Von: Volker Kröning MdB Gesendet: 25.04.08 12:20:20 An: Wieland von Hodenberg Betreff: EU-Verfassung Sehr geehrter Herr von Hodenberg, vielen Dank für Ihr Schreiben vom 17.04.2008. Das Gesetz zur Ratifizierung des Vertrages von Lissabon wurde am 13. März 2008 in 1. Lesung in die parlamentarische Beratung des Deutschen Bundestages eingebracht; gestern fanden die 2. und 3. Lesungen des Gesetzes zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon statt. Nachdem der Bundestag das Gesetz und damit den Vertrag von Lissabon mit Zweidrittel-Mehrheit angenommen hat, muss auch der Bundesrat dem Vertrag mit Zweitdrittel-Mehrheit zustimmen (Art. 79 Abs. 2 GG). Seit der letzten Anpassung der EU-Verträge in Nizza im Jahr 2001 sind zwölf Staaten der EU beigetreten. Die EU hat sich dadurch von 15 auf 27 Mitglieder fast verdoppelt, ein großartiger Erfolg. Ein effektives und effizientes Handeln wurde aber dadurch erschwert, zumal die EU vor allem aufgrund des Beitritts der zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten heute heterogener ist als noch vor vier Jahren. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung bietet der Vertrag von Lissabon mehr Handlungsfähigkeit. Die Grundrechtecharta wird rechtsverbindlich, das Europäische Parlament (EP) wird in der Gesetzgebung gleichberechtigt; die nationalen Parlamente bekommen eine eigenständige Rolle in Subsidiaritätsfragen. Die demokratische Legitimität der EU ist kompliziert geregelt, da sie nicht durch eine Institution gewährleistet wird. Die nationalen Parlamente legitimieren und kontrollieren ihre jeweiligen Regierungen in den Ministerräten und dem Europäischen Rat. Die direkte Mitwirkung als Gesetzgeber und die Kontrolle von Rat und Kommission erfolgt durch das Europäische Parlament. Die gleichberechtigten Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments werden durch den Vertrag von Lissabon ausgeweitet. Das bedeutet eine Stärkung der Demokratie. Auch die Kommission wird stärker an das Europäische Parlament gebunden: Der Kommissionspräsident wird zukünftig im Lichte des Ergebnisses der Europawahl vom Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament gewählt; die ganze Kommission muss sich dem Votum des Parlaments unterwerfen. Das Europäische Parlament kann außerdem künftig über alle Ausgabenbereiche mitentscheiden (Budgetrecht). Die bisherige Beschränkung seines Einflusses auf die nicht-obligatorischen Ausgaben entfällt. Auch die nationalen Parlamente erhalten mehr Einwirkungsmöglichkeiten. Sie können ihre Rechte stärker gegenüber der EU geltend machen („Subsidiaritätsrüge“). Wenn im Rat der EU zusätzliche Bereiche von der Einstimmigkeit in die Mehrheitsentscheidung übergehen sollen, haben die nationalen Parlamente ein Widerspruchsrecht. Bereits die Ablehnung eines nationalen Parlaments führt endgültig dazu, dass der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen blockiert ist. Hervorzuheben ist auch, dass der Vertrag von Lissabon erstmals festschreibt, dass das Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs nicht mehr Ziel – geschweige denn Selbstzweck – , sondern Instrument der EU ist: Es soll den Zielen der EU, nämlich Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt und Preisstabilität, dienen. Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU und das dazugehörige Protokoll bieten erstmals eine Grundlage für eine europarechtliche Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Durch diese Regelungen wird die Daseinsvorsorge von dem uneingeschränkten Wettbewerbsprinzip ausgenommen. Dies ist ein wichtiges Anliegen der SPD, denn die Freiheiten des europäischen Binnenmarkts dürfen nicht zu einer Privatisierung öffentlicher Dienste zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher führen. Die Beziehungen der EU zu Drittstaaten werden geprägt vom Prinzip der Partnerschaft. Der EU-Vertrag legt fest, dass die Politik der EU darauf abzielt, „die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen“. Dieses Ziel muss im Auge behalten werden, wenn die EU Maßnahmen einleitet, die sich