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junge welt vom 20.12.2002 - Schröders Nachtgedanken
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artikel_start
20.12.2002
 
Inland
Werner Röhr
 
Schröders Nachtgedanken
 
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat nicht Hartz, sondern Papen erfunden. Natürlich, Berlin ist nicht Weimar. Wie weit die Parallelen aber reichen, zeigen Wochenberichte zweier christlicher Sozialisten aus den Jahren 1930 bis 1933. Eine Entdeckung
 
Die gegenwärtig unter Bedingungen wachsender Massenarbeitslosigkeit forcierte Offensive des Kapitals gegen den »sozialen Wohlfahrtsstaat«, sprich die sozialen Errungenschaften der Arbeiter, wird von einer sozialdemokratisch geführten Regierung betrieben. Sie exekutiert den Angriff auf das Tariflohnsystem, das Rentensystem, das Gesundheitssystem, die Arbeitslosenunterstützung und das Sozialleistungssystem. Die Gewerkschaften leisten kaum Widerstand, obwohl die Offensive sich direkt gegen sie richtet, ihre Rechte beschneidet und aushöhlt und die Vertreter des Großkapitals offen ihre Ausschaltung fordern. Als die deutsche Bourgeoisie die im Oktober 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise benutzte, die Krisenlasten auf die Werktätigen abzuwälzen und alle sozialen Errungenschaften, die in Jahrzehnten des Kampfes der Arbeiter und insbesondere in der Novemberrevolution erkämpft worden waren, zu beseitigen, warf sie seinerzeit die Sozialdemokratie aus der Regierung.

Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) war zwischen 1919 und 1933 der Spitzenverband der industriellen Unternehmerverbände. Sieben Wochen nach dem »Schwarzen Freitag« legte er am 2. Dezember 1929 in der Denkschrift »Aufstieg oder Niedergang« ein »Reformprogramm« vor, das eine »Entlastung der Wirtschaft« durch gravierende Veränderungen der Finanz- und Steuerpolitik vorsah: Die Wirtschaft sollte von »unproduktiven Ausgaben entlastet«, der »Zinssatz gesenkt« und »eine angemessene Rente des in der Wirtschaft arbeitenden Eigenkapitals ermöglicht werden«.


Ein Lehrstück

Die Regierung unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller wurde 1930 gestürzt. Der von dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning geführten Regierung gehörten keine Sozialdemokraten mehr an, wohl aber tolerierten sie die Regierung im Reichstag – als »kleineres Übel«. Es war eine Präsidialregierung, die mangels parlamentarischer Mehrheit den massiven Sozialabbau per Notverordnung durchsetzte. Manche Sozialdemokraten zogen aus ihrem Hinauswurf aus der Regierung den Schluß, solch ein Fußtritt könne nur durch noch mehr Willfährigkeit bei der Exekution der Kapital-Offensive vermieden werden. Die Öffnung des Weges zum Faschismus sei zu verhindern, wenn man Brünings Aufgabe selbst erfülle.

Der Ex-SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine wirft seinem Nachfolger Gerhard Schröder öffentlich vor, die Sparpolitik Heinrich Brünings zu wiederholen, die für die arbeitenden wie die arbeitslosen Massen ungeheure Not brachte, aber die Krise nicht überwand, sondern ihrerseits verschärfte. In einem Band, der aktueller nicht sein könnte, treten dem Leser derartige Parallelen deutlich vor Augen. Es handelt sich um wöchentlich verfaßte Überblicke über die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse in Deutschland und der Welt. Sie wurden von zwei evangelischen Pfarrern verfaßt, von Erwin Eckert und Emil Fuchs. Eckert schrieb die Berichte von Oktober 1930 bis August 1931, Emil Fuchs die folgenden von November 1931 bis März 1933. Die Herausgeber haben mit diesen Berichten ein außergewöhnlich anschauliches Zeitdokument ausgegraben, das heute als einzigartige zeitgeschichtliche Quelle gelten darf. Von all jenen westdeutschen Historikern, die mit Emphase verkündeten, »Bonn ist nicht Weimar!« war bisher kein einziger auf den Gedanken gekommen, sie als Quelle heranzuziehen oder gar der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Woche für Woche, Tag für Tag wählten Eckert und später Fuchs die für wichtig gehaltenen Informationen aus Politik, Wirtschaft und Kultur aus, ordneten und analysierten sie. Beide waren keine professionellen Ökonomen, doch sie nahmen mit scharfer Beobachtungsgabe wahr, was in den Jahren der großen Krise die Lebensumstände der Arbeiter und Arbeitslosen, der Bauern und des Mittelstandes prägte und somit auch deren Bewußtsein bestimmte. Natürlich ging das nicht ohne Irrtümer und Fehlgriffe ab. Doch mit welcher Sicherheit sie die Auswahl trafen, wie souverän ihre Urteile meistens waren und welch objektives Bild sie bieten, das ist erstaunlich.

