02.12.2006 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)

»Durch Hartz IV leben mehr Menschen in Armut«

Gespräch mit Heinz Hilgers. Über die Situation von Kindern in der Bundesrepublik, das Hartz-IV-Gesetz und die Unterschicht-Debatte als Ablenkungsmanöver

Heinz Hilgers (geb. 1948) ist Mitglied der SPD und seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Von 1989 bis 1994 war er Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen, von 1994 bis 1999 Bürgermeister von Dormagen, einer Stadt mit knapp 64000 Einwohnern. 2004 wurde er erneut in dieses Amt gewählt.

Wie ist es in der Bundesrepublik um die Situation von Kindern bestellt?

Das läßt sich so allgemein nicht beantworten. Einer ganz großen Zahl von Kindern in diesem Land geht es sehr gut. Die Eltern kümmern sich liebevoll um sie, und sie wachsen in einer Wohlstandsgesellschaft auf, die ihnen alles bietet. Man kann also in das Gros der Kinder in Deutschland Vertrauen haben, und die Kinder können ebenso auf ihre Zukunft vertrauen.

Jedoch gibt es auch eine Gruppe von Kindern, die zur Zeit von staatlichen Leistungen, also von insgesamt 209 Euro im Monat, abhängig sind. Hinzu kommt eine gewisse Anzahl, denen es ganz und gar nicht gut geht. Diese leben in armen Familien. Zwar kümmern sich auch ärmere Eltern zumeist liebevoll um ihre Kinder, es gibt jedoch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Armut und den Bildungs- und Gesundheitschancen dieser Kinder.

In den letzten Wochen wurde in der Presse mehrfach über Kindesmißhandlungen – maßgeblich in sozial benachteiligten Familien – berichtet. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Armut und der augenscheinlich in davon betroffenen Familien häufiger auftretenden Gewalt?

Es sicherlich so, daß weit über 90 Prozent der Fälle von Kindesmißhandlung und Gewalt im Armenmilieu vorkommen. Eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von Professor Dr. Christian Pfeiffer hat ergeben, daß immer mehr Eltern aus Mittelschichtsfamilien und dem Bildungsbürgertum ihre Kinder bewußt gewaltfrei erziehen, seitdem der Gesetzgeber im Januar 2000 das Recht auf gewaltfreie Erziehung eingeführt hat. Im Armutsbereich hat sich jedoch nichts verändert.

Kürzlich hat das Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) seinen ersten sogenannten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS) vorgestellt. Demzufolge macht Armut krank. Bei der Vorstellung des Berichtes räumte selbst Bärbel-Maria Kurth, Leiterin der Studie ein, daß sie zwar erwartet habe, daß »die soziale Herkunft die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen« beeinflusse, sie aber durch die »Eindeutigkeit der sozialen Unterschiede« überrascht gewesen sei.

Was konkret ist zukünftig zu leisten, um den Teufelskreis von Armut und Krankheit zu durchbrechen?

Man muß verhindern, daß Menschen, die aufgrund ihrer Armutssituation deprimiert sind und kaum noch über persönliche Antriebskraft verfügen, auf eine entsprechende Gesundheitsvorsorge verzichten. Diesen Menschen muß Hilfe angeboten werden. Das bedeutet konkret, daß die Jugend- und Gesundheitshilfe in den Städten und Gemeinden ganz früh vor Ort bei den Familien sein muß, um ihnen Konflikthilfe anzubieten. Außerdem müssen die Mitarbeiter dazu beitragen, daß alle Leistungen der Gesundheitsvorsorge – vor allem die Vorsorgeuntersuchungen für die Kinder– genutzt, und die daraus resultierenden Therapien auch befolgt werden.

Die Stadt Dormagen kümmert sich bereits vor dem Entstehen sozialer Problemen um die Familien...

