SPIEGEL ONLINE - 14. September 2005, 17:13
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Wahlblogs
 
Alles viel zu wichtig

Von Frank Patalong

Heute schon ein politisches Blog gelesen? Falls nicht, gehören Sie zur absoluten Mehrheit der deutschen Internet-Nutzer. In der Wahrnehmung der Medien jedoch stehen die Blogs ganz oben. Das haben sie aus etlichen Gründen (noch) nicht verdient.

Obwohl seit Jahren kaum ein Internet-Thema so viel Niederschlag in den Medien gefunden hat, von Politikern, Journalisten und natürlich den Bloggern selbst so stark thematisiert wurde wie die "Blogosphäre", in der jedermann frei publizieren kann, ist sowohl das Schreiben als auch das Lesen von Weblogs in Deutschland nach wie vor eine Minderheiten-Beschäftigung.

Man kann sich fragen, warum das so ist.

Der Gedanke ist doch außerordentlich reizvoll: Die neue, kostenlose Blogging-Software im Verbund mit einer ganzen Reihe kostenloser Angebote, wo man ein Blog hinterlegen kann, machen es für jedermann möglich, weltweit lesbar zu publizieren. Damit nicht genug. Jeder Beitrag kann durch die Kommentierungsfunktionen der Blog-Software zum Auslöser einer lebendigen Diskussion werden. Das klingt für manche nach Stammtisch, für andere nach der Wiederkehr des Forums: Dort sollen die Erfinder der Demokratie einst in freier Diskussion die Richtung der Politik mitbestimmt haben.

Zum Forum im antiken Athen gibt es übrigens noch eine augenfällige Parallele: Dort traf sich mitnichten das Volk, um seine Geschicke zu bereden, sondern die vermögende männliche Elite. Die sieht heute so aus: "So sind 50 Prozent der befragten 34 Jahre und jünger, knapp 80 Prozent sind männlich und verfügen über Hochschulreife bzw. ein abgeschlossenes Studium."

Der Satz beschreibt die Nutzerschaft politischer Blogs im Vorfeld zur Bundestagswahl 2005, wie sie der Politologe Roland Abold in seiner Studie "Wahlkampf in der Blogosphäre" erfasst hat.

Großer Zirkus, wenig Publikum?

Diese Web-Nutzer seien überdurchschnittlich Internet-affin, politikinteressiert und ganz und gar nicht zahlreich: "Auch im Jahre 2005 werden die Möglichkeiten der internetbasierten Kommunikation und Artikulation nur von einer kleinen Gruppe der Bürger intensiv genutzt." Selbst innerhalb der Gruppe der "politisch stark Interessierten", die Abold über eine Online-Befragung unter Blog-Nutzern erfasste, machten nur "etwa ein Viertel der Befragten regelmäßig von den Möglichkeiten des Internet als Diskussionsmedium Gebrauch". Trotzdem kommt er zu dem Fazit, dass sich politische Weblogs "als wichtige Form des internetbasierten Meinungs- und Informationsaustausches etabliert" hätten.

Das sieht auch der Kommunikationswissenschaftler Jan-Hinrik Schmidt so, der sich seit rund eineinhalb Jahren sowohl akademisch als auch bloggend mit dem Thema befasst.

Seiner Meinung nach beruht die Bewertung von Blogs anhand ihrer Leserzahlen auf einem Missverständnis: Schließlich würden Blogs nicht nur von Multiplikatoren geführt, die Meinung und Nachricht verbreiten, sondern erreichten eben auch wieder vornehmlich Multiplikatoren. Im Klartext: Ihre relative Wichtigkeit im öffentlichen Diskurs liege gerade auch darin begründet, dass Blogs eben nicht "Massenmedium" seien, sondern Forum von Meinungsaustausch innerhalb besonders interessierter oder qualifizierter Gruppen. Weil das so sei, fänden bestimmte Blogs eben auch eine überproportionale Wahrnehmung in Kreisen der Politik und der Medien.

Wie groß die Blogging-Öffentlichkeit tatsächlich ist, machen die Blogs selbst erst seit relativ kurzer Zeit öffentlich. Der "Schwanzvergleich" bei Blogcounter.de veröffentlicht in Form einer Top 100-Liste die Logstatistiken führender Blogs. Das Bildblog etwa, wahrscheinlich Deutschlands bekanntestes Medienblog, kam am Dienstag, 13. September, auf fast 32.000 Visits und fast 55.000 Seitenaufrufe und ist damit Spitzenreiter.

Das ist relativ viel: Vergleicht man die Zahl mit der IVW-Liste, die die monatlichen Logstatistiken zahlreicher deutscher Medientitel erfasst, wird die Dimension klar.