Natürlich ist die Souveränität des Urteils ihrem scharfen Intellekt geschuldet, aber ebenso ihrer Parteilichkeit. Ihre Kommentare sind an der Lage der arbeitenden Massen orientiert, auf deren verzweifelte Notlage wollen sie aufmerksam machen, sie ist der Bezugspunkt bei der Beschreibung der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Entwicklung. »Ihre Radikalität ergab sich«, schreibt Georg Fülbert in einer Nachbemerkung, »gleichsam aus der Evidenz der Wirklichkeit in der Weimarer Republik: hier mußte keine Oberfläche analytisch durchstoßen werden...: die Tagespolitik gab Stoff genug.«


»Kleinliche Wirtschaftsfragen«

Das Wirtschaftsprogramm der Regierung Papen-Schleicher vom Sommer 1932 war faktisch ein Programm zur Aushungerung des Volkes. Die schlimmste aller Notverordnungen, die vom 4. September 1932, sah massiven Lohnabbau wie Senkung der Erwerbslosenunterstützung in einem Maße vor, daß sogar der von den bürgerlichen Parteien beherrschte Reichstag Papen mit 531 zu 32 Stimmen das Mißtrauen aussprach, woraufhin er bei seiner ersten Sitzung prompt aufgelöst wurde. Die NSDAP stimmte als stärkste Parlamentsfraktion gegen Papen, doch ihr Propagandaleiter Goebbels schrieb im selben Herbst: »Wir haben es nicht nötig, uns nur mit kleinlichen Wirtschaftsfragen zu befassen.« Fuchs’ Kommentar: »Für Goebbels ist also die Zerschlagung der Sozialversicherung, die Kürzung der Renten, der ganze ungeheuerliche Raubzug auf die Taschen der Werktätigen eine ›kleinliche Wirtschaftsfrage‹«.

Für die Verfasser der Wochenberichte waren dies die wichtigsten Fragen, sie verfolgten sehr genau die Praxis der Regierungen Brüning und Papen, dem Volke »schwerste Lasten und Opfer« zuzumuten, um die Unternehmen zu entlasten. Sie berichteten laufend über die Massenentlassungen von Arbeitern und alle Schritte zum Lohnraub an den noch Beschäftigten, über Aussperrungen und Stillegungen. Nachdem Brünings Notverordnung vom 26.Juli 1930 den rigorosen Lohnabbau eingeleitet hatte, senkte die »Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen« vom 1. Dezember 1930 die Umsatz-, Grund- und Gewerbesteuer, erhöhte dagegen die Bier-, Ledigen- und Bürgersteuer. Sie kürzte die Beamtengehälter um sechs Prozent, schränkte die Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie die Gemeindefinanzen weiter ein und belastete die landwirtschaftlichen Berufe mit einer Einheitssteuer.

