfung der Parteikrise ab, andernfalls hätte eine Abspaltung gedroht. Beobachter rechneten damit, dass Scharon nach seiner Entmachtung eine neue Partei gegründet hätte.

Die israelische Armee nahm unterdessen in der Nacht weitere 80 mutmaßliche militante Palästinenser im Westjordanland festgenommen. Eine israelische Armeesprecherin sagte, es handele sich um Mitglieder der radikalen Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad.

Insgesamt sind seit Beginn der israelischen Militäroperation "Erster Regen" gegen die militanten Palästinensergruppen am Sonntag knapp 380 mutmaßliche Aktivisten festgenommen worden. Unter den Festgenommenen sind auch politische Anführer der Gruppen. Der Einsatz begann, nachdem aus dem vor zwei Wochen von der Armee geräumten Gazastreifen Dutzende von Raketen auf israelische Grenzorte abgefeuert worden waren.

Die Armee setzte am frühen Morgen auch ihre Angriffe auf Ziele im Gaza-Streifen fort. Wie die israelische Tageszeitung "Haaretz" in ihrer Internetausgabe berichtete, beschossen Kampfhubschrauber Stellungen militanter Palästinenser, von denen aus Raketen auf Israel abgefeuert worden seien. Die US-Regierung appellierte an Israel, die möglichen Folgen ihrer Offensive für den Friedensprozess zu bedenken.

US-Außenamtssprecher Sean McCormack warnte gestern in Washington vor einer Gefährdung des "von allen geteilten Gesamtziels - zwei Staaten, die Seite an Seite in Frieden leben". Er bestätigte zugleich, dass US-Regierungsbeamte in Kontakt mit ihren israelischen und palästinensischen Kollegen stünden, um sicher zu stellen, dass die Lage nicht eskaliere.

Zuvor hatte bereits die französische Regierung Israel zur Zurückhaltung aufgerufen. Zwar habe Israel das Recht, sich gegen palästinensische Übergriffe zu verteidigen, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Jean-Baptiste Mattéi, in Paris. Es müsse aber vermieden werden, dass die Bemühungen der palästinensischen Führung um mehr Sicherheit "zunichte gemacht werden".

Die jordanische Regierung verurteilte die israelischen Angriffe auf Ziele im Gaza-Streifen. Gleichwohl werde König Abdullah II. an seinen Plänen festhalten, Israel schon "in Kürze" zu besuchen, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Marwan Muasher am Montag in Amman. Dabei wolle der König versuchen, die Gewalt zu stoppen und "Gräben zu überbrücken". US-Präsident George W. Bush hatte Abdullah II. bei einem Besuch in Washington in der vergangenen Woche um Vermittlung gebeten.

Nach palästinensischen Angaben wurde bei den israelischen Angriffen am frühen Morgen eine Brücke nahe der Ortschaft Bet Chanun zerstört. Berichte über Verletzte gab es zunächst nicht. Die israelische Armee berichtete von drei Angriffszielen im Norden des Gaza-Streifens. Dabei habe es sich um Zufahrtswege gehandelt, von denen aus militante Palästinenser Raketen auf Israel abgefeuert hätten.

Die Armee hatte am Wochenende wegen palästinensischer Raketenangriffe auf den Süden Israels eine Offensive im Gazastreifen begonnen. Auch am Montag feuerten Palästinenser wieder Raketen und Mörsergranaten auf israelische Grenzorte. Im Westjordanland nahm die Armee nach eigenen Angaben mehr als 80 mutmaßliche Mitglieder der radikalen Gruppen Hamas und Islamischer Dschihad fest.
 


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