DER SPIEGEL 37/2005 - 12. September 2005
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Linkspartei
 
"Es geht nur um ihn"

Von Markus Deggerich und Gunther Latsch

Gregor Gysi ist in den letzten Wochen des Wahlkampfs zum Dulder mutiert: Für seinen Traum von der Westausdehnung dient er Oskar Lafontaine - und erträgt dessen Machtanspruch.

Der Kandidat residiert im Wohnmobil: Oskar Lafontaine sitzt auf einem weißen Campingstuhl, vor ihm auf dem Klapptisch liegen Äpfel, Trauben und Hohes C im Tetrapak. Auf dem Kölner Roncalliplatz, geschützt durch Absperrgitter und seine Leibwächter, hört er mit, was der Mann auf der großen Bühne vorn so redet. Lafontaine nippt an einem Plastikbecher. Hin und wieder lächelt er.

Als Gregor Gysi fertig ist, stehen hinter der Bühne alle Parteiarbeiter auf, um zu klatschen und ihren Ostmatador zu empfangen. Nur Lafontaine bleibt sitzen. Gysi kommt die Treppe runter, alle gratulieren - er aber sucht den direkten Weg durch die Menge zu Oskar, der immer noch sitzt. Lafontaine erhebt sich erst, als Gysi direkt vor ihm steht. "Gute Rede", sagt er. Und Gysi lächelt, als hätte er gerade vom Oberlehrer eine Eins bekommen.

Das ungleiche Duo verteilte am Mittwoch vergangener Woche in Köln frohe Botschaften wie Kamellen ans Volk: weg mit Hartz IV, weg mit der Agenda 2010, weg mit den Lohnnebenkosten und ran an das Großkapital. "Wir bringen den Bundestag zum Tanzen", verspricht Lafontaine später unter dem Jubel der Zuhörer. Er lässt aber auch keinen Zweifel daran, wer bei diesem Tanz führt: er selbst.

Wenn das Dream-Team mit der Kraft der zwei linken Herzen zur Wahlkundgebung ruft, sind die Plätze voll - in Ost und West. Die beiden brauchen sich: der Saarländer die PDS für sein Comeback; und der Anwalt aus Berlin den übergelaufenen Sozialdemokraten für seinen alten Traum: die Westausdehnung der PDS.

Ist das eine Männerfreundschaft? Politik und private Beziehungen, das sei eine schwierige Sache, sagt Gysi, "jedenfalls haben wir uns gegenseitig noch nicht beschissen". Das sei schon viel in der Politik.

Und Gysi tut einiges für seinen großen Bruder aus dem Westen. Er hat alles unternommen, um Lafontaine vor den eigenen Genossen in Schutz zu nehmen. Als etwa der Parteistratege André Brie den Neuzugang als "Luxus-Linken" beschimpfte, hat Gysi seinen alten Freund Brie angerufen und zusammengefaltet, bis dieser seine Kritik widerrief.

Doch für Gysi bleibt Lafontaine letztlich undurchschaubar. Mehrfach hat er Lafontaine um eine Art Treueschwur gebeten, in gemeinsamen Nachtsitzungen im Intercity-Hotel in Berlin. Gysi will nicht, dass der Saarländer die PDS nur als Plattform benutzt, von der aus er zur Rückoberung der SPD antritt. Lafontaine hat erklärt, er wolle alles tun für das neue Projekt.

Aber Gysi bleibt skeptisch. Ob Oskar letztlich nicht doch von einer Fusion von SPD und Linkspartei träumt? Ob er am Tag nach der Wahl ein Angebot an seine alte Partei richten wird, ein Signal für eine Zusammenarbeit? Lafontaine sagt immer, er sei Sozialdemokrat geblieben. Nicht allen von der alten PDS gefällt das.

Gysi jedoch nimmt es auch in Kauf, dass er zwar nominell auf Augenhöhe mit Lafontaine die neue Linke in den Bundestag führt, tatsächlich aber die ungewohnte Rolle des Adjutanten eingenommen hat. "Wir telefonieren jeden Tag", sagt Gysi.

Der neue Partner kommt in Lafontaines Welt hingegen kaum vor: Von der Linkspartei, der WASG oder gar der PDS redet Lafontaine so gut wie nie. Auch seinen Co-Piloten Gysi, der auf dem Wahlplakat so devot zu ihm aufschaut wie der Kellner eines kleinen Ausflugslokals zum prominenten Gast, erwähnt er bei den meisten seiner Soloauftritte mit keinem Wort.