Am 15. Januar 1932 hatte Deutschland offiziell 5,966 Millionen Arbeitslose, faktisch aber sieben bis acht Millionen. Hinzu kamen vier Millionen Kurzarbeiter und für die noch beschäftigen Arbeiter und Beamten rigoroser Lohnabbau. Die Arbeitslosen verelendeten, der Mittelstand und große Teile der Bauernschaft verarmten. Doch während Millionen hungerten, taten die Regierungen Brüning und Papen alles, um die Lebenshaltungskosten und insbesondere die Lebensmittelpreise hochzuhalten, z.B. durch Zollerhöhungen für landwirtschaftliche Produkte, so eine zehnprozentige Zollerhöhung auf Schmalz und Speck, durch Kredithilfen für die Großagrarier und Vollstreckungsschutz für deren Schulden oder eine Margarinesteuer.

Kaum im Amt, senkte die Regierung Papen Anfang Juni 1932 per Notverordnung die Arbeitslosen-, Krisen- und Wohlfahrtunterstützungen, verschärfte die Bedürftigkeitsprüfungen und senkte die Renten für Kriegsopfer, Invaliden, Witwen und Waisen sowie die Unfallrenten. Durch eine Arbeitslosenabgabe wurden Löhne und Gehälter erneut gesenkt und die Salzsteuer erhöht. »Wenn die Regierung Papen mit einem Federstrich 1,5 Milliarden Mark aus den Taschen der Werktätigen zieht, so ist das eine ›nationale Tat‹«, schrieb Fuchs.

Das Realeinkommen der noch beschäftigten Arbeiter und Angestellten betrug im August 1932 nur noch zwei Drittel vom Sommer 1929 bzw. die Hälfte des Jahres 1913. Das Wirtschaftprogramm der Regierung Papen-Schleicher vom 14. August 1932 sah eine »Auflockerung des Tarifrechts« vor. Der Lohnabbau sollte auf verschiedenen Wegen gleichzeitig erfolgen: An die Stelle des Tariflohns konnten Werksvereinbarungen treten, »Tarifunterschreitung« war möglich, sofern der Unternehmer Neueinstellungen vornahm, und gültig ab der 31. Wochenarbeitsstunde. Tarifgebundene Stammarbeiter konnten so durch Neueinstellungen ersetzt werden. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich sollte generell möglich sein, womit alle Beschränkungen für die weitere Ausdehnung der Kurzarbeit entfielen. Für »notleidende« Betriebe sollte ein Schiedsspruch möglich sein, der selbst diese Regelungen noch unterschritt.

Dabei hatte bereits am 31.Juli 1932 das Konjunktur-Institut in seinem amtlichen Bericht festgestellt, daß »auch die letzte Stütze der Wirtschaft, der verhältnismäßig stabile Mengenverbrauch in lebenswichtigen Gütern, zu schrumpfen beginnt«. Dies war, so der bissige Kommentar von Fuchs, der »wissenschaftliche Ausdruck für steigenden Hunger«. Trotz der Verelendung der Massen erhöhte die Papen-Regierung im Etat vom Juli 1932 deren steuerliche Belastung um 400 Millionen, während alle Erträge aus Besitzsteuer im selben Etat außerordentlich niedrig angesetzt wurden.

Die Regierung Papen erteilte sich per Notverordnung selbst die Vollmacht, die Sozialversicherung zu ändern und die bisherigen drei Unterstützungsarten zusammenzulegen, jeder dieser Schritte bedeutete jedesmal Unterstützungsabbau. Die Erwerbslosenfürsorge sollte nicht nur umgebaut werden, sondern auch an die sowieso fast bankrotten Gemeinden übergeben werden.


»Hungeroffensive«

In eine Rede in Münster kündigte Papen am 27. August 1932 weitere Subventionen für das agrarische wie das industrielle Kapital an, außerdem 1,5 Milliarden Steuererlaß und 700 Millionen Steueranrechnung für Unternehmer, die neue Arbeiter einstellen würden. Für die notleidenden Massen aber stellte er die nächste Verteuerung der Lebenshaltungskosten durch neue Zölle in Aussicht. Die Arbeitslosenunterstützung und die Renten der Kriegsopfer waren bereits gekürzt worden, im Juli 1932 auch die Invalidenrenten. Eine Beschäftigtensteuer kürzte erneut sämtliche Löhne und Gehälter, die Unterstützung für vier Millionen Kurzarbeiter wurde um zwei Prozent gesenkt. Fuchs berechnet für den Juli 1932 faktisch rund acht statt der offiziellen 5,5 Millionen Arbeitslosen – und wird mit dieser Angabe im Herbst von den Konjunkturforschungsinstituten bestätigt.