Das stimmt. Wir haben ein Frühwarnsystem eingerichtet, das im Dialog mit den Betroffenen und den Mitarbeitern vor Ort entwickelt worden ist und ständig weiterentwickelt wird. Es sieht vor, daß alle Eltern kurz nach der Geburt ihres Kindes von einem Mitarbeiter unserer Stadt besucht werden und einen Eltern-Begleitatlas ausgehändigt bekommen. Bei Problemen und Schwierigkeiten bieten wir schnelle Hilfe an und informieren die Betroffenen über weitergehende Angebote. Wir sprechen mit den Eltern auch über Möglichkeiten der Kinderbetreuung und die Gesundheitsvorsorge.

All dies ist als Präventionssystem zu verstehen, das wir allen Familien – egal, ob arm oder reich – zur Verfügung stellen. Unsere Erfahrung ist, daß unser Angebot von den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt sehr geschätzt und angenommen wird.

Warum setzen nicht mehr Städte und Kommunen auf ein derartiges Frühwarnsystem?

Unser Konzept findet mittlerweile zunehmend Nachahmer. Allein aufgrund der Medienberichterstattung über Kinderarmut in den letzten Wochen ist der Bekanntheitsgrad unseres Angebotes enorm gestiegen. Mittlerweile habe ich eher Sorge, daß unsere kleine Stadt den auf uns zukommenden Fachtourismus gar nicht bewältigen kann.

Ihr ehemaliger Parteigenosse Oskar Lafontaine hat die Hartz-IV-Gesetzgebung für die verstärkte Armut in der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Geben Sie ihm recht?

Das trifft zumindest zum Teil zu. Noch schlimmer ist jedoch die anhaltende Langzeitarbeitslosigkeit vieler Menschen, die als eigentliche Ursache der Armut zu betrachten ist. Richtig ist sicherlich, daß durch die Hartz-IV-Gesetze mehr Menschen in Armut leben, als es vor deren Einführung der Fall war. Dies liegt vor allem daran, daß die Einkommen bei Empfängern des früheren Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau zusammengestrichen wurden.

Das einzig Verdienstvolle war, daß die bisherigen Sozialhilfebezieher nach der Einführung der Hartz-Gesetze kranken- und rentenversichert wurden. Ansonsten wurden nur Fehler gemacht. Ein ganz großer war beispielsweise die vorgenommene Trennung von Jugend- und Sozialhilfe. Das hat die Möglichkeiten für die Familienhilfe, Menschen in Schwierigkeiten zu helfen, nahezu unmöglich gemacht, weil der Kontakt zwischen den städtischen Mitarbeitern und den Menschen abgebrochen wurde. Zudem hätten die einmaligen Beihilfen, für Schulbedarf und Kinderbekleidung niemals abgeschafft werden dürfen.

Sie fordern also eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes?

Ich halte derzeit den Ausbau von Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder und die Wiedereinführung der einmaligen Beihilfen für den Bekleidungs- und Schulbedarf der Kinder für unumgänglich. Dafür sind aktuell pro Kind und Monat nur neun Euro vorgesehen. Und wie soll mit derart wenig Geld die Kleidung und der Schulbedarf für die Kinder finanziert werden, die es nun einmal an sich haben zu wachsen und somit auch öfter als Erwachsene neue Schuhe und anderes brauchen?

Das sind jedoch nur die dringendsten Maßnahmen. Darüber hinaus muß gewährleistet werden, daß der Besuch einer Ganztagsschule für Kinder aus armen Familien kostenlos ist und sie dort auch ein Mittagessen gratis erhalten.

Sie wollen also an den von der ehemaligen Bundesregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen beschlossenen Gesetzen herumdoktern, sie aber nicht ganz abschaffen?

Ich will nirgends herumdoktern. Wenn ich sage, daß Jugend- und Sozialhilfe wieder zusammengelegt werden sollen, heißt das schließlich konkret, die gegründeten Arbeitsgemeinschaften wieder abzuschaffen und die Verantwortung den Kommunen zu übertragen. Wenn man dann noch klarmacht, daß Kinder von Hartz-IV-Empfängern einen kostenlosen Zugang zur Bildung haben, wäre viel erreicht.

