SPIEGEL ONLINE - 02. August 2005, 16:55
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Rente
 
30 Prozent der Deutschen droht die Altersarmut

Immer mehr Deutsche müssen ihre Lebensversicherung aus Geldnot vorzeitig kündigen. Versicherer zahlten deshalb im letzten Jahr soviel Geld aus, wie nie zuvor. Eine Studie zur Altersvorsorge zeigt außerdem: Rund 30 Prozent der Haushalte sind von Altersarmut bedroht.

Berlin/Frankfurt am Main - Der Wille ist da: 95 Millionen Lebensversicherungsverträge zählten die Assekuranzen Ende 2004. Statistisch gesehen hat damit jeder Deutsche sogar mehr als eine Police. Doch eine Lebensversicherung ist wie ein Marathonlauf: Man braucht einen langen Atem. Und den haben immer weniger unter den Versicherte. Noch nie wurden so viele Verträge vor Ende ihrer Laufzeit gekündigt. Gut jeder Zweite kann die Prämien nicht über die gesamte Laufzeit leisten.

Rund 12,6 Milliarden Euro zahlten die Versicherer deshalb im letzten Jahr vorzeitig aus, wie die Versicherungsvermittlung Policen Direkt mitteilte. Das sind rund 200 Millionen mehr als im Vorjahr.

Nicht selten ist Arbeitslosigkeit der Grund, wenn Verträge vorzeitig aufgelöst würden. Doch auch ungezügelter Konsum gehört dazu. Häufig sind es dann die Gläubiger, die die Versicherten dazu zwingen, ihre Police aufzulösen. Für die Betroffenen ist das regelmäßig ein schlechtes Geschäft. Denn die vorzeitige Kündigung einer Lebensversicherung ist mit deutlichen Verlusten verbunden. Der Rückkaufswert, der bei Auflösung des Vertrags ausbezahlt wird, liegt häufig sogar unter der Summe der einbezahlten Beträge. Neben den üblichen Stornoabschlägen fallen bei Lebensversicherungen, die weniger als zwölf Jahre bestehen, auch noch Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag in Höhe von rund 26 Prozent an.

"Die meisten unterschätzen die Rentendauer"

Doch auch unter denjenigen, die die gesamte Laufzeit durchhalten, kommt es nicht selten am Ende zu einem bösen Erwachen. Häufig nämlich fallen die Versicherungsleistungen viel geringer aus, als ursprünglich kalkuliert.

Für die künftige "Generation 65" ergibt sich daraus eine bedrohliche Perspektive. 60 Prozent der künftigen Rentner werden einer Studie des Mannheimer Forschungsinstituts für Ökonomie und Wandel (MEA) zufolge ihren Lebensstandard spürbar zurückschrauben müssen, weil sie nicht genug gespart haben. Fast einem Drittel droht sogar die Altersarmut. In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung vom Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA), hinter dem verschiedene Banken stehen.

Vor allem den heute 40- bis 49-Jährigen droht demnach im Alter Geld zu fehlen. Weil seit 2001 das gesetzliche Rentenniveau um etwa 18 Prozent gesunken ist und die Lebenserwartung weiter steigt, hat der Untersuchung zufolge jeder Haushalt aus dieser Altersgruppe durchschnittlich 215 Euro im Monat zu wenig zur Verfügung.

Mangelnde Weitsicht

Die unzureichende Vermögensbildung hängt dem MEA zufolge in erster Linie mit mangelnder Weitsicht zusammen. Die Rentendauer werde oft unterschätzt, erklärte Renten-Experte Axel Börsch-Supan vom MEA. Die meisten Menschen berücksichtigten nicht die in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich deutlich ansteigende Lebenserwartung. Für 59,2 Prozent reiche daher das gesparte Vermögen nicht, um sich im Alter ausreichend zu versorgen. Ein Drittel der Haushalte legten gar nichts für später zurück.

Zur Lösung dieses Problems schlägt das DIA vor, in allen Betrieben Altersvorsorgefonds einzurichten, in die Arbeitnehmer Teile ihres Gehalts sozialabgabenfrei einzahlen sollen. Wer diese Form der privaten Vorsorge nicht will, muss sich diesem Modell zufolge ausdrücklich dagegen aussprechen. Zudem müsse die Politik besser über die Problematik informieren, sagte DIA-Sprecher Bernd Katzenstein. "Es fehlt eine wirklich inflationsbereinigte Realrechnung."

Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di sprach sich unterdessen für höhere Löhne aus, die die Rentenkassen wieder füllen sollen. Nur über einen "Klimawandel in der Lohndiskussion" könnten dauerhaft sichere Renten erreicht werden. Die sinkenden Beiträge hatten dazu geführt, dass den Versicherern in den nächsten drei Monaten insgesamt Mittel von rund drei Milliarden Euro fehlen. Diese müssen voraussichtlich durch Vorschüsse aus der Bundeskasse und durch ein zinsloses Darlehen des Bundes abgedeckt werden.
 


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