SPIEGEL ONLINE - 19. September 2005, 14:15
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Koalitionsvarianten
 
Von Jamaika bis Neuwahl

Nach dem Patt der Lager gibt es verschiedene Koalitionsvarianten zu einer Regierungsbildung. Die Union bevorzugt die Jamaika-Koalition, die SPD dagegen die Ampel. Doch die kleinen Parteien spielen nicht mit.

Hamburg - Die einfachste Variante ist rein rechnerisch die Große Koalition. Koalitionsgespräche gelten jedoch als extrem schwierig, nicht zuletzt nach einem Wahlkampf, in dem die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gegensätze stark herausgestellt wurden. Angesicht höchst unterschiedlicher Vorstellungen von den Arbeitnehmerrechten bis zur Gesundheitsreform würden die Verhandlungen vermutlich wochenlang dauern.

Zudem schließt Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) trotz des Vorsprungs der Union eine solche Koalition unter Führung von CDU-Chefin Angela Merkel aus. Sollte diese und alle anderen Varianten scheitern, dann könnte noch der Versuch unternommen werden, eine große Koalition mit anderen Personen an der Spitze zu bilden - etwa mit dem nordrhein-westfälischen SPD-Politiker Peer Steinbrück und dem hessischen CDU-Regierungschef Roland Koch.

Die Union hat die Jamaika-Koalition, ein auch "Schwampel" genanntes Bündnis mit FDP und Grünen, zu ihrem bevorzugten Modell erklärt. Im Prinzip sind alle Beteiligten zu Gesprächen bereit, doch dürfte die Variante wegen unüberbrückbar erscheinender Differenzen zwischen den Grünen auf der einen Seite und Union und FDP auf der anderen Seite wenig Aussicht auf Erfolg haben.

Schon beim Energie- und Atomkurs sind die Grünen auf einer völlig anderen Linie, in der Gesundheits- und Sozialpolitik liegen die Positionen weit auseinander und auch bei außenpolitischen Fragen wie einem EU-Beitritt der Türkei. Grünen-Minister wie Jürgen Trittin hatten denn auch schon vor der Wahl kategorisch ausgeschlossen, dass sie mit FDP-Chef Guido Westerwelle an einem Kabinettstisch sitzen könnten. Auch Teile der grünen Basis dürften rebellieren, wenn ein solches Bündnis ernsthaft angestrebt würde.

Die SPD will eine Ampel-Koalition mit Grünen und FDP erzwingen - nur die Liberalen wollen nicht. Westerwelle und die gesamte FDP-Spitze haben sich schon vor der Wahl und auch heute wieder so eindeutig gegen Gespräche mit der SPD und gegen eine Ampelkoalition festgelegt, dass es schwierig werden dürfte, von diesen Vorgaben wieder abzurücken. Teile der liberalen Basis könnten sich dies hingegen durchaus vorstellen.

Inhaltlich liegen vor allem die Positionen in der Wirtschafts-, Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zwischen SPD und FDP weit auseinander. In der Innen- und Rechtspolitik wäre eine rasche Einigung eher möglich. Die SPD setzt darauf, dass die Liberalen mit einer Regierungsbeteiligung inklusive einiger Ministerämter doch noch geködert werden könnten. Sollten alle anderen Konstellationen scheitern, dann könnte die FDP doch noch einmal neu nachdenken.

Sowohl die SPD als auch die Union könnten theoretisch auch eine Minderheitsregierung wagen. Schröder oder Merkel könnten in geheimer Abstimmung im Bundestag darauf setzen, dass entweder Vertreter der Linkspartei oder der FDP für den SPD-Kanzler oder Vertreter der SPD und Grünen für eine CDU-Kanzlerin votieren. Beim ersten Wahlgang hat Bundespräsident Horst Köhler das Vorschlagsrecht, im zweiten Wahlgang hat ein Viertel der Mitglieder im Bundestag dieses Recht, wobei dann Schröder und Merkel nacheinander zur Wahl antreten könnten.

Im dritten Wahlgang ist die einfache Mehrheit ausreichend; beide könnten gegeneinander antreten, gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Bei einfacher Mehrheit könnte Köhler den Bundestag aber auch auflösen. Die Dauer einer Minderheitsregierung ohne stabilen Rückhalt dürfte ohnehin höchst begrenzt sein - dann kämen wohl erneut Neuwahlen. Als ausgeschlossen gilt derzeit die Möglichkeit, dass sich eine rot-grüne Minderheitsregierung von der Linkspartei tolerieren lässt. Deren Spitzenkandidat Oskar Lafontaine ist bei SPD und Grünen so verhasst, dass schon ein Gespräch unmöglich scheint.
 


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SPIEGEL ONLINE - 19. September 2005, 15:37
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Regierungsbildung
 
Köhler will sich nicht einmischen

Horst Köhler machte den Weg frei für Neuwahlen - jetzt könnte er auch bei der Regierungsbildung eine entscheidende Rolle spielen. Da sowohl Merkel als auch Schröder die Kanzlerschaft beanspruchen, sehen Verfassungsexperten die Stunde des Staatoberhaupts heranrücken. Aber der Bundespräsident will sich nicht einmischen.

