Meinungsforschung
Bauchgefühl und Zufall
entscheiden die Wahlen
Von Kerstin Jansen
Ob Brutto-Netto-Versprecher oder TV-Duell: Der Wahlkampf dreht sich weniger um politische Inhalte, als um die Medienpräsenz der Kandidaten. Klaus-Peter Schöppner, Chef des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid, spricht von einer "Kommunikationsverarschung des Wählers".
Hamburg - Dieser
Wahlkampf sei "so blutleer wie keiner zuvor", sagte Emnid-Geschäftsführer
Schöppner heute bei einer Veranstaltung des Wirtschaftsrates der CDU in Hamburg.
"Wer Skandale bietet, braucht keine Argumente." Er beobachte eine zunehmende
Boulevardisierung des Wahlkampfes, in der Inhalte kaum mehr gefragt seien.
Politikern aller Parteien gehe es vielmehr um Aktionismus und Medienpräsenz -
für Schöppner eine "Kommunikationsverarschung des Wählers".
Vor diesem
Hintergrund erklärt sich der Meinungsforscher auch die guten Umfragewerte der
Linkspartei. Je nach Institut kommt das Bündnis aus WASG und PDS bundesweit auf
neun bis zehn Prozent der Stimmen. "Wo die Kompetenz der Politiker versagt,
gewinnt der Seelsorger", sagte Schöppner. Die Linkspartei habe keine besseren
Konzepte für die neuen Bundesländer, zeige aber anders als die Union Volksnähe
und Verständnis für die Probleme der Menschen. Stoibers "Querschüsse aus Bayern"
seien in diesem Zusammenhang verheerend.
CSU-Chef Edmund Stoiber hatte
Wähler der Linkspartei beschimpft und gesagt, die Wahl dürfe nicht noch einmal
im Osten entschieden werden. Auch Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm
(CDU) hatte mit seinen Äußerungen über die "Verproletarisierung" des Ostens für
Entrüstung gesorgt. Nach einer aktuellen Umfrage von Infratest-dimap hat diese
Diskussion der Union in Berlin und Brandenburg deutlich geschadet. Im Vergleich
zum Vormonat verlor die CDU in der Hauptstadt sieben und in Brandenburg sogar
zwölf Prozentpunkte.
"Die Deutschen verstehen Politik nicht
mehr"
Dass solche Äußerungen Wahlen beeinflussen können, führt
Emnid-Geschäftsführer Schöppner auf einen "enormen Rückgang an politischem
Interesse" zurück. Nur 25 Prozent der Deutschen würden sich für politische
Inhalte interessieren, vor zehn Jahren habe der Wert noch bei 50 Prozent
gelegen. Dieses Desinteresse führe zu mangelndem Wissen. "Die Deutschen
verstehen die Politik nicht mehr", sagte der Meinungsforscher aus Bielefeld. Die
Ursachen sieht er in einem "dramatischen Vertrauensverlust" in die Parteien und
Politiker sowie deren mangelnde Kompetenz, die Probleme des Landes zu lösen.
Emnid-Umfragen hätten gezeigt, dass nur noch zehn Prozent der Bevölkerung ein
klares Konzept hinter dem Handeln der Regierung erkennen könnten.
Das
Verhalten der Wähler werde daher immer willkürlicher, sagte Klaus-Peter
Schöppner in Hamburg. "Nicht mehr der Kampf um den richtigen politischen Weg,
sondern das Bauchgefühl, fast eine Zufallslaune der Geschichte, entscheidet die
Wahlen." Aktionismus und Medienpräsenz bestimmten die politische Szene - "etwas,
das der Bundeskanzler wie kein anderer beherrscht". Bestes Beispiel sei die
vergangene Bundestagswahl von 2002, bei der Gerhard Schröder (SPD) trotz
schlechter Prognosen nach Flutkatastrophe und Irak-Kriegsdiskussion sein Amt
doch noch verteidigen konnte.
Rund 70 Prozent der Wähler glauben laut
Schöppner heute, dass es keinen Unterschied macht, welche Partei Deutschland
regiert. "Die politische Farbenlehre stimmt nicht mehr", sagte der Leiter des
Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid. Die Parteien seien für den Wähler nicht
mehr unterscheidbar. "Heute wird CDU gewählt, weil man SPD nicht mehr wählen
kann." Aber nicht, weil die Union für bessere Konzepte stehe oder etwa
Aufbruch-Stimmung vermittle. Sie schaffe es deshalb nicht, deutlich über die
40-Prozent-Marke hinaus zu kommen. CDU/CSU liegen derzeit bei 42 Prozent der
Stimmen. Die Union bereite eine "Regierungsübernahme im Beamtensessel" vor. Und
wenn bis zur Wahl "noch irgendwo ein schwarzer Koffer gefunden wird", seien die
Wahlen wieder ganz offen. Denn: "Der Zufall entscheidet."
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