13.01.2007 / Schwerpunkt / Seite 3

»Per Gesetz in die Obdachlosigkeit«

Die neuen Sanktionsmöglichkeiten gegen Erwerbslose verstoßen gegen die Menschenwürde. Ein Gespräch mit Harald Thomé

Ralf Wurzbacher
Harald Thomé ist Mitbegründer des Wuppertaler Erwerbslosenvereins »Tacheles« e. V.

Zum 1. Januar 2007 sind neue Verschärfungen für Hartz-IV-Empfänger unter dem Titel »zielgenauere Ausgestaltungen der Sanktionen im Sozialgesetzbuch II« in Kraft getreten. Worauf müssen sich die Betroffenen einstellen?

Am gravierendsten ist sicherlich die Möglichkeit einer kompletten Streichung der Bezüge. In diesem Fall erhalten die Betroffenen gar nichts mehr, nicht nur keinen Cent des Regelsatzes, sondern auch kein Geld für die Miete, die Heizkosten und die Krankenversicherung. Faktisch können die Betroffenen per Gesetz zu einem Leben »unter der Brücke« verdonnert werden. Franz Müntefering hat die entsprechende Maxime im vergangenen Jahr treffend auf den Punkt gebracht, als er feststellte: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.«

Bei welchen sogenannten Pflichtverstößen sollen derlei Maßnahmen greifen?

Im Prinzip bei allen: also bei der Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, eine »zumutbare« Arbeit oder einen Ein-Euro-Job anzunehmen, bei Abbruch einer Tätigkeit, oder sofern man nicht rechtzeitig bei einem Arbeitgeber vorstellig wird. Die Sanktionen folgen dem Kalkül, Menschen zur Aufnahme jeder Arbeit zu zwingen, einen Niedriglohnsektor zu etablieren und das allgemeine Lohnniveau im Sinne der Kapitalinteressen zu drücken.

Mit der vollständigen Streichung der Leistungen spricht der Gesetzgeber Menschen quasi das Existenzrecht ab. Ist das juristisch haltbar?

Nach meiner Einschätzung nicht. Selbst ein Mörder hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben. Soll dies für Erwerbslose nicht mehr gelten? Ich gehe davon aus, daß die Gerichte bei kommenden Klagen intervenieren und erklären werden, daß eine Absenkung nur bis zu einer bestimmten Grenze – wahrscheinlich zwischen 50 bis maximal 70 Prozent – möglich ist. Deshalb rate ich allen, deren Leistungen um mehr als 30 Prozent gesenkt werden, sich rechtlichen Beistand zu suchen und sich juristisch zur Wehr zu setzen. Nach aktuellen Statistiken sind rund 50 Prozent aller Widersprüche und Klagen erfolgreich.

Bisher konnten 60 Prozent der Leistungen gekürzt werden. Wie halten sich die Betroffenen über Wasser?

Dazu liegen keine Zahlen vor. Es ist aber davon auszugehen, daß sich viele in prekäre Beschäftigung begeben, schwarzarbeiten oder bei Eltern oder anderen Angehörigen unterkriechen. Es gibt aber auch Fälle, bei denen Betroffene in die Kriminalität abrutschen oder in der Prostitution landen.

Haben Sie Anhaltspunkte, daß sich die Praxis bei der Sanktionierung von Arbeitslosen sukzessive verschärft hat?

Aus unseren Beratungsgesprächen wird ersichtlich, daß der Druck steigt. Für dieses Jahr prognostiziere ich noch einmal eine erhebliche Verschärfung, sowohl was die Qualität als auch die Menge der Sanktionen betrifft. Hintergrund sind unter anderem sogenannte Benchmarking-Prozesse, in denen die Bundesagentur für Arbeit die Verfahrenspraktiken der einzelnen Arbeitsagenturen mit dem Ziel vergleicht, das Sanktionsregime zu vereinheitlichen und zu »optimieren«. Das ist ein perfides Instrument, Druck auf die mitunter »softeren« Einrichtungen und Fallmanager auszuüben und zu einem repressiveren Vorgehen gegenüber Leistungsempfängern zu bewegen.

Welche Rolle spielen bei alledem die sogenannten Sofortangebote für Erwerbslose, die schon seit 1. August 2006 unterbreitet werden?

Mit diesem Instrument soll die »Arbeitsbereitschaft« von Erwerbslosen geprüft werden, die zwei Jahre lang kein ALG I oder ALG II bezogen haben. Dabei werden den Menschen Arbeitsgelegenheiten zugewiesen und deren Wahrnehmung zur Voraussetzung dafür gemacht, ob die Betroffenen einen Anspruch auf Sozialleistungen geltend machen können. Mir sind Fälle aus Mainz und Braunschweig bekannt, bei denen Leute erst nach Absolvierung einer zweiwöchigen »Trainingsmaßnahme« einen Leistungsantrag ausgehändigt bekommen oder den Antrag abgeben können. Auch das stellt einen systematischen Rechtsbruch dar, mit dem von einer Antragsstellung abgeschreckt und möglichst viele vom Leistungsbezug ausgeschlossen werden sollen.