SPIEGEL ONLINE - 13. September 2005, 16:10
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Essay
 
Plädoyer für eine unbeliebte Regierung

Die großen Parteien lehnen die Große Koalition vehement ab. Für Parteienforscher Franz Walter hätte eine solche Allianz nach dem 18. September durchaus Vorteile. Er erklärt in SPIEGEL ONLINE, welche Chancen und Risiken sich aus einer CDU-SPD-Regierung ergäben.

Göttingen - Der Begründungsbogen für eine solche Regierungsvariante ist ganz nüchtern zu spannen. Im politischen System Deutschlands ist die Zahl der Vetomächte so groß wie nirgendwo sonst in dieser Welt. Insofern kann eine Zentralregierung in Deutschland keineswegs einfach "durchregieren". Die eine Volkspartei braucht für den gesellschaftlichen Erfolg fast durchweg die andere Volkspartei. Aber die gerade opponierende Volkspartei ist ihrerseits natürlich keineswegs am Erfolg des regierenden Pendants interessiert. Und so ereignen sich immerfort die unergiebigen Stellungskriege und taktischen Scharmützel der beiden Volksparteien um jeden Zentimeter strategischen Bodens.

Bleibt als Alternative die Große Koalition. Sie ist die zeitweise zwingende Konsequenz aus dem kooperationsdemokratisch angelegten Institutionengefüge der bundesdeutschen Republik. So wie Deutschland strukturell verfasst ist, gelingt Politik im Wesentlichen durch Konzertierung, eben dadurch, dass beide Parteien gleichermaßen am Erfolg der Zentralregierung interessiert sind.

Doch kann die SPD diese Rolle an der Seite der ungeliebten und gerade in diesen Wahlkampfwochen bekämpften "Schwarzen" überhaupt aushalten? Viele Sozialdemokraten setzen in der Tat eher auf Regeneration und Wandel ihrer Partei in der Opposition. Doch hat sich diese Transformation der deutschen Sozialdemokratie längst schon vollzogen. Die Partei hat es sich nur noch nicht hinlänglich bewusst gemacht, drückt sich bislang vor den harten Konsequenzen - und würde in der Opposition erst recht in die beliebte sozialdemokratische Selbsttäuschung und Sentimentalitätshuberein zurückfallen.

Wenn eine innersozialdemokratische Leistung von Schröder und Müntefering letztlich beeindruckt, dann ist es die, dass sie die traditionelle und fatale Kluft in ihrer Partei zwischen Phrase und Praxis geschlossen, dass sie Rhetorik und Tun synchronisiert haben. Das war lange anders. Der frühere programmatische Traum von einer ganz und gar besseren, konfliktfreien Gesellschaft blamierte stets jede Regierungspraxis, ließ die exekutiven Anstrengungen - gleichviel ob unter Scheidemann, Brandt oder Schmidt - als gering erscheinen. Das führte über etliche Jahrzehnte zu dem chronischen sozialdemokratischen Frust.

Abschied vom Proletariat

Doch hat sich die sozialdemokratische Regierungspartei in den letzten Jahren vom Glauben an historische Subjekte und geschichtliche Endziele, vom Mythos der Arbeiterklasse gelöst. Die SPD ist nicht mehr die Partei eines kühnen Sozialismus, sie hat ihre Stammmilieus keineswegs mehr zwischen Hochöfen und Zechen, ihre Funktionäre stehen nicht mehr an Drehbänken. Die SPD ist zu einer robusten antikapitalistischen Strategie, zu einem harten Konflikt mit den bürgerlichen Globalisierungseliten nicht gerüstet. Es reicht allein für ein paar empörte Sprüche gegen die "Merkelsteuer" - die natürlich eine SPD-Regierung ebenfalls künftig einführen würde - und den "Heidelberger Professor".

Es wäre absurd, wenn die Sozialdemokratie im Oktober 2005 wieder den Herbst 1997 sozialagitatorisch nachspielen würde. Dafür hat sich die SPD im Inneren - sozial, personell, programmatisch - und bei allzu großen Blessuren verändert. Ihr neuer Kern, eine beruflich angespannte, außerordentlich ergebnisorientierte Mitte erwartet keine dröhnbackigen Protestkundgebungen; sie will durch profilstarken Realismus überzeugt werden. Profil, das belegbar und überprüfbar ist, das gerade in der Erneuerung den Härtetest der Operationalisierbarkeit durchstehen muss, erhält man aber nur in der Regierung, nicht in der zwischenruffreudigen Opposition. Eben deshalb sollten die Sozialdemokraten in den wenigen Tagen, die noch verbleiben, sich zumindest subkutan auf die Große Koalition vorbereiten.