Lieber spricht der ehemalige SPD-Vorsitzende über sich und wie er als Finanzminister 1999 "einen tödlichen Fehler gemacht" habe: "Ich habe die Banken und Versicherungen zur Kasse gebeten." Deren Vorstände seien daraufhin im Kanzleramt "Sturm gerannt" - mit verheerendem Ergebnis: "Nicht mehr Parteien machen die Politik, sondern die Wirtschaftsverbände."

Warum er sich dagegen nicht gestemmt, sondern einfach alles hingeworfen hat, sagt er nicht. Wichtig ist nur, dass er wieder da ist. Er, der Oskar, der "noch immer in der Tradition Willy Brandts" steht und damit haushoch über jener Partei, die er verlassen hat - und über jenen, denen er jetzt die Gnade der späten Kandidatur erweist.

Ein Volkstribun für soziale Gerechtigkeit ist er, der nur das große Ganze im Auge hat: den historischen Um- und Aufbruch, die "europaweite Bewegung", die "Idee, deren Zeit gekommen ist" - die "neue Linke".

Klar, dass es nicht im Dunstkreis der Plattenbauten von Marzahn oder Hoyerswerda gewesen sein kann, wo Lafontaine erkannt haben will, dass der Wind der Geschichte sich dreht. Es war "in Paris", wie er seine Zuhörer mit pathetischem Tremolo in der Stimme wissen lässt, "auf der Place de la Bastille, jenem berühmten Platz der Französischen Revolution".

Dort nämlich hat Oskar, mit "französischen Freunden", am Abend des Referendums die Ablehnung der Europäischen Verfassung gefeiert und "gespürt", dass "das Volk die Dinge wieder selbst in die Hand genommen hat".

Dass ein Mann mit so viel Gespür, angesichts der historischen Tragweite der neuen Entwicklung, der Bewegung einzig als Lokomotivführer und nicht etwa als Heizer dienen kann, bekommt vor allem Gysi immer wieder zu spüren.

Am Absperrgitter in Köln drängeln sich die Fans, drinnen geben die beiden Galionsfiguren Interviews in Serie, und immer wieder huscht ihr Blick zum anderen, um zu sehen, wer gerade mit wem spricht, wer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Gysi trägt Bücher, Wahlkampfzeitungen und Flugblätter hin und her, damit Oskar sie signiert. Dazwischen auch immer wieder dieses Plakatmotiv des buckelnden Gysi im Postkartenformat: "Dieses blöde Foto", rutscht es Gysi heraus. "Wenn ich es vorher gesehen hätte, wäre es nicht genehmigt worden." Wahlkampfleiter Bodo Ramelow hatte verschiedene Motive vor Publikum getestet. "Das Bild hatte die stärksten Reaktionen, da ging eine Welle durch den Saal", begründet er seine Entscheidung. Dennoch wird es seit voriger Woche bundesweit überklebt. Im Westen ist fortan nur Lafontaine und im Osten nur Gysi zu sehen.

In Wahrheit spiegelt das Foto die Gefühlslage vieler PDS-Anhänger wider: Sie fürchten die freundliche Übernahme ihrer ganzen Partei durch Lafontaine. Als zum Wahlkampfauftakt auf dem Frankfurter Opernplatz vorvergangene Woche Lafontaine auf die Bühne ging, flankierten ihn Ramelow und der hessische Spitzenkandidat Wolfgang Gehrcke. Hinter der Bühne standen die PDS-Politikerinnen Gesine Lötzsch und Katja Kipping. Die Moderatorin drängte sie, auch auf die Bühne zu gehen. "Wir sind doch keine Statisten", zischte Kipping und weigerte sich, als dekoratives Element hinter Revolutionsführer Lafontaine rumzustehen.

Wenn sie allein wahlkämpfen, spricht Gysi viel über Lafontaine. Er nimmt ihn in Schutz gegen den Vorwurf des Verrats: "Nicht Lafontaine ist sich untreu geworden, sondern die SPD." Lafontaine hingegen erwähnt "meinen Freund" Gysi nur, wenn der auch dabei ist.