Von wegen "klein"

Erfolgreiche Blogs wie Bildblog kicken demnach längst in einer Liga mit großen regionalen Zeitungstiteln, bekannten Zeitschriften und populären Beratungsseiten. Hochgerechnet auf einen Monat kann sich Bildblog mit Titeln wie "Cinema", der Frauenzeitschrift "Amica", dem "General Anzeiger Bonn", dem "PC Magazin", der "Schwäbischen Zeitung" oder dem Handy-Portal Xonio messen. Das mag nicht die allererste Garde der erfolgreichen Online-Publishing-Titel sein, doch es ist bereits die zweite Reihe: Die bei weitem meisten Lokal- und Regionalzeitungen können von den Besucherzahlen, die Bildblog erntet, nur träumen.

Die Polit-Blogs allerdings auch. In den Top 100 findet sich das erste ausgewiesene politische Blog auf Platz 32, das in den Medien hoch prominente Lautgeben.de brachte es am 13. September mit knapp über 700 Visits gerade mal auf Platz 41.

Auf der anderen Seite haben sich im Online-Publishing Titel etabliert, die sie auch in den Augen der Politik zu echten Massenmedien machen. "Bild" mit seinen 31 Millionen Visits im August gehört dazu, "Focus" (13 Millionen), Heise Online (fast 21 Millionen) oder RTL (25 Millionen). Bei ihnen laufen Artikel, die im Extremfall in 15 Minuten so viele Aufrufe erleben können, wie das Bildblog insgesamt am Tag (SPIEGEL ONLINE erzielte im August 53 Millionen Visits).

In der Quotenwelt der Politik lässt das die Blogs nahezu verschwinden.

Zwar nutzen die Parteien das Format der Blogs für eigene Veröffentlichungen, aber nur selten kann das überzeugen. Zwar, konstatierte das "Handelsblatt" vor einigen Tagen, sei die Zahl der bloggenden Politiker groß (über 100), "die Masse der langweilenden Volksvertreter" allerdings auch. Da gibt es Politiker, die Blogs anlegen und dort gerade einmal einen Link zur bestehenden Webseite hinterlegen. Viele andere lassen das Blog gleich ganz leer.

Und selbst bei denen, die es zumindest pro forma versuchen, ist oft nicht viel Verständnis fürs Format zu finden: Auf ihren Seiten landen gerne allgemeinverbindliche, salbungsvolle Mitteilungen aus der PR-Abteilung - genau das, was Blog-Leser nicht sehen wollen. Die Attraktivität der von den Parteien veröffentlichten Seiten ist dementsprechend gering.

Jan-Hinrik Schmidt hat dafür eine einfache Erklärung. "So was schreckt die Blog-Leser eher ab. Die haben dann schnell das Gefühl: Hey, hier soll ich nur manipuliert werden." Denn was ein Blog ausmacht, sei in erster Linie die Authentizität der Beiträge: subjektive Stimmen und Urteile, wie man sie in etablierten Medien weder von Politikern noch von Journalisten oft zu sehen bekomme.

Im Blog ist die subjektive Sicht also eine Tugend.

Warum auch nicht? Immerhin ist das ehrlich. Die so lange gepflegten hehren journalistischen Tugenden einer durch Stilformen und Handwerksregeln definierten Objektivität - Kommunikationswissenschaftler reden hier von einer "hergestellten" Objektivität - waren nie frei von Selbstbetrug.

Das "Ich" ist Trend

Journalisten verstanden sich immer auch als "Gatekeeper", die darüber entscheiden, was alles aus dem unfassbar großen Nachrichtenstrom letztlich in Zeitung oder Nachrichtensendung landen soll; als "Agenda Setter", die entscheiden, welche Themen wichtig sein sollen und welche nicht. Und das alles, während sie sich als handelnde Person hinter einer Objektivität darstellenden Sprache verbergen.

Insbesondere im angelsächsischen Raum gibt es seit Jahren einen starken Trend hin zum subjektiv gefärbten Journalismus, der bis hinein in die "Ich"-Form wieder die Zeugenschaft des Berichters betont - wie in den Anfangstagen der Zeitung. Anders als in deutschen Medien wird da mit Karacho kommentiert. Wo deutsche Kommentare gerne abwägen und ausgewogen-weise am liebsten dem Leser selbst das Urteil überlassen, scheuen sich britische und US-Medien nicht, auch subjektive Urteile zu veröffentlichen, die mitunter quer zur eigentlichen redaktionellen Linie liegen. Das ist spannend und fördert die interne wie externe Debatte.

Deutschen Medien bricht da tatsächlich noch ein Zacken aus der Krone: Die meisten setzen nach wie vor auf unemotionale Sprache und Perspektive, die ihren Lesern, Zuhörern und Zuschauern nur selten auch mal eine Meinung zumutet, an der die sich reiben können.