Im Übrigen: Eine Große Koalition bietet die Möglichkeit, dass gerade die sozialdemokratische Generation nach Schröder genug Raum für eine solche politische Kreativität vorfindet. Auch das wissen wir aus der europäischen Parlamentsgeschichte: Regierungen mit großer parlamentarischer Mehrheit bieten den Abgeordneten Gelegenheit für Eigensinn. Denn der Disziplinierungszwang von knappen Mehrheiten in kleinen Koalitionen entfällt dort. Die Abgeordneten von Großen Koalitionen können ihrer eigenen Regierung öffentlich widersprechen, dürfen Sondervoten abgeben, auch Gruppen bilden, um separate Meinungen zu bilden.

Nie besaßen Parlamentarier deshalb in der bundesdeutschen Geschichte einen derart großen Spielraum wie zwischen 1966 und 1969, als der Bundestag nahezu den montesquieuschen Idealzustand einer Kontrolle der Regierung durch die gesamte Legislative erreichte. Noch lange zehrte der bundesdeutsche Parlamentarismus von diesem Zuwachs an Selbstbewusstsein seiner Abgeordneten. Viel davon ist seit den neunziger Jahren nicht übrig geblieben, da gerade die jungen sozialdemokratischen Abgeordneten unter dem mitunter hysterisch hochgepeitschten Druck einer "eigenen Kanzlermehrheit" enorm kujoniert, auf Linie gebracht, politisch gleichsam nivelliert wurden.

Wie überlebt die FDP?

In einer "Großen Koalition" könnten sie dagegen ihr Projekt einer sozialen Chancengesellschaft für die Zeit nach Schröder freier fortentwickeln und zugleich dem Praxistest ausliefern, ohne - wie in der Opposition - der bequemen Versuchung zu verfallen, allein die Phrasen aus der politischen Betriebsratszeit von 1982 bis 1998 einfallslos zu reaktivieren.

Doch vielleicht kommt ja koalitionspolitisch noch alles ganz anders. Denn schließlich gibt es da in Berlin einen Mann, der am Abend des 18. September - sollte er weiter der Alte geblieben sein, so wie wir ihn unzählige Male erlebt und insgeheim bewundert haben - in der Tat für eine deftige Überraschung sorgen könnte: Gerhard Schröder. Denn als Kanzler überleben, ja triumphieren kann er einzig und allein in einer rot-grün-gelben Konstellation. Und ein bisschen ist immer noch schwer vorstellbar, dass Gerhard Schröder - sollte es arithmetisch für eine Ampel reichen - demütig vor die Mikrophone tritt, mit traurigen Augen seine Niederlage eingesteht, um sich sodann nach Hannover zu Frau und Kindern zurückzuziehen. In einem solchen Fall wäre Schröder in der Tat nicht mehr der Alte.

Der Abend könnte also anders ablaufen, als ihn viele derzeit noch antizipieren. Versuchen wir ein realistischen Szenarium: Als erstes wird wahrscheinlich ein Freidemokrat aus der zweiten Reihe, sagen wir: der wendige Herr Kubicki aus Schleswig-Hostein, gegen 19 Uhr, daran erinnern, dass das Wahlergebnis selbstverständlich auch weitere Koalitionsalternativen diesseits einer Elefantenhochzeit zulässt. Zugleich werden dann einige der in sieben harten Regierungsjahren gestählten Strategen aus der Entourage des Kanzlers Kontakt mit dem FDP-Granden aufnehmen, die nur die eine Chance hat, politisch zu überleben, wenn sie irgendwie in das Bundeskabinett dringen.

Fehlen nur noch die Grünen. Aber auch die werden sich gewohnt opportunistisch rasch auf die neue Situation einstellen und alle Schwüre, mit den sozialkalten "Neoliberalen" niemals anzubändeln, in Sekundenschnelle wieder vergessen. Denn gerade ihnen ist klar, dass andernfalls das letzte Stück Macht perdu ist.

Und so werden sie staatsmännisch erklärend vor die Kameras treten, dass jetzt alles darauf ankomme, die große Koalition der Reformblockierer zu verhindern und das Land vor Mehltau zu bewahren. Kurzum: In dieser Konstellation würde Schröder erneut Kanzler, auch wenn er abgeschlagen als Zweiter durchs Ziel käme. Der christdemokratische Sieger dagegen wäre dann unversehens zum kläglichen Loser im machtpolitischen Wettbewerb abgestürzt. Frau Merkel wäre in Bälde nicht mehr als eine hinterbänklerische Abgeordnete aus dem Wahlkreis Stralsund-Rügen.

Und dies alles sollte einem Politiker wie Schröder mit seinem vitalistischen Machtinstinkt und seiner virulenten Spielernatur nicht reizen? Für dergleichen machiavellistische Genüsse ist er schließlich irgendwann einmal in die Politik gegangen. Doch noch fehlen ihm entscheidende Prozente.

Professor Franz Walter lehrt Parteienforschung an der Universität Göttingen
 

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