Berlin/Karlsruhe/Köln - Nun seien die Parteien am Zuge, hieß es heute aus dem Bundespräsidialamt zu den Koalitionsdebatten der Parteien. Der Verfassungsrechtler Jörn Ipsen hatte Köhler zum Eingreifen aufgefordert. "Im Grunde ist jetzt die Stunde des Bundespräsidenten", sagte Ipsen der "Neuen Osnabrücker Zeitung": Köhler habe das Recht, mit den einzelnen Fraktionen Gespräche zu führen, um dem Bundestag einen mehrheitsfähigen Kandidaten vorzuschlagen. Aufgrund der neuen Konstellation im Bundestag hätten sich die Gewichte zwischen den Gewalten verschoben, sagte Ipsen.

Auch der Staatsrechtler Wolfram Höfling sagte, Köhler müsse denjenigen als Kanzler oder Kanzlerin vorschlagen, dem er die größten Chancen zutraue, eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Einen rechtlichen Anspruch auf die Kanzlerschaft oder die Regierungsbildung könnten weder Schröder noch Merkel aus dem Bundestagswahlergebnis ableiten.

Am Wahlabend hatten die beiden Spitzenkandidaten Gerhard Schröder und Angela Merkel jeweils die Regierungsbildung für sich beansprucht. Die CDU-Chefin begründete dies damit, dass die Union die stärkste Fraktion stelle. Schröder verwies darauf, dass sich die Unionsfraktion aus zwei Parteien, CDU und CSU, zusammensetze und die SPD daher die stärkste im Bundestag vertretene Partei sei.

Beide Argumente seien "durch die Verfassung nicht legitimiert", sagte Höfling. Formal gesehen spielten im parlamentarischen Prozess zwar nur die Fraktionen und nicht die Parteien eine Rolle, darauf komme es aber letztlich nicht an. Der Vorschlag des Bundespräsidenten sei "eine politische Entscheidung", bei der durchaus auch die Parteienkonstellation eine Rolle spielen könne, betonte der Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität Köln.

Als Beispiel erinnerte Höfling an die Bildung der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) 1969. Damals hatten sich Brandt und der FDP-Vorsitzende Walter Scheel in einem "Nachtgespräch" auf eine Zusammenarbeit geeinigt. Daraufhin hatte der Bundespräsident Brandt als Kanzler vorgeschlagen, obwohl die SPD nicht die stärkste Fraktion stellte.

Auch der Mannheimer Staatsrechtler Wolf-Rüdiger Schenke sieht den Bundespräsidenten im Fall einer ergebnislosen Suche nach einer Regierungsmehrheit in einer entscheidenden Rolle. "Wenn Unklarheit über die Mehrheitsverhältnisse herrscht, dann ist es die politische Entscheidung des Bundespräsidenten, dem Bundestag einen Kanzler vorzuschlagen", sagte Schenke. Dabei sei er nicht daran gebunden, den Spitzenkandidaten der stärksten Fraktion zu benennen. "Das ist nur ein Gesichtspunkt." Bundespräsident Köhler sollte Schenkes Ansicht nach in einer solchen Situation den Kandidaten benennen, der die beste Aussicht auf eine Kanzlermehrheit hat.

Schröders Argument, die Sozialdemokraten seien als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen, hält Schenke für "spitzfindig und unhaltbar". Die beiden Unionsparteien seien gemeinsam aufgetreten und bildeten eine Fraktionsgemeinschaft, weshalb sie unzweifelhaft vor der SPD lägen. Eine Pflicht des Präsidenten, einen bestimmten Kandidaten vorzuschlagen, besteht nach Ansicht des Staatsrechtlers nur, wenn sich für ihn in den Koalitionsverhandlungen eine klare Mehrheit herausschält.

Schenke hat im "Bonner Grundgesetzkommentar" den einschlägigen Artikel 63 bearbeitet. In dem Artikel heißt es: "Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt." Der Mannheimer Jurist hatte kürzlich im Prozess um die vorgezogene Bundestagswahl den Grünen-Abgeordneten Werner Schulz vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten.

Politologen glauben an Neuwahlen

Wegen der unklaren Lage nach der Bundestagswahl schließt der Politologe Jürgen Falter Neuwahlen nicht aus. Es sei "sehr unwahrscheinlich", dass eine Ampelkoalition von SPD, FDP und Grünen gelinge, sagte Falter am Montag den NRW-Lokalradios. Daher könnte Schröder in einem komplizierten Verfahren wiederum Neuwahlen erzwingen. Voraussetzung dafür wäre laut Falter, dass Merkel in den ersten beiden Abstimmungsrunden im Bundestag durchfällt und Schröder in der dritten Runde auch mit Unterstützung der Linkspartei gewählt wird, ohne eine Koalition einzugehen. Wenn dann sein erstes Gesetzesvorhaben, der Haushalt, scheitern würde, könnte Schröder die Auflösung des Bundestags und Neuwahlen vorschlagen. Dann könnte im Januar neu gewählt werden.

Auch der Berliner Politikwissenschaftler Niels Diederich geht von Neuwahlen aus. Da sowohl Schröder als auch Merkel das Kanzleramt beanspruchten, werde die Wahl des Regierungschefs im Bundestag scheitern, sagte er der "Netzeitung". Danach könne der Bundespräsident das Parlament erneut auflösen und Neuwahlen ansetzen. Dies sei Schröders Kalkül, wenn er wie am Wahlabend auf dem Recht zur Regierungsbildung beharre, obwohl die SPD weniger Stimmen erhielt als die Union, sagte Diederich. "Schröder setzt alles auf eine Karte, strategisch läuft das genau darauf hinaus."
 


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