auf Entwicklungsländer auswirken könnten. Die Entwicklungspolitik wird als eigenständige Politik und nicht als „Anhängsel“ der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik betrachtet. Dem steht das Ziel, „die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse“ nicht entgegen. Es ist Aufgabe der EU und ihrer Mitgliedstaaten, mit dem Abbau von Handelsschranken dem Kampf gegen die Armut zu dienen. Die EU wird auch mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eine Zivilmacht bleiben. Ich möchte insbesondere auf den neuen Artikel 21 Abs. 1 EUV hinweisen: „Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.“ Erfreulich ist auch, dass die Petersberg-Aufgaben erweitert wurden. Sie verdeutlichen das Ziel der EU, Konflikten aktiv und mit nicht-militärischen Mitteln vorzubeugen. Die seit 1999 entwickelten operativen Fähigkeiten der EU zum Krisenmanagement werden im Vertrag von Lissabon hervorgehoben und die zivilen Fähigkeiten betont. Die Mehrzahl der EU-Operationen der vergangenen Jahre war und ist dementsprechend ziviler Natur (z.B. EUPOL Afghanistan, EUPOL RD Congo, EULEX Kosovo, EU BAM Rafah). „Weltweite Kampfeinsätze“ wird es vor dem Hintergrund der im Vertrag von Lissabon festgeschrieben Grundsätze auch zukünftig nicht geben. Eine Ablehnung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP) ist nur unter der Annahme nachvollziehbar, dass der Einsatz militärischer Mittel grundsätzlich abgelehnt wird. Die europäische Ohnmacht während der Balkan-Kriege der 1990er Jahre sollte jedem die Augen geöffnet haben, dass die EU militärische Fähigkeiten benötigt, um ihre Werte und Interessen verteidigen zu können, ohne auf die Hilfe der USA angewiesen zu sein. Die Sofortfinanzierung der Vorbereitung von zivilen Missionen wird durch den Rückgriff auf EU-Haushaltsmittel verbessert. Zudem wird mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein Anschubsfonds aus Beiträgen der Mitgliedstaaten eingerichtet, um militärische Operationen zu finanzieren. Der Fonds ist notwendig, denn vergangene EU-Einsätze haben gezeigt, dass die Frage, wer den Einsatz bezahlt, den Einsatz verzögert. Das kann aber im Falle einer akuten Krise, in der das Leben von Menschen in Gefahr ist, nicht im Sinne der EU sein. Zudem entspricht eine solche zeitliche Verzögerung nicht dem Ansatz einer möglichst frühzeitigen Krisenvorbeugung und Krisenmanagement. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verstehen Sicherheit umfassend und zuerst nicht-militärisch. Ich Weise an dieser Stelle nur auf die Europäische Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 hin; dort ist ausdrücklich die Rede davon, dass Sicherheitspolitik nicht allein und auch nicht zuvorderst militärisch verstanden wird. Das erfordert u.a. die Bekämpfung sozialer Unsicherheit, insbesondere von Armut und Hunger, und die Dämpfung des Klimawandels. Diese Ziele und die dazu notwendigen Mittel lassen sich im Vertrag von Lissabon ebenso finden wie in zahlreichen weiteren EU- und nationalen Dokumenten. Die in Artikel 222 AEUV geregelte Solidaritätsklausel ermöglicht nicht den Einsatz der Bundeswehr oder sonstigen Militärs im Inneren über die bereits geltende Ausnahme im Rahmen der Amtshilfe (vgl. Artikel 35 Grundgesetz). Das Auswärtige Amt hat ausdrücklich klargestellt, „dass die Solidaritätsklausel keinerlei Verpflichtung der Mitgliedstaaten enthält, die Hilfe anderer Mitgliedstaaten und der Union [im Falle eines Terroranschlags oder einer von der Natur oder einem Menschen verursachten Katastrophe] in Anspruch zu nehmen.“ Ich hoffe, dass ich Ihnen Ihre Fragen beantworten und Ihre Bedenken ausräumen konnte. Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen werde ich mein Bestes tun, um zur Herausbildung eines europäischen Bewusstseins beizutragen und die Bürgerinnen und Bürger über den Vertrag von Lissabon zu informieren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ebenfalls einen Beitrag zu einem besseren und vorbehaltlosen Verständnis des Vertrags von Lissabon leisten würden. Mit freundlichen Grüßen Volker Kröning |