Die Finanzierung einer eigenen Wohnung für unter 25jährige wird seitens der Jobcenter abgelehnt. Auf der einen Seite erklärt man junge Menschen mit Vollendung des 18. Lebensjahrs für volljährig und verlangt konsequente Pflichterfüllung von ihnen, die Rechte der jungen Leute ignoriert der Staat jedoch. Wie soll das zusammenpassen?

Ich würde mich schon dafür aussprechen, daß die Kosten für eine Wohnung und deren Einrichtung übernommen werden, wenn ein junger Mensch in einem anderen Ort einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz gefunden hat. Daß dies nicht geschieht, ist auch mir unbegreiflich.

Wie halten Sie den politischen Spagat aus, den Sozialraub an breiten Teilen der Bevölkerung zu kritisieren und zugleich Mitglied einer Partei zu sein, die die Verantwortung dafür trägt, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden?

Ich bin seit 1969 Mitglied meiner Partei. In dieser Zeit hat es oft Meinungsverschiedenheiten zwischen der SPD und mir gegeben, und doch habe ich mich oft inhaltlich durchsetzen können. Ich habe die Hoffnung, daß das auch im Falle der Hartz-IV-Gesetze möglich ist und erkannt wird, daß man bei solch sensiblen Gesetzen besser auf Fachleute gehört hätte, die sich seit Jahren damit beschäftigen, als auf VW-Manager.

Derzeit diskutieren Politiker aller Parteien, ob in der Bundesrepublik eine Unterschicht existiere. Was meinen Sie?

Diese Debatte dient nur der Ablenkung. Es geht um Armut, und es geht um Familien, die finanziell – und somit auch materiell – schlecht versorgt sind. Anstatt sich um die Beseitigung dieses schwerwiegenden Problems zu kümmern, lamentieren viele Politiker nur um den heißen Brei herum. Jetzt diskutiert man die Unterschicht, morgen fängt man an, über kulturelle Armut zu reden. Alles offensichtlich nur, um sich mit Hilfe dieser Scheindebatte der Diskussion um die vorhandene materielle Armut vieler Familien in Deutschland entziehen.

Derartige Ablenkungsdebatten werden bereits seit Jahren geführt. Den Opfern von Armut und Ausgrenzung wird jedoch jedwede Unterstützung verweigert. Wann kommt der Punkt, an dem Politik wieder für die Menschen gemacht wird?

Das weiß ich nicht, wann dieser Punkt kommt. In meiner Funktion als Bürgermeister tue ich jedenfalls alles mir mögliche, um armen Menschen zu helfen.

Immer mehr Menschen wenden sich aber von den etablierten Parteien und ihren Funktionsträgern ab. Meinen Sie nicht, daß diese Entwicklung im Zusammenhang mit dem unqualifizierten Auftreten vieler Politiker und der populistischen und oft schlichtweg falschen Berichterstattung vieler Medien steht, wenn es um die Sozialpolitik im Land geht?

Doch, das sieht man ja in vielen Bereichen. Es ist deutlich erkennbar, daß die Politik einen großen Bogen um Stadtteile und Regionen macht, in denen viele von Armut betroffene Menschen leben. Diese Orte werden meist der Einfachheit halber abgeschrieben, oder schlimmstenfalls den Neonazis der NPD überlassen.

War es nicht ein Fehler der westdeutschen Politik, im Rahmen der sogenannten Wiedervereinigung alles zu verteufeln, was aus der DDR kam? Beispielsweise hätten viele positive Aspekte, die Ganztagsbetreuung von Kindern oder auch der gleichberechtigte Zugang zur Bildung, doch durchaus übernommen werden können.

Die institutionellen Angebote in der DDR waren sicherlich gut. Kritik hätte ich eher am Bildungsinhalt gehabt. Daß es aber Angebote für alle Kinder in allen Altersgruppen gab, ist vorbildlich gewesen.