Jetzt haben sie Konkurrenten bekommen, die freier bloggen - heißt: reden - dürfen als die meisten Journalisten in Redaktionen.

Die Selbstkritik wächst

"Qualitätsverlust und zu viel Freiheit für Journalisten und Korrespondenten lassen die Redaktionen vor einem Einsatz von Weblogs zurückschrecken", schrieb dazu Corinna Warth in ihrem Kommentar "Das Land, das sich nicht traut" bei Onlinejournalismus.de. "Deutschland macht sich wieder einmal viel zu viele Gedanken, anstatt Mut zu beweisen und zu handeln."

Aber gilt Ähnliches nicht auch für die Blogger?

Ziehen sich nicht auch sie hinter eine betonte Stilform zurück, die oftmals mit Polemik statt mit Argumenten punktet? Pflegen sie nicht die Attitüde des überlegenen, weil mit Fachwissen ausgestatteten Nicht-Involvierten, der die Informationen der angeblich parteiischen Akteure in Politik und Medien diskreditiert? Wie viel wertvolle, originäre Stimmen haben denn die so heiß erwarteten Wahlblogs zum öffentlichen Diskurs in diesem Wahlkampf beigetragen?

Leider nicht so viel wie erhofft, resümiert ernüchtert Don Alphonso, einer der bekanntesten Blogger in Deutschland: Zwar seien Angebote wie das Wahlblog oder Lautgeben besser "als die komischen Blogversuche der politischen B-Prominenz bei "Focus", AOL oder die 'Profiwahlblogger' der "SZ" und anderer Medien". Gut seien sie deshalb aber noch lange nicht; sie dürften Schwierigkeiten haben, "von normalen Zeitungen ernst genommen oder als gleichwertiges Medium akzeptiert zu werden".

Als Gründe dafür führt er unter anderem die Minderqualität vieler Beiträge an, die etwa beim Wahlblog "schlichtweg dumme Propaganda nach dem Motto 'Schröder lügt, Merkel sagt die Wahrheit'" seien. Und das setze sich dann in den Diskussionen fort: "Es ist wohl der Fluch eines jeden populäreren Blogs", schreibt Alphonso, "dass sich in den Kommentaren ein gewisses Pack breit macht, das früher in den Tiefen abstruser Foren verborgen geblieben wäre."

Das ist starker Tobak, bestätigt im Übrigen die These, dass gerade Authentizität den Wert eines Blogs ausmacht - und stellt die überzogenen Erwartungen an Wahlblogs endlich auf die Füße.

Aller Anfang ist mühsam

Was haben wir denn erwartet? Die plötzliche Medienrevolution, die die etablierten Netzwerke der Medienmarken hinwegfegen und durch die weise Stimme des Volkes ersetzen würde?

Wie denn? Auch im Land der Blogger scheiden sich langsam Spreu und Weizen, und Erfolg haben - das zeigt das Beispiel der Erfolgs-Blogger in den USA, von denen manche längst Profis und keine Hobbyschreiber mehr sind - vor allem die, die wirklich schreiben können.

Denn eine kostenlose Software allein macht noch keinen Egon Erwin Kisch, und nicht jeder, der tippen kann, kann auch schreiben - oder hat wirklich etwas mitzuteilen. Dass etwas "Blog" ist, heißt nicht automatisch, dass es auch gut ist - auch wenn "Wahl" davor steht. Wie in der "großen" Medienwelt schreibt sich ein gutes Blog nicht von allein: Es bedeutet eine Menge Fleiß und Arbeit, und das auch noch "ehrenamtlich" neben anderen Tätigkeiten.

Auch Jan-Hinrik Schmidt sieht das nüchtern. Für ihn haben sich - "ganz ohne Wertung" - "neben oder jenseits der etablierten Massenmedien" Weblogs etabliert, "in denen Stimmen zu Wort kommen, wie man sie in den professionellen Medien eben nicht zu hören bekommt". Für ihn ist das der Beginn einer Entwicklung, die in Deutschland ja erst vor rund zwei Jahren ernsthaft einsetzte. Gemessen daran hätten die Verfechter der Blogosphäre bereits viel erreicht.

Auch dass es so kommen könne wie in den USA, wo prominente Blogger längst wie einflussreiche freie Journalisten behandelt werden, würde Schmidt "sich wünschen". In den Vereinigten Staaten sei dies den Bloggern jedoch leichter gefallen, weil sie aufgrund ihrer Gesamtzahl schneller eine "kritische Masse" erreicht hätten, die ihnen Gewicht in den Augen von Politik und Medien verlieh. Das könne aber auch in Deutschland noch passieren, denn "wir sind hier auf einem Stand wie die Blogging-Szene in den USA vor zwei, drei Jahren".

Auf die Wahlblogs im nächsten Wahlkampf darf man dann wohl wirklich gespannt sein.
 


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