Die Deutsche Allgemeine Zeitung, das führende Blatt der konservativen, deutschnationalen Kräfte, stand der Papen-Regierung nahe. Unter ihrem Chefredakteur Dr. Fritz Klein hatte sie stets am rabiatesten Lohnabbau gefordert. Nunmehr nannte sie Papens »Notverordnung zur Belebung der Wirtschaft« vom 4. September 1932 eine »kapitalistische Offensive«. In der Tat bildete sie den bis dahin größten Schlag gegen die noch beschäftigten Arbeiter: Fuchs schätzte, daß allein diese Notverordnung praktisch einen Lohnabbau von 20 bis zu 50 Prozent bedeutete. Lohnabbau war nun legal möglich ohne Änderung des Arbeitsvertrages, den Gewerkschaften aber wurde eine »Friedenspflicht« auferlegt. Anschließend wurde ein Streikverbot verordnet, die Gewerkschaften haftpflichtig gemacht.

Das Wirtschaftsprogramm der Regierung Papen kennzeichnete Fuchs als Hungeroffensive. Die ungeheuerliche Senkung der Unterstützungssätze für Arbeitslose und Wohlfahrtsempfänger sowie die Verkürzung der Unterstützungszeit in der Arbeitslosenversicherung auf 13 Wochen entlastete die damalige Arbeitslosenversicherung in Deutschland so, daß sie Überschüsse abliefern konnte. Allein im ersten Halbjahr 1932 lieferte sie 160 Millionen Reichsmark an die Reichskasse. Gleichzeitig finanzierte sie den freiwilligen Arbeitsdienst, eine besonders infame Art der »Arbeitsbeschaffung«, bei der Tarifarbeiter durch Arbeitsdienstler mit Taschengeld aus Lohn und Brot verdrängt wurden und sich der Druck auf die verbliebenen Tariflöhne weiter erhöhte. Fuchs kommentierte das so: »Es gibt Unanständigkeiten, die man nicht für möglich halten sollte.«


Wieviel Terror war nötig?

Eckert und Fuchs beschrieben prägnant die Praktiken, mit denen die Nazipartei ihre Wahlsiege errang. Die Berichterstatter verfolgten, welchen zeitweiligen Taktiken der Brüning-Regierung das kurzzeitige, niemals wirklich durchgesetzte Verbot von SA und SS diente. Als Papen und Schleicher es unmittelbar nach Regierungsantritt wieder aufhoben, überzog eine beispiellose Terrorwelle Deutschland, allein in der dritten Juniwoche 1932 wurden 30 Arbeiter von SA-Banditen ermordet. Es verging kaum ein Abend, wo nicht in Großstädten Terrorakte der SA wie Überfälle, Attentate auf Funktionäre der Arbeiterbewegung und einzelne Arbeiter, selbst Feuerüberfälle auf Parteihäuser verübt wurden. Die Polizei aber wurde zumeist nicht gegen die SA, sondern gegen die sich gegen deren Terror Wehrenden eingesetzt.

Allen jenen, für die sich der deutsche Faschismus am 30. Januar 1933 wie ein erratischer Block in die deutsche Geschichte einschob, sei die Lektüre dieser Wochenberichte empfohlen. Sie belegen, welche Massenwiderstände überwunden werden mußten, um eine faschistische Regierung aus Nazis und Deutschnationalen zu berufen, wieviel Mordterror in mehreren Jahren notwendig war, um das von der Wirtschaftskrise niedergedrückte Volk zur Hinnahme zu veranlassen. Die Wochenberichte zeigen, wie Reichswehr und Justiz dazu beitrugen, die Nazis regierungsfähig zu machen und die Verfassungsbrüche auf dem Wege dahin zu rechtfertigen. Sehr ausführlich wird Papens Staatsstreich vom 20. Juli 1932 dokumentiert sowie seine juristische Nachgeschichte vor dem Reichsgerichtshof mit dem massenhaften Hinauswurf preußischer Beamter nicht nur mit SPD-Parteibuch vor dem 30. Januar 1933. Eckert wie Fuchs sahen voraus, daß der deutsche Faschismus in Deutschland eine zügellose Herrschaft des großen Kapitals und des Großgrundbesitzes errichten wird und beide Arbeiterparteien um ihre nackte Existenz werden kämpfen müssen. Und: Ein solches Deutschland nimmt Kurs auf den Krieg.