Gysi aber springt gern bei Veranstaltungen ein, wenn Lafontaine unpässlich ist, Gysi mimt den Lafontaine in Talkshows, Gysi trägt ihm Autogrammkarten hinterher, und Anwalt Gysi hat immer ein Plädoyer parat: "Man muss nicht arm sein, um links zu sein" ist sein Standardsatz - damit Lebemann Lafontaine sich nicht ständig Fragen nach Privatjets und Luxusurlaub anhören muss. "Ich mache das gern", versichert Gysi. Alles für ein Ziel, eine neue politische Kraft links von der SPD.

"Das geht nach der Wahl keine zwei Monate gut", sagt Peter Leipziger. Er war Mitbegründer der nun mit der Linkspartei kooperierenden "Wahlalternative für Arbeit&soziale Gerechtigkeit" (WASG) - und ist wieder ausgetreten: "Es geht doch nur um ihn", sagt er und deutet auf die Bühne, auf der Lafontaine gerade mit hochrotem Kopf den Menschen seine Welt erklärt.

Gysi steht währenddessen neben der Bühne und kommentiert launig Lafontaines Rede, als wären alle gerade in einer Rhetorikschule und hörten einem Meister zu: Wie bringe ich eine Menschenmenge auf meine Seite? Als der Saarländer wieder mal "jedem eine goldene Uhr" verspricht, der es schafft, ihn und seine Haushaltsrechnungen zu widerlegen, kichert Gysi: "Soll ich mir eine holen?"

Lafontaines Hang zum Populismus ist Gysi suspekt - er beneidet ihn aber auch darum. "Auf solche Sätze muss man erst mal kommen", sagt er.

Wo Gregor Gysi ironisch das rhetorische Florett einsetzt, arbeitet Oskar Lafontaine mit dem Baseballschläger. Wenn er die "faktisch regierende Allparteienkoalition" attackiert, ist von "Irren" die Rede, die entweder "nicht bis drei zählen" können oder "die Prozentrechnung nicht beherrschen". Dass "äh, äh, Edi Stoiber" und "Ääinschie Merkel" überdies "Brutto und Netto durcheinander bringen", gehört ebenso zu den Standards wie der Hinweis, dass "Kirchhof bei uns im Saarland Friedhof heißt".

Anders als Lafontaine geht Gysi auch in die Etappe und kämpft im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick um sein Direktmandat. 20 Termine absolviert er in seinem Wahlkreis. So sitzt er auf einem Barhocker vor 50 Rentnern im Innenhof eines Pflegezentrums und sagt lieber gleich, dass "ich mich hier ja nicht als Bezirksbürgermeister bewerbe", sondern um Bundespolitik zu machen. Und dann redet er vor 70-Jährigen über Studiengebühren - bis drei Meter neben ihm eine ermattete Dame an Krücken zusammensackt.

Mit Reden im kleinen Kreis hält sich Lafontaine hingegen nicht auf. Er zielt auf die große Masse, auf all jene, die nicht mehr mithalten können und vom Radarschirm der neuen Mitte verschwunden sind. Begeistert rufen sie "genau", wenn der Sonnenkönig von der Saar Mallorca-gebräunt gegen "die Schande der Demütigung älterer Arbeitnehmer" und "die Enteignung ihrer Sozialversicherungsbeiträge" durch Hartz IV ins Feld zieht.

Selbst der Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift "Bodo", dessen Geschäfte während der Lafontaine-Rede in Dortmund bestens laufen, nimmt den Kandidaten in Schutz: "Dat is' der einzigste Reiche, der auf unsere Seite is'. Wenn der nich' is', dann is' gar nix mehr." Der Kandidat, den es mit Macht zu seiner Limousine zieht, dankt mit huldvollem Lächeln und winkt leutselig in die Menge.

Bei kritischen Fragen aber kann Oskar ganz anders werden. Als in Siegen ein Fernsehreporter fragt, ob es stimme, dass er als Oberbürgermeister von Saarbrücken jungen Sozialhilfeempfängern die Stütze gestrichen habe, wenn sie gemeinnützige Arbeiten verweigert hätten, kann man sehen, wie ihm das Blut in den Kopf schießt.

Dann schlägt er dem Mann das Mikro aus der Hand - den Rest erledigen seine Leibwächter, sie schubsen den Journalisten zurück in die Menge. Im Zeitalter der neuen Linken wird Majestätsbeleidigung sofort geahndet.
 


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