SPIEGEL ONLINE - 18. August 2005, 17:48
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Meinungsforschung
 
Bauchgefühl und Zufall entscheiden die Wahlen

Von Kerstin Jansen

Ob Brutto-Netto-Versprecher oder TV-Duell: Der Wahlkampf dreht sich weniger um politische Inhalte, als um die Medienpräsenz der Kandidaten. Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid, spricht von einer "Kommunikationsverarschung des Wählers".

Hamburg - Dieser Wahlkampf sei "so blutleer wie keiner zuvor", sagte Emnid-Geschäftsführer Schöppner heute bei einer Veranstaltung des Wirtschaftsrates der CDU in Hamburg. "Wer Skandale bietet, braucht keine Argumente." Er beobachte eine zunehmende Boulevardisierung des Wahlkampfes, in der Inhalte kaum mehr gefragt seien. Politikern aller Parteien gehe es vielmehr um Aktionismus und Medienpräsenz - für Schöppner eine "Kommunikationsverarschung des Wählers".

Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Meinungsforscher auch die guten Umfragewerte der Linkspartei. Je nach Institut kommt das Bündnis aus WASG und PDS bundesweit auf neun bis zehn Prozent der Stimmen. "Wo die Kompetenz der Politiker versagt, gewinnt der Seelsorger", sagte Schöppner. Die Linkspartei habe keine besseren Konzepte für die neuen Bundesländer, zeige aber anders als die Union Volksnähe und Verständnis für die Probleme der Menschen. Stoibers "Querschüsse aus Bayern" seien in diesem Zusammenhang verheerend.

CSU-Chef Edmund Stoiber hatte Wähler der Linkspartei beschimpft und gesagt, die Wahl dürfe nicht noch einmal im Osten entschieden werden. Auch Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) hatte mit seinen Äußerungen über die "Verproletarisierung" des Ostens für Entrüstung gesorgt. Nach einer aktuellen Umfrage von Infratest-dimap hat diese Diskussion der Union in Berlin und Brandenburg deutlich geschadet. Im Vergleich zum Vormonat verlor die CDU in der Hauptstadt sieben und in Brandenburg sogar zwölf Prozentpunkte.

"Die Deutschen verstehen Politik nicht mehr"

Dass solche Äußerungen Wahlen beeinflussen können, führt Emnid-Geschäftsführer Schöppner auf einen "enormen Rückgang an politischem Interesse" zurück. Nur 25 Prozent der Deutschen würden sich für politische Inhalte interessieren, vor zehn Jahren habe der Wert noch bei 50 Prozent gelegen. Dieses Desinteresse führe zu mangelndem Wissen. "Die Deutschen verstehen die Politik nicht mehr", sagte der Meinungsforscher aus Bielefeld. Die Ursachen sieht er in einem "dramatischen Vertrauensverlust" in die Parteien und Politiker sowie deren mangelnde Kompetenz, die Probleme des Landes zu lösen. Emnid-Umfragen hätten gezeigt, dass nur noch zehn Prozent der Bevölkerung ein klares Konzept hinter dem Handeln der Regierung erkennen könnten.

Das Verhalten der Wähler werde daher immer willkürlicher, sagte Klaus-Peter Schöppner in Hamburg. "Nicht mehr der Kampf um den richtigen politischen Weg, sondern das Bauchgefühl, fast eine Zufallslaune der Geschichte, entscheidet die Wahlen." Aktionismus und Medienpräsenz bestimmten die politische Szene - "etwas, das der Bundeskanzler wie kein anderer beherrscht". Bestes Beispiel sei die vergangene Bundestagswahl von 2002, bei der Gerhard Schröder (SPD) trotz schlechter Prognosen nach Flutkatastrophe und Irak-Kriegsdiskussion sein Amt doch noch verteidigen konnte.

Rund 70 Prozent der Wähler glauben laut Schöppner heute, dass es keinen Unterschied macht, welche Partei Deutschland regiert. "Die politische Farbenlehre stimmt nicht mehr", sagte der Leiter des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid. Die Parteien seien für den Wähler nicht mehr unterscheidbar. "Heute wird CDU gewählt, weil man SPD nicht mehr wählen kann." Aber nicht, weil die Union für bessere Konzepte stehe oder etwa Aufbruch-Stimmung vermittle. Sie schaffe es deshalb nicht, deutlich über die 40-Prozent-Marke hinaus zu kommen. CDU/CSU liegen derzeit bei 42 Prozent der Stimmen. Die Union bereite eine "Regierungsübernahme im Beamtensessel" vor. Und wenn bis zur Wahl "noch irgendwo ein schwarzer Koffer gefunden wird", seien die Wahlen wieder ganz offen. Denn: "Der Zufall entscheidet."
 


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