10.7.2009

Soziale Kompetenz einüben
Angehende Behördenmitarbeiter lernen das Leben mit Hartz IV kennen

Von Bernd Schneider

Bremen. Der Bürger als Bittsteller bei der Behörde - das ist nicht die Haltung, die Peter Schebb bei seinen Schülern erleben will. Weder in der Führerscheinstelle noch im Bürger Service-Center, in der Hartz-IV-Behörde Bagis, im Ausländer- oder Stadtamt. Angehende Verwaltungsfachangestellte und Fachangestellte für den mittleren Justizdienst haben jetzt einen "Seitenwechsel" hinter sich, einige sind dabei Obdachlosen, Ein-Euro-Jobbern und Behinderten erstmals näher gekommen.

Es waren nur Randbemerkungen bei Einzelnen in der Verwaltungsschule, die bei Peter Schebb und Verwaltungsschulleiter Holger Wendel die Alarmglocken ausgelöst haben: "Soziale Kompetenz und Bürgerorientierung sind keine Selbstgänger", sagt Wendel. "Dafür müssen wir was tun." Und er gibt vorsichtig zu verstehen: "Diese Klasse brauchte da einen Anstoß" - oder eine "Sensibilitätsübung", wie Lehrer Peter Schebb es nennt. Den Seitenwechsel hat die ganze Klasse mit 21 Schülern vollzogen, einen ganzen Tag lang.

Wie leicht der Weg von Arbeitslosigkeit über Scheidung und Alkohol in die Obdachlosigkeit führen kann, das haben Juliana und Bettina sich erst an diesem Tag richtig vor Augen geführt. Sie haben einen Wohnungslosen begleitet, der im Jacobushaus lebt und arbeitet. "Der will aus seiner Lebenssituation raus", sagt Juliana. Er habe überhaupt nicht gleichgültig und ungepflegt gewirkt, auch wenn man ihm angesehen habe, dass ihm soziale und finanzielle Sicherheit fehlten. Inzwischen stehe der Mann auf einer Warteliste für eine stationäre Therapie. Wegen Alkohol-Sucht. Überrascht war Juliana, wie viel Mühe sich die Wohnungslosen mit dem Besuch der Verwaltungsschüler gegeben hatten. Der Kaffeetisch wurde "mit den besten Tassen" gedeckt, "es sollte alles ganz schön sein für uns".

Diese positive Haltung passte auch so gar nicht zu dem Vorurteil, das Bettina anfangs hatte. "Ich hatte mir das alles schmuddeliger vorgestellt", sagt sie. "Ganz fürchterliche Gerüche" hatte sie im Jacobushaus erwartet. Am Ende sei es "eine ganz saubere Sache" gewesen. "Aber ich hatte eben ein ganz anderes Bild im Kopf." Am Ende ziehen beide Bilanz. "Für mich war das eine absolut positive Erfahrung", sagt Bettina. Und Juliana ergänzt: "Man hat wahrscheinlich bis an sein Lebensende ein Vorurteil, wenn man so eine Begegnung nicht mal hat."

Meral hat einen In-Jobber begleitet, einen Arbeitslosen, der einen Integrations-Job macht - für einen Euro pro Stunde zusätzlich zur Hartz-IV-Grundsicherung (auch: Ein-Euro-Job). "Der hat Politikwissenschaft studiert", sagt Meral, nun arbeite er für einige Monate in einer Nachbarschaftsbörse. Für Anwohner und Mieter sei er dort Ansprechpartner in allen Fragen des Alltags - vom Briefschreiben bis zur Hilfe beim Versenden einer SMS. "Und nachmittags hat er im Spielhaus geholfen." Als "sehr engagiert", hat Meral den Mann erlebt. Es sei ein Vorurteil, dass Arbeitslose mit Nachdruck in In-Jobs geschoben werden müssten und dann wenig Einsatz zeigten. Vom In-Jobber im Nachbarschaftshaus hatte sie jedenfalls den Eindruck: "Er hat alles gegeben."

"Über Hartz-IV-Empfänger und In-Jobber kursieren viele Vorurteile", sagt Nicole. Nach ihrer Begegnung mit der In-Jobberin im Lagerhaus Schildstraße hat sie nun aber den Eindruck: "Das kann jedem passieren." Und dann wird es finanziell ganz knapp: "Wenn die Frau sich verletzt und ausfällt - die kriegt keine Lohnfortzahlung, kein Krankengeld", hat Nicole festgestellt. "Dabei hat sie sowieso schon so wenig Geld." Und gleichzeitig sei ihr klar geworden: Ohne die Arbeit der Gärtnerin würde manches gar nicht funktionieren im Stadtteil. Allein der Spielplatz ein paar Meter weiter: "Da sammelt sie morgens die Pumpen ein und scheucht drogenabhängige Menschen weg. Sonst könnte der Park zum Spielen gar nicht genutzt werden."

Wie enorm schwierig es sein kann, mit einem Rollstuhl durch einen Supermarkt, in ein Kaufhaus oder eine Behörde zu kommen, auch das haben die Schüler ausprobiert: "Beim Standesamt stand ein Schild: Behinderte bitte klingeln." Die Schüler haben geklingelt, "und es ist nichts passiert".

Solche Erfahrungen sollen in die Arbeit der Schülerinnen und Schüler einfließen, wenn sie in zwei Jahren in den Amtsstuben sitzen. Sicher helfen sie schon bei den mündlichen Abschlussprüfungen: "Mit 60 Prozent fließt die soziale Kompetenz in die Note ein", sagt Schulleiter Wendel. Bürgerfreundliches Handeln werde deshalb "gezielt geübt", betont Lehrer Peter Schebb.

Denn eines wolle er bei seinen Schülern nicht erleben. Die Einstellung gegenüber Antragstellern: "Die Leute sind selbst schuld, die müssen sich nur bemühen, dann klappt das auch." Schebb: "Diese Haltung passt nicht zu einem wertfreien Herangehen."

© Bremer Tageszeitungen AG



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