Die imperialistischen Kriegsherde jener Jahre, vor allem der Krieg, den Japan gegen China bereits führte, nehmen in den Wochenberichten einen ständigen Platz ein. Nachdem aber Hitler in die Reichskanzlei eingezogen war, heißt es bei Fuchs: »Die deutsche Tragödie dehnt sich zu einer Tragödie Europas«, von diesem faschistischen Deutschland droht eine »Weltkatastrophe«. Die »Vernichtung des Nazismus in Deutschland« ist die allerwichtigste Aufgabe überhaupt, hinter der alle anderen Probleme zurücktreten müßten.

In der Einführung informieren die Herausgeber über die beiden Verfasser, über den Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands und die Entstehungsgeschichte der Wochenberichte. Friedrich-Martin Balzer gibt in einem Anhang einen zusätzlichen Bericht über die Entmachtung und dann Vertreibung Erwin Eckerts aus diesem Bund. Fünf Historiker würdigen jeweils in wenigen markanten Sätzen Stärken und Schwächen der Berichte und ihrer Autoren. Angenehm und hilfreich ist das verifizierte Personenverzeichnis, dürftig dagegen bleiben die Literaturhinweise.

Nach den Erfahrungen mit politisierenden evangelischen Pfarrern 1989 ff. tut die Lektüre noch auf besondere Weise gut. Eckert und Fuchs waren Mitglied des Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands, in deren Zeitung die Wochenberichte erschienen. Beide waren Mitglieder der SPD, Eckert trat später zur KPD über. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit verstanden sie sich als Marxisten, doch ihre Kommentare sind nicht von einer marxistischen Kritik an der Ökonomie geprägt, sondern von praktischer politischer Parteinahme. Beide waren leidenschaftliche Befürworter der Einheitsfront der kommunistischen, sozialdemokratischen, christlichen und parteilosen Arbeiter. Sie schrieben ihre Wochenberichte als politische Aktivisten, die sich mit aller ihnen möglichen Kraft dem offen herbeigeführten Unheil entgegenstemmten. Ihnen ging es um die Mobilisierung aller Antifaschisten. Sie wollten denen Hoffnung und Mut machen, die angesichts der laufend dokumentierten Handlungen der deutschen Kapitalisten und ihrer Politiker am Erfolg der getrennt agierenden Nazigegner zweifelten, wollten sie mobilisieren und zusammenführen. Wenn sie diese Aussicht zu hoch veranschlagten und den »Abwehrwillen der Massen« nicht kritisch genug zeichneten, so ist das der Kampfsituation geschuldet, die sie bezogen. Reinhard Kühnl bilanziert: »Diese Berichte von Zeitgenossen können uns zeigen, daß man auch gegenüber den je aktuellen Ereignissen und den sie begleitenden herrschenden Ideologien die wirklich bestimmenden Kräfte und Ziele erkennen kann (ob es sich nun um den NATO-Krieg gegen Jugoslawien oder um die ›deutsche Leitkultur‹ handelt) – sofern man über kritische Analysekriterien und historisches Wissen verfügt.«

* Erwin Eckert/Emil Fuchs: Blick in den Abgrund. Das Ende der Weimarer Republik im Spiegel zeitgenössischer Berichte und Interpretationen, hg. von Friedrich-Martin Balzer und Manfred Weißbecker. Mit Nachbetrachtungen von Georg Fülberth, Reinhard Kühnl, Gert Meyer, Kurt Pätzold und Wolfgang Ruge. Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger GmbH, Bonn 2002, 646 Seiten, 32 Euro
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