9.11.2006

Muss Bremen höhere Wohnkosten zahlen?
Nach einem Gerichtsurteil fordert die Solidarische Hilfe Rücknahme der Mietkürzungen für Hartz-IV-Empfänger

Von unserem Redakteur
Krischan Förster

 
 
Foto: dpa
   
BREMEN. Ein Urteil des Bundessozialgerichts zu den Rechten von Hartz-IV-Empfängern weckt neue Hoffnung in 15 000 Bremer Haushalten. Sie bekommen nicht mehr die vollen Kosten erstattet, weil ihre Wohnung zu teuer ist. Die Kasseler Richter urteilten jetzt, dass statt bundesweit einheitlicher Tabellen die vor Ort geltenden Preise berücksichtigt werden müssen.

Aus Sicht der Solidarischen Hilfe e.V. müssten die geplanten Zwangsumzüge gestoppt werden. In einem vom Sozialressort in Auftrag gegebenen Gutachten hatte das Hamburger Gewos-Institut die Höchstgrenzen für angemessene Mieten in Bremen ermittelt. Eine Single-Wohnung in einem vor 1965 gebauten Haus darf danach nicht mehr als 245 Euro Kaltmiete pro Monat kosten.Die Hartz-IV-Reform trat Anfang 2005 in Kraft. Seither können nur Sozialhilfeempfänger in besonderen Lebenslagen einen Zuschlag zum Regelsatz bekommen. Bislang akzeptierte Bremen auch für Empfänger von Arbeitslosengeld II (Alg II) jede Miete. Künftig aber soll die Bagis nicht mehr als den Maximalbetrag zahlen.

Zudem gelten in Bremen nach Angaben der Solidarischen Hilfe nur die zwei von drei Wohngeldstufen. Die dritte Stufe, die einem Single-Haushalt 325 Euro zugestehen würde, sei gestrichen. Wer teurer wohnt, muss sich also spätestens bis Sommer 2007 eine neue Bleibe suchen - oder die Differenz aus eigener Tasche bezahlen. "Laut der Gewos-Studie gibt das der Bremer Wohnungsmarkt auch her", sagt Heidrun Ide, Sprecherin des Sozialressorts."Ein Treppenwitz", wetterte gestern Herbert Thomsen von der Solidarischen Hilfe. 9000 Haushalte hatten die Gewos-Gutachter ausgemacht, deren Miete zu hoch ist. Thomsen rechnet sogar mit 15 000 Betroffenen. "Auf dem Markt gibt es dagegen nur 300 freie Wohnungen."

Ein riesiges Problem, das von den Behörden ignoriert worden sei. Nun könnten sie zur Erstattung der vollen Kosten gezwungen werden.Denn Grundlage einer jeden Entscheidung, ob eine Wohnung in Größe, Ausstattung und Preis "angemessen" ist, waren bislang bundesweit einheitliche Wohngeldtabellen. Starre Obergrenzen aber sind nach Ansicht des Bundessozialgerichts nicht zulässig. Jede Kommune müsse stattdessen die örtlichen Gegebenheiten ermitteln - also einen Mietspiegel erstellen, notfalls sogar für einzelne Stadtteile. Städte wie Berlin oder Hamburg haben ein solche Vergleichstabelle erstellt, Bremen nicht. Doch nur so sei tatsächlich zu beurteilen, was wirklich "angemessen" ist, entschieden die Richter.

"560 Euro für einen fünfköpfigen Haushalt sind zu wenig", findet Thomsen.Nur eines von vielen Beispielen aus Bremen. Zum März kommenden Jahres soll eine Familie aus ihrem 1993 gebauten Reihenhaus ausziehen, für das sie derzeit 750 Euro im Monat zahlt und damit 190 Euro über der ihr zugebilligten Obergrenze liegt. Vergleichbaren und vor allem zumutbaren Wohnraum gibt es nicht. "Selbst die früheren Sozialwohnungen der städtischen Gesellschaften sind inzwischen oft modernisiert worden und damit zu teuer", sagt Thomsen.

Das Sozialressort verweist darauf, dass die Wohngeldtabellen nicht das einzige Entscheidungskriterium seien. Auch seien Ausnahmen von der Kostenkürzung ausdrücklich erlaubt - für Alleinerziehende mit vielen Kindern, bei nicht zumutbarem Schulwechsel der Kinder, bei Schwangerschaften, Behinderungen, Pflegefällen in der Familie oder bei längeren Krankheiten. Oder wenn die Betroffenen länger als zehn Jahre im Stadtteil wohnen. "Jeder Fall wird einzeln geprüft", betont Ressortsprecherin Ide.Thomsen hat andere Erfahrungen gemacht. Allein in der Beratungsstelle in Bremen-Nord gibt es nach seinen Angaben mehr als 100 Fälle, in denen die Behörden pauschal geurteilt hätten - wie bei seiner Beispielfamilie.

Sie soll umziehen, obwohl sie seit 13 Jahren in ihrem Häuschen wohnt, das Kind in die dritte Klasse geht und eigentlich die in Bremen abgeschaffte dritte Wohngeldstufe gelten müsste. "Das sind gleich drei Gründe, doch keiner hat gezählt."Nach seinen Worten sind wegen ähnlicher Fälle bereits mehrere Klagen gegen die Bagis-Entscheidungen beim Sozialgericht eingereicht. Mit einem ersten Urteil rechnet Thomsen noch in diesem Jahr. Im Zugzwang sieht er jetzt die Politiker: "Die rechtswidrigen Mietkürzungen müssen sofort zurückgenommen werden."

© Bremer Tageszeitungen AG



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