SPIEGEL ONLINE - 10. August 2005, 21:27
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Merkels Wahlkampfauftakt
 
"Immer schreit gleich einer Pfui"

Von Sebastian Christ, Essen

Etwa 3000 Menschen sind gekommen, um in Essen den Auftakt von Angela Merkels Wahlkampftour zu erleben. Etliche Zuhörer hat die Konkurrenz geschickt, statt Zustimmung erntet die Unions-Kanzlerkandidatin Pfiffe - zumindest am Anfang.

Merkel in Essen: "Where will it lead us from here?"
DPA
Merkel in Essen: "Where will it lead us from here?"
Schon dieser Name: Kennedyplatz. Es geht heute um Geschichte. Und diejenigen, die sie gestalten wollen. Essen, 17 Uhr: Die CDU läutet die heiße Phase ihres Wahlkampfs ein. Rings um die Unions-Bühne stehen 60-er-Jahre-Hochhäuser mit Lochkartenfassaden oder bräunlich schimmernden Scheiben.

Angela Merkel ist gekommen, um den Menschen zu erzählen, dass Deutschland vor "einer Schicksalswahl" steht. Die Zeit bis zum 18. September ist knapp, also setzt die Union auf Emotionen. Der müde gewordenen Wechsel-Euphorie neues Leben einzuhauchen, das war ihr Ziel.

Einige haben dennoch Zweifel, ob Frau Merkel wirklich Geschichte machen sollte. Von allen Seiten branden Buhrufe und Pfiffe an die würfelförmige Bühne. Gleichzeitig versuchen die lokalen Politgrößen im Hintergrund mit weit ausholenden Armbewegungen gegen die akustischen Störmanöver anzuklatschen. Über die Lautsprecheranlage verteilt sich das Händestampfen in besseren Momenten wie Donnerschläge über den Kennedyplatz.

Gekommen sind fast alle, die gegen einen Wechsel sind. Die Grünen haben Plakate gemalt, ver.di trommelt gegen eine mögliche schwarz-gelbe Koalition. "Millionäre können die Sektkorken knallen lassen", stänkern die Arbeitnehmervertreter. Kommunisten und Sozialisten haben ein Häuflein Aktive zusammengekratzt und die von ihnen gekaperte Essener Montagsdemo kurzerhand auf den Mittwoch verlegt. Es geht ja um die Sache. Was sie sagen wollen, bleibt unklar. "Gegen Hartz IV" brüllt einer, und bringt es damit wohl am besten auf den Punkt.

Angela Merkel fällt es sichtlich schwer, in Tritt zu kommen. Ihre Attacken wirken am Anfang lahm und ohne Biss. Sie trägt heute ein elegantes graues Jackett und eine dezente Silberkette. Turnschuhe und Freizeithemd, das war Urlaub. Das war gestern. Vor der Bühne ist das "teAM Zukunft" in Pose gegangen. "AM" steht für Angela Merkel. Die Nachwuchspolitiker, mit Masse aus den Reihen der Jungen Union, halten orangefarbene Schilder hoch und brüllen mit glockenheller Stimme "Angie, Angie". Auch das ist Teil der Inszenierung. "Wir müssen weg von der roten Laterne", sagt Merkel. Verhaltener Applaus. "Wir brauchen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse", definiert sie. Früher mal hieß das einfach "mehr Arbeit".

Ausgerechnet ein Vertreter der Jungen Grünen bringt die Wende. Er buht laut, als Merkel auf die Hochschulpolitik eingehen will. Jetzt kommt die Kanzlerkandidatin in Fahrt. "Immer schreit gleich einer Pfui", poltert sie los. Sie schaut in die Richtung der grünen Studenten. "Wenn heute Leute manche Leute 15, 16 Semester studieren, und dann die steuerzahlende Kassiererin das alles finanzieren soll, dann hat das mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun." Zum ersten Mal bekommt Merkel lang anhaltenden Applaus. Bei den Grünen wird es stiller.

Auf dem Kennedyplatz stehen viele ältere Menschen, die sich auch während Merkels Rede lautstark über konservative Politik unterhalten. Manche von ihnen haben bei einer Bundestagswahl noch nie CDU gewählt. Sie stehen mit verschränkten Armen da und hören sich an, was Frau Merkel mit ihnen vorhat. Ihre Lider liegen in Falten, die Augen halb zugekniffen. Doch je länger die Rede dauert, desto öfter kann man schüchternes Kopfnicken beobachten. Thema Mehrwertsteuer. "Richtig so", jubelt ein Rentner im Publikum, der offensichtlich schon seinen Frieden mit dem CDU-Parteiprogramm gemacht hat. "Aber sie als Rentner haben doch keine Vorteile", sagt sein Nachbar. "Die Rentner haben auch einen Vorteil davon", ätzt der fast beleidigt zurück. "Da profitiert doch jeder von."

Das hat auch gerade die Kanzlerkandidatin vorne auf der Bühne gesagt. Nun erntet sie immer mehr Beifall. "Wir müssen die Rentenversicherung wieder auf eine sichere Basis stellen." Klatschen. "Die Attentäter in London wären nicht gefunden worden, wenn es keine Videoüberwachung gegeben hätte." Klatschen, Bravo-Rufe. "Es kann nicht sein, dass wir sagen: 'Multikulti ist wunderbar', und zum Schluss sitzen lauter Schüler in den Schulklassen und können den Lehrer nicht verstehen." Jubeln, lang anhaltendes Klatschen.

Einmal noch passiert ein böser Rückfall in die "Brutto-Netto-Woche". Sie nennt die Linkspartei am Ende eines langen Satzes "Linksalternative". Doch das geht unter. Noch nicht einmal die Kommunisten in der letzten Reihe beschweren sich.

Dann die finale Attacke. Wieder geht es um Zukunft, Freiheit, Geschichte. "Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg lag dieses Land in Schutt und Asche. Und da hat es Menschen gegeben, die haben gesagt, wir wollen dieses Land aufbauen." Sie schlägt einen Bogen zu Adenauer und Erhard, erzählt, wie diese Männer das Wirtschaftswunder möglich gemacht haben. "Und heute im Jahr 2005, stehen wir wieder vor eine solchen Weichenstellung. Warum soll uns das, was uns 1949 gelungen ist, nicht auch jetzt gelingen?"

Auf dem Platz ist es still. Die These klingt kühn. Aber vielleicht ist es genau das, was die Leute hier in Essen hören wollen. "Ich bin der Überzeugung, dass wir es schaffen können", bekräftigt sie. Die Christdemokraten mit ihren leuchtend orangefarbenen Buttons sind froh, dass sie nach zahlreichen Rückschlägen mal wieder so etwas wie Euphorie spüren konnten.

Der Essener Bundestagsabgeordnete Norbert Königshofen bedankt sich weniger artig denn überschwänglich bei seiner Parteivorsitzenden. "Sie haben gerade die zukünftige Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gehört."

Edmund Stoiber hatte ein paar Stunden zuvor gesagt, CDU/CSU wollten bis zu 45 Prozent der Stimmen erreichen. Angela Merkel lächelt. Auf der Videoleinwand laufen Bilder von großen deutschen Momenten. Gründung der Bundesrepublik, Weltmeisterschaft 1954, Wiedervereinigung. Während Frau Merkel noch Interviews gibt, schallen per Lautsprecher-Anlage die Rolling Stones über den Kennedyplatz. "Angie, where will it lead us from here?"
 

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