>SPIEGEL ONLINE - 05. Juli 2005, 19:00
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Fremdarbeiter-Debatte
 
"Lafontaine sollte sich historisch weiterbilden"

Ulrich Herbert hat ein Standardwerk zum Thema Fremdarbeiter verfasst. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE wirft er dem früheren SPD-Politiker Lafontaine einen eklatanten Mangel an historischen Kenntnissen vor. Wer die Nazis für nicht fremdenfeindlich halte, sollte besser schweigen.

SPIEGEL ONLINE: Herr Herbert, Oskar Lafontaine hat behauptet, die Nationalsozialisten seien rassistisch und nicht fremdenfeindlich gewesen und Beweise gefordert, dass der Begriff des Fremdarbeiters nationalsozialistisches Vokabular sei.

Herbert: Der Begriff "Fremdarbeiter" kommt in nationalsozialistischen Dokumenten dauernd vor, es gibt allein 600 Einzelerlasse zu dem Thema. Er meint die ausländischen Arbeitskräfte, die während des Zweiten Weltkriegs millionenfach und überwiegend zwangsweise nach Deutschland zum Arbeitseinsatz gebracht wurden. Lafontaines Äußerung, die Nationalsozialisten seien nicht fremdenfeindlich, sondern rassistisch gewesen, ist vollkommen abstrus. Die Nationalsozialisten waren die fremdenfeindliche Partei schlechthin; der Rassismus war nichts anderes als eine biologistische Überformung der Fremdenfeindlichkeit. "Deutschland den Deutschen", das war die Naziparole. Lafontaines Argumentation zeugt von eklatantem Mangel an historischen Kenntnissen und einem Bild vom NS-Staat, das man so bislang nur ganz rechts kannte. Es ist nicht zu glauben.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutete der Begriff "Fremdarbeiter" in der Nazizeit genau?

Herbert: Der Begriff bezeichnete seit Ende des 19. Jahrhunderts die ausländischen Arbeiter, die nach Deutschland zur Arbeit kamen. Er wurde dann 1939 beibehalten, auch als die Rekrutierung zunächst von Polen, dann von Angehörigen fast aller von Deutschland besetzten europäischen Länder immer weiter ausgedehnt wurde und wurde so der übliche, in der Bevölkerung verbreitete beschönigende Begriff für die ausländischen Arbeiter. Zu den "Fremdarbeitern" gehörten die unterschiedlichsten Gruppen: Zivilarbeiter, Kriegsgefangene, Militär-Internierte. Der Begriff verharmloste sowohl die immer rabiater werdenden Formen der Zwangsrekrutierung und die Bedingungen, unter denen diese Menschen in Deutschland leben mussten. Wobei die aus Osteuropa viel schlechter behandelt wurden als die aus dem Westen. 1944 waren etwa acht Millionen ausländische Zwangsarbeiter aller Kategorien in Deutschland, die in riesigen Lagern unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen lebten. Allein in Berlin gab es etwa 1000 solcher Lager, die der Russen und Polen waren mit Stacheldraht umzäunt.

SPIEGEL ONLINE: Ist der Begriff ein originär nationalsozialistischer Begriff?

Herbert: Nein, er war ja schon seit der Jahrhundertwende in Gebrauch. Nach 1945 wurde er einfach weiterbenutzt, was zeigt, dass der Zwangsarbeitereinsatz von den Deutschen nicht als Verbrechen angesehen wurde. Erst in den sechziger Jahren wurde er dann durch die freundlicher klingende Bezeichnung des "Gastarbeiters" ersetzt. In der Schweiz wird noch heute von ausländischen Arbeitern als "Fremdarbeitern" gesprochen.

SPIEGEL ONLINE: Würden Sie sagen, man kann den Begriff noch unschuldig benutzen?

Herbert: Nein. Der Begriff ist in Deutschland durch die NS-Zeit kontaminiert und kann von dieser Bedeutung nicht mehr getrennt werden. Nun ist der Gebrauch von NS-Begriffen und -Vergleichen bei deutschen Politikern ohnehin eine heikle Angelegenheit. Und allein der Begriff "Fremdarbeiter" wäre vielleicht noch als Ausrutscher zu interpretieren. Durch seine nachgelegten Äußerungen von den nicht fremdenfeindlichen Nazis aber hat Lafontaine sich doch in erheblichem Ausmaß disqualifiziert. Dabei hatte er ja ursprünglich durchaus auf ein wichtiges Problem hinweisen wollen.

SPIEGEL ONLINE: Meinen Sie Lafontaines Satz bei seiner Rede in Chemnitz, dass der Staat verpflichtet sei "zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter mit zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen"?

Herbert: Hier muss man festhalten: Gegenüber den beschäftigungspolitischen Auswirkungen von EU-Erweiterung und Globalisierung hat sich in der deutschen und in der europäischen Bevölkerung ein erhebliches Abwehr- und Angstpotential angestaut, das man nicht ignorieren oder als "fremdenfeindlich" disqualifizieren kann. Durch die EU-Erweiterung einerseits, durch illegale Einwanderung andererseits ist es in Deutschland und den alten EU-Staaten zu starken sozialen Verwerfungen in den unteren Lohnschichten gekommen. Auch die massive Unterbietung von Löhnen etwa von Handwerkern ist ja kein Hirngespinst. Diese Fragen haben bei der Diskussion in Frankreich vor dem Referendum über die EU-Verfassung eine große Rolle gespielt und in starkem Maße zu deren Ablehnung beigetragen.

SPIEGEL ONLINE: Ein Problembereich, den nicht erst Oskar Lafontaine entdeckt hat.

Herbert: Man muss aber feststellen, dass diese Problematik von den großen Parteien kaum aufgegriffen wird, weil die Befürchtung besteht, eine solche Diskussion würde die Aversionen gegen die Europäische Union noch verstärken. So ist ein politisches Vakuum entstanden, in das Lafontaine und seine Linkspartei jetzt hineingestoßen sind. Ich würde daher dafür plädieren, dies jetzt als Anlass zu nehmen, sich diesen Problemen endlich zu widmen. Den Zulauf zu Lafontaine allein mit dessen demagogischen Qualitäten zu erklären, ist zu kurz gedacht.

SPIEGEL ONLINE: Was würden Sie Herrn Lafontaine vorschlagen? Sollte er sich für seine Äußerungen entschuldigen?

Herbert: Ich bin nicht Herrn Lafontaines Berater. Er sollte sich sicherlich historisch weiterbilden. Obwohl: Wer die Nazis für nicht fremdenfeindlich hält, sollte als deutscher Politiker besser gar nicht mehr auftreten.

Das Interview führte Anne Seith
 


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