Nach der Wiedervereinigung wurden viele soziale und kulturelle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche geschlossen. Vielerorts füllt heutzutage die neofaschistische NPD diese Lücke. Von Fußballturnieren über Hausaufgabenhilfe und Liederabende geben sich die Neonazis als bessere Sozialarbeiter. Welche Verantwortung hat die etablierte Politik an dieser Entwicklung?

Sie ist maßgeblich dafür verantwortlich. Der größte Fehler war, die Jugendfreizeit­einrichtungen, die es in der DDR gab, zu schließen. Das war grundfalsch. Aber die meisten Politiker folgten damals der Einschätzung, daß Kinderfreizeit- und Betreuungseinrichtungen nicht mehr nötig seien, da die meisten Eltern aufgrund von Arbeitslosigkeit sowieso zu Hause wären und die Kinder betreuen könnten. Diese Entscheidung hat vor allem den Kindern aus sozial schwachen Familien geschadet. Sie hätten durch ihre Betreuung in Ganztagseinrichtungen und Freizeitheimen mehr berufliche, kulturelle und sportliche Bildung erhalten können und hätten die Chance gehabt, ihre Freizeit vernünftig zu gestalten und nicht irgendwelchen Rattenfängern zu folgen.

Die Neofaschisten kommen in machen Landstrichen jedoch auf bis zu 30 Prozent der Wählerstimmen und werden in manchen Kommunen gar als normale politische Kraft angesehen. Wie ist diese Entwicklung zu stoppen?

Das ist erst mal nicht meine Aufgabe. Ich muß mich zuallererst um unsere Stadt kümmern, und da gibt es keine NPD.

Und in Ihrer Funktion als Präsident des Kinderschutzbundes?

In dieser Funktion gebe ich den Ratschlag, den Ausbau von Ganztagseinrichtungen zu fördern und eine demokratische Entwicklung in vielen Bereichen nicht aufs Spiel zu setzen.

Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund werden in der Bundesrepublik massiv benachteiligt. Im vergangenen Jahr hat beispielsweise nicht ein einziger Schüler der Berliner Rütli-Schule einen Ausbildungsplatz bekommen.

Die Situation von Migranten ist häufig mit der Situation von armen Familien zu vergleichen. Da, wo die Migrantenfamilien ein gutes Einkommen haben und die Eltern über ein hohes Bildungsniveau verfügen, gibt es sicherlich keine Probleme. Es ist aber nun einmal so, daß auch ein Großteil der Familien mit Migrationshintergrund in Armut lebt; und diese haben dieselben Probleme wie andere arme Familien auch.

Politiker der CDU/CSU fordern relativ unverhohlen die Abschiebung von Migranten, die sich angeblich der Integration verweigern. Ist das ein geeignetes Mittel?

Ich glaube nicht, daß es in diesem Land viele integrationsunwillige Migranten gibt. Man darf Integration im übrigen nicht mit Assimilation verwechseln und von den Migranten fordern, ihre Kultur aufzugeben. Das haben einige in der Union scheinbar noch immer nicht gelernt. Die deutsche Bevölkerung müßte zudem mehr auf die Migranten zugehen und lernen zu akzeptieren, daß viele Einwanderer und Flüchtlinge andere kulturelle und religiöse Vorstellungen haben als wir. Nicht akzeptieren dürfen wir demgegenüber frauenfeindliche oder antisemitische Ansichten unter den Migranten. Ansonsten haben wir die Pflicht, die kulturelle und religiöse Verschiedenheit zu akzeptieren und als Bereicherung unserer Gesellschaft anzunehmen.

Das Gespräch führte Markus Bernhardt
Der Deutsche Kinderschutzbund wurde im Jahr 1953 in Hamburg gegründet. Er zählt bundesweit über 50 000 Mitglieder und versteht sich als Lobbyverband für die Rechte von Kindern. Im Internet: www.